Ein Tag in Serbien

Heute geht es nach Serbien. Von Mórahalom fährt man zehn Minuten bis zur Grenze, nach Röszke. Röszke – klingt der Name noch? Genau! Vor exakt zwei Jahren war Röszke Weltpolitik, stand das kleine verschlafene Nest an der ungarisch-serbischen Grenze im Zentrum der Aufmerksamkeit. Ganze Horden von Journalisten kamen und berichteten.

Als plötzlich jeden Tag tausende Menschen über die Grenze in die EU strömten, entstanden auf ungarischer Seite große Erstaufnahmelager. Dort wurden die Migranten zum ersten Mal erfaßt. Auch Ungarn war mit der Situation überfordert, die humanitären und sanitären Bedingungen sollen katastrophal gewesen sein.

Hussain und die anderen Syrer verbrachten hier mehrere Tage. Es gab kaum Privatsphäre, die Toiletten quollen über, allerorten gab es Dreck und Gestank. Im Lager wurde Hussain von einem englischen Journalisten befragt und photographiert – sein Bild ging um die halbe Welt.

Wir wollen erkunden, ob etwas von dem Lager geblieben ist und wie der Ort aussieht. Was haben die Flüchtlinge gesehen, als sie zum ersten Mal EU-Boden betraten?

Kruzifixe vor allem.

typisches Wegekreuz am Ortseingang

Es kann ihnen kaum entgangen sein, sich in einem christlichen Land zu befinden. Am Ortseingang und an den Feldrändern findet man sie. Im Zentrum des kleinen Ortes steht eine helle Statue Szent Antals, Antonius von Padua.

Dahinter ist eine Konditorei. Die Verkäuferin läßt beim Wechseln ein Geldstück in meinen Kaffee plumpsen – das lockert die Stimmung etwas. Man ist hier Fremden gegenüber noch skeptisch. Da sie keine Fremdsprachen spricht, wie fast überall auf dem Land, muß ich es auf Ungarisch probieren. Ich frage, wo das Lager sich befunden hat und ob es noch etwas zu sehen gibt. Sie gibt die Frage an einen jungen Mann weiter, der mir die Richtung beschreibt – doch gebe es dort nichts mehr. Beide schauen mich verwundert und ein wenig zweifelnd an. Sie trauen mir nicht.

Der Grenzübergang nach Serbien ist ein Erlebnis für sich. Man kann dort einen Blick in die baldige Zukunft Europas und Deutschlands werfen. Während wir auf unsere Paßkontrolle warten, rollen Dutzende deutsche, österreichische, belgische, holländische, französische Autos auf der Gegenfahrbahn an uns vorbei. In keinem einzigen sitzt jemand, den man sofort als Deutschen, Belgier, Holländer erkennen könnte. Stattdessen bärtige Männer mit dicken Schnauzern und oft Frauen an ihrer Seite, deren Haar komplett bedeckt ist.

Auf der serbischen Seite stauen sich die Autos gut zwei Kilometer und auch danach zeugen übervolle Papierkörbe am Straßenrand von noch längeren Staus. An dieser Grenze bekommt man wieder Respekt. Streng und emotionslos werden wir und unsere Papiere betrachtet.

Als wir am Abend wieder nach Ungarn einreisen, noch einmal ähnliche Bilder. Diesmal haben wir den Übergang Tompa gewählt – man sollte stets die Hauptübergänge meiden, sonst kann die Grenze schnell zur Qual werden. Auch dort sitzen Türken, Bulgaren, Familien einerseits und Arbeitstrupps andererseits, in den Wagen mit deutschen oder Wiener Kennzeichen. Einer hat sogar die türkische Flagge im Rückfenster und auf der Kühlerhaube prangt die Aufschrift „Maşallah“ – ein türkisches Wort mit vielen Bedeutungen. Jedes Auto wird kontrolliert, alle müssen Kofferräume, Koffer und Taschen öffnen und einer muß vier Stangen Zigaretten abgeben.

Unser Ziel in Serbien war Subotica, eine in vielerlei Hinsicht interessante und untypische Stadt. Sie ist wesentlich ungarisch geprägt, einst, vor Trianon, gehörte sie zu Großungarn. Noch heute stellen die Ungarn den größten Bevölkerungsteil vor den Serben, den Kroaten, Bunjewatzen und Zigeunern.

Schon die ersten Straßenschilder weisen auf Probleme hin. Alles, was privat oder lokal mitgeteilt wird, steht auf Ungarisch, auf den großen gelben Straßenschildern stehen die Ortsnamen zwar in vier Sprachen, aber Ungarisch ist nicht dabei. Szabadka müßte da eigentlich stehen. Man kann nur vermuten, daß die serbischen Behörden die ethnische Minderheit mit Skepsis betrachtet und das stark ausgeprägte Magyarentum klein halten will. Zwar hat die Vojvodina, die historisch zur alten Bácska gehört, den Status einer autonomen Region, aber die Bedeutung des Ungarischen nimmt seit 100 Jahren kontinuierlich ab.

Abitur- und Einschulungsjahrgänge werden in Ungarn und Serbien öffentlich ausgestellt

Das scheint sich in der Stadt immer wieder zu bestätigen. Die Abiturbilder in den Schaufenstern zeigen deutlich mehr slawische als ungarische Namen, die ungarische Jugend dünnt aus. Man hört das Ungarische überall, von jung bis alt, aber während die Ungarn scheinbar alle zweisprachig sind, sprechen die Serben wohl kein Ungarisch. Zumindest nicht die drei, die ich versuchte Ungarisch anzusprechen – alle schauten mich mit leeren Augen an. Einer, ein Kellner konnte immerhin in ein sehr beschränktes Englisch ausweichen.

Ihn frage ich ein wenig. Er ist Albaner, erfahren wir. Davon gebe es hier auch eine ganze Reihe. Er glaubt, daß es 60% Ungarn in der Stadt gebe und liegt damit – sofern die Statistiken stimmen – weit von der Realität entfernt. Es lebten hier eine Menge verschiedener Nationalitäten zusammen und friedlich, wie es scheint. Wir hatten zuvor Arabisch sprechen gehört und ich frage ihn nach den Arabern. Er schaut mich überrascht an, dann fällt ihm ein: das sind Kuwaitis, die seien wegen eines Turniers hier. Reiten vielleicht? Es gibt ein großes Reitzentrum in der Nähe.

Auch die Buchläden sind zweisprachig. Friedlich liegen Hamsun und Kertész auf Ungarisch und Serbisch in kyrillischen und lateinischen Lettern in Serbien nebeneinander, zwei geschätzte Autoren, die sich aufgrund ihres kompletten Gegensatzes vielleicht eine Menge zu sagen gehabt hätten.

seltsame Formen und Farben

Rechts von uns sitzen zwei junge serbische Familien mit ihren Kindern, links eine Gruppe Männer mit verbrauchten Balkangesichtern. Auch hier fällt der liebevolle Umgang mit den Kindern auf. Sie werden mit kleinen unauffälligen Gesten und Zeichen geführt und geleitet, ohne daß ein lautes Wort fällt. Väter und Mütter herzen sie, kümmern sich und haben gerade deswegen auch für sich viel mehr Zeit, denn die Kinder verlangen nicht viel Aufmerksamkeit. Die kleinen Mädchen sind in bunten Prinzessinnenkleidern und kleben sich Abziehbilder auf den Arm.

Die Gruppe links von uns löst eher negative Emotionen aus. Die Männer mit den verbrannten Gesichtern und Sonnenbrillen, die listige Augen verdecken, reden und gestikulieren. Immer wieder springt einer auf, geht irgendwo hin, kommt nach ein paar Minuten zurück und redet und gestikuliert von neuem, und doch ist es wohl nur heiße Luft. Die Szene wirkt auf mich mafiös. Die Physiognomien sind derb und scheinen Gewalt auszustrahlen.

Auch wenn das Stadtzentrum schön hergerichtet ist, wirkt die Stadt fahl. Die Häuser sind oft grau und ocker geputzt, die Zebrastreifen kaum noch sichtbar, es scheint ein Staubschleier auf allem zu liegen. Biegt man in eine Nebenstraße, meint man im Leipzig der 80er Jahre zu sein. Bäume wachsen aus den Dachrinnen, der Putz platzt ab, die Kellerfenster sind eingedrückt … Müll liegt am Straßenrand. Während die nordserbischen Dörfer alle wie geleckt aussehen, kann man hier den Effekt der Stadt, zu vieler Menschen, studieren. Sobald man den Nachbarn nicht mehr kennt, nimmt das Verantwortungsgefühl ab und es gibt auch niemanden mehr, der die Verantwortung übernimmt.

Zum Schluß wollen wir uns noch die Gotteshäuser anschauen. Über eine graue Straße finden wir zum „szerb templom“, zur orthodoxen Kirche. Jedem, der nach Ungarn oder Serbien kommt, kann ich den Eintritt in eine orthodoxe Kirche nur empfehlen – vor allem bei 42 Grad im Schatten. Diese hier ist vergleichsweise einfach und bescheiden eingerichtet, aber die große goldene Ikonenwand, die Kühle und die Stille entfalten schnell ihre Wirkung. Wir sitzen zehn Minuten in vereintem Schweigen und verlassen den Ort, ohne ein Wort gesprochen zu haben.

Auf der anderen Seite der Olympia-Meile, einer wohl noch titoistischen Prunkallee, liegt die Synagoge, ein enormer Bau, der gerade in ganz neuen Farben und mit kupfern glänzendem Dach erstrahlt. Leider ist das Gelände abgesperrt. Ein Gemeinschaftsprojekt von Serbien, Ungarn und der EU – letztere steuert mit 300 000 Euro den Löwenanteil bei.

Synagoge

Bleibt noch die Kathedrale. Sie ist gleich doppelt symbolträchtig. Vor ihrer Pforte befindet sich eine riesige marmorne Plattform, darauf eine Patria über Heldenrelief. Das war die Landnahme des Sozialismus in Jugoslawien. Durch die gesamte Vorderfront der ebenfalls mausgrauen Kirche zieht sich ein langer Riß – sie ist wie in zwei Teile gespalten, wie nach einem Erdbeben. Zugang gesperrt.

Auf dem Weg nach Hause, an der Ausfallstraße, dann eine Überraschung. Ein kleines, weißes Minarett reckt sich gen Himmel, arabische Schriftzüge bestätigen den Verdacht: eine Moschee. Vollbremsung. Als ich den Photoapparat herausnehme, um ein Bild zu schießen, kommt ein kleiner Junge heran, den ich zuerst für einen Zigeuner halte und also das Autofenster hochdrehe, und winkt mir zu. Während ich ein paar Bilder schieße, spricht er mich an, aber erst als er auf die Eingangstür weist, begreife ich. Er gehört zur Moschee und er lädt mich ein, sie zu betreten. Meine Frau will nicht mit, sagt sie. Eine instinktive Scheu vor der Moschee oder ist es der Polizist im Dienstwagen, der zehn Meter weiter steht und alles beobachtet? Ich glaube, wir stehen sogar im Halteverbot. Schützt der Gesetzeshüter oder überwacht er oder ist alles nur Zufall?

Der Kleine, nennen wir ihn Mohammed (in Wirklichkeit habe ich vergessen, ihn nach dem Namen zu fragen), führt mich in den Gebetsraum. Wir ziehen die Schuhe aus. Ein einteiliger Gebetsteppich mit vielen abgedruckten Gebetsstellen bedeckt den Flur. Alles ist neu und glänzend, nur der Teppich wirkt schon abgenutzt. Weiß und blau und Gold. Mohammed fragt mich, ob ich beten wolle – er tut das, indem er eine Verbeugung andeutet. Ich muß lachend ablehnen – aber für einen Moment spürte ich die Versuchung, es einfach mal zu tun und sich dem Moment und dem Ort auszusetzen.

Wir steigen die Empore hinauf. Immer wieder versuche ich ihn etwas zu fragen, auf Deutsch, Englisch, Ungarisch, sogar ein bißchen Russisch, aber nichts verfängt. Oben deute ich weibliche Brüste an – ist das der Gebetsraum der Frauen? Diesen Internationalismus kennt auch der vielleicht Zehnjährige. Aber er ist züchtiger als ich, zeigt nach unten auf die Straße und deutet das Lenkrad an und meint also meine Frau, die am Lenker saß, und nickt dann. Ja, hier beten die Frauen – davon zeugt auch der Vorhang als Sichtblende.

Blick von der Frauenempore auf den Gebetsraum

Auch hier ein Moment der Stille. Schließlich haben wir doch eine gemeinsame Sprache gefunden: Arabisch! Wir sagen gemeinsam al Fatiha her. Ich zeige auf die Schriftzüge an der Wand, ob er die lesen könne. Er versucht es, kann es aber nicht. Sein Arabisch ist wie meines eine Zirkusnummer.

im Studienraum

Dann führt er mich in die Hinterräume, einen Lehrraum und einen Ruheraum, in dem ganz im Kontrast zu den frisch gemalten Wänden, fleckige, dreckige Sofas stehen. In einer Glasvitrine liegen Koranexemplare aus. Ich darf eines herausnehmen: Arabisch. Ein anderes Exemplar in einer seltsamen Sprache, die mir nicht bekannt ist, eine Mischung aus Griechisch und Kyrillisch. Ich frage ihn, was das für eine Sprache ist, aber er versteht nicht. Im selben Moment beantwortet er sie ungewollt. Er zeigt auf sich und sagt: Bosni. Bosniake also, bosnyák (boschnjaak) auf Ungarisch, die Schrift bosnisches Kyrillisch. Viele Bosniaken hier? Ich zeichne einen Kreis und sage „Bosni“. Da nickt der kleine Mohammed und lacht.

Wieder im Vorraum angekommen, stecke ich ihm 50 Dinar zu und streiche ihm über den Kopf. Er zeigt auf eine Spendenbox. Auch dort werfe ich 50 Dinar ein. Das sind 40 Cent, aber so schnell kann ich das nicht umrechnen. Wir geben uns die Hand und sagen Salem Aleikum.

Draußen wartet meine Frau. Der Polizist sitzt noch immer reglos in seinem Auto und schaut herüber. Sie erzählt mir, daß sie sich – während wir wohl in den Hinterräumen waren – auch heimlich hineingeschlichen und umgesehen hatte.

„Hoffentlich hast du jetzt nicht die Gebete auf ewig ungültig gemacht“, sage ich. „Na, wenigstens hast du nicht menstruiert.“[1]

[1] „Der Menstruierenden und der Person, welche Junub (unrein) ist, ist es verboten, die Moscheen zu betreten.“ (Abu Dawud 201)

Ein Gedanke zu “Ein Tag in Serbien

  1. Kleines Kuriosum am Rande: Bin gerade geadelt worden! Und zwar von Alan Posener höchstselbst. Der war in Subotica gewesen, wovon er auf dem Blog „starke-Meinungen.de“ unter dem Artikel „Post aus Budapest“ kund tat. Ich hatte ihn in der Kommentarspalte eingeladen, seine mit meinen Eindrücken zu vergleichen. Sein vielsagendes Urteil:

    „ich finde Ihren Blogeintrag ziemlich unangenehm. Er strotzt nur so von Vorurteilen. Und den letzten Satz finde ich widerlich.“

    Mir scheint dieses apodiktische Verdikt trotz aller Kürze einen schönen und interpretationswürdigen Einblick in die Denk- und Wahrnehmungswelt eines führenden Meinungsmachers zu geben, die man verstehen muß, um „den Riß“ fassen zu können. Daher gern noch einmal die Einladung, sich die Reisebeschreibung durchzulesen und mir bitte – da Posener auf Argumente und Beispiele verzichtet – das Unangenehme, die Vorurteile, das Strotzende und das Widerliche (erstaunlich, wie viele vernichtende Moral-Urteile er in einen Satz packen kann!) mitzuteilen. Daß er offenbar zu den ironiefreien Menschen zählt, sei geschenkt.

    Ein Tag in Serbien

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