Sloterdijk über Wutbürger

Frage: Der Begriff des sogenannten Wutbürgers macht momentan (2013: Stuttgart 21) wieder Schule.  …  Ist das eine neue Form der Artikulation des Bürgers, daß er sich auflehnt in Deutschland gegen den Parlamentarismus, daß er sagt, ich akzeptiere das nicht mehr, was ihr da ausklüngelt,  ich will direkt mitreden können?

Sloterdijk: Ich habe die Proteste in Stuttgart immer sehr aufmerksam verfolgt … Der Vorgang war hoch bezeichnend und bedeutsam, weil es so etwas wie die Möglichkeit andeutete, daß – zur Überraschung der Politiker –, der Bürger wieder auf die Bühne tritt. Wir haben seit langer Zeit eine Art von Politik, in der der Bürger eigentlich nur alle paar Jahre, wenn er nämlich die Mehrheit der regierenden Parteien bestätigen soll, willkommen ist.  Ansonsten ist der stille Bürger, der unsichtbare Bürger der gute. Der Bürger, der wieder sichtbar wird, ist eigentlich eine Überraschung im System. Das war per se in meinen Augen ein großer Vorteil. Ich selber habe den Begriff Wutbürger immer heftig abgelehnt, weil er diffamierend geprägt worden ist. Es war ein Redakteur des Spiegels, er hat damit den sprachpolitischen Coup des Jahres – ich weiß nicht, war es 2011 oder so? – gelandet und ich halte das für eine Abscheulichkeit, denn Journalisten sind nicht dazu da Bürger, die auf die Straße gehen und ihre Interessen artikulieren zu denunzieren. Ich würde sagen die Empörungen, die da sichtbar werden die gehören zur Politik selber, denn das ist der Rohstoff, aus dem die Politik gemacht ist in Europa.

Die römische Republik ist aus einer Empörungswelle entstanden, im Anschluß an diese berüchtigte Affäre der Lucrezia, die von einem Tarquiniersohn vergewaltigt worden war. Die Republik Rom hat die Königsherrschaft abgeschüttelt aus Empörung.  Mit anderen Worten: Empörung ist der Stoff, aus dem die Republiken sind, und das darf man nicht lächerlich machen, sondern im Gegenteil: man muss das wachhalten, wir brauchen empörungsbereite Menschen, die nicht willens sind, chronisch geschehenes Unrecht oder Nonsens, der als Politik auftritt, hinzunehmen.

Wir bräuchten nur einen Alternativbegriff. Würden wir das Wort Zorn verwenden, hätte sich die ganze Sache wieder in eine akzeptable Richtung verschoben, denn der Zornbürger ist eine Erscheinung, ohne die es die Demokratie nicht gibt. Also wenn nicht genug Menschen da sind, die bereit sind, einen heiligen Zorn zu empfinden über evidentes Unrecht … (Unterbrechung vom Interviewer)

Der Souverän hat ein Gefühlsleben und unter diesen Gefühlen sind noble Gefühle, wie z.B.  der heilige Zorn über Unfug, den man mit ansehen muss, und Unrecht, das man nicht dulden kann. Als Zornbürger ist der Souverän in meinen Augen dringender denn je willkommen zu heißen.

Nur die Denunziation als Wutbürger ist schädlich, denn es steckt der Gedanke dahinter: das sind ja alles nur sozusagen wohlstandsverwahrloste Senioren, die sich nicht dazu überwinden können ein Zugeständnis an das Gemeinwohl zu machen, wie es etwa in Form einer solchen 15 Jahre lang bestehenden Großbaustelle geleistet werden müsste.

Das ist eine Unterstellung, und ich denke, es gab unter den Protestierenden sehr viele ernsthafte Menschen, die den Sinn eines Großprojekts wie dieses aus guten Gründen infrage gestellt haben und die Entwicklung gibt ihnen ja ganz offenkundig recht.

2 Gedanken zu “Sloterdijk über Wutbürger

  1. Fuzzer schreibt:

    Ist nicht wahr: Alle drei Begriffe kommen anders rüber: Wutbürger ist der strampelnde sich an Kleinigkeiten hochziehende Choleriker mit keinen echten Problemen (suggeriert reich! Gerechtigkeit!), auch „empört“ setzt – zumindest bei mir – eher ein leichtes Schmunzeln frei. Zorn ist halt heiliger Zorn, der Zornige ist ernstzunehmen.

    Deswegen ist auch andersherum Gutmensch ein so treffender Begriff. Klar kann man bigott, Pharisäer, Heuchler usw. sagen. Aber dieses subversiv Debile, Infantile mit viel entitlement…, und zur Perfektion mit Seitenhieb auf „einfache Sprache“ – unschlagbar! Sprache ist wichtig.

    p.s.: Zu unserem letzten Abtausch haben Sie eigentlich noch eine Antwort verdient, seidwalk. Erst hatte ich nur wenig Zeit, dann habe ich gemerkt, ich bekomme das nicht in Schriftform hin. Ich wollte das nur noch explizit sagen. Vielleich kommen wir ja noch einmal dazu.

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  2. renz schreibt:

    Typisch Hochintellektueller. Differenzierungen vom Feinsten. Wut oder Zorn….gut oder böse? Wen interessiert das in der Umgangssprache. Auch ich lege nicht jedes Wort auf die Goldwaage und beginne mit These, Antithese und Schlaubiespruch. Warum spricht man hier nicht von empörten Bürgern? Das ist es doch – wir sind empört!

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