Rumänien: Glanz und Elend

Rumänisches Tagebuch II

Rumänien empfängt uns mit allen Klischees. Hinter der Grenze wollen wir die Vignette kaufen, der Schalter ist offen, der Angestellte sitzt drin, tut nichts, schaut aus dem Fenster und bedient uns trotzdem nicht, weil er – wie er sagt – gerade Pause macht.

Vor uns steht ein Auto mit Pirnaer Kennzeichen, also ein naher sächsischer Verwandter. Ich will fragen, was zu tun sei, und werde von einem bärtigen rumänischen Gesicht mit tief gespaltener vertrockneter Lippe in gebrochenem Deutsch auf die nächste Tankstelle verwiesen. Wenige Kilometer weiter begegnet uns der erste streunende Hund und bettelt um Brot. Und kurz vor der Tankstelle rennt uns ein anderer mit gebleckten Zähnen frontal fast ins Auto: Vollbremsung – können Tiere Selbstmord begehen?

Freilaufende Hunde überall – auf der gesamten Strecke begegnen wir ihnen in allen Größe, Farben und Mischungen, als Einzelgänger oder in Gruppen, unruhig umherschweifend auf der Suche nach Freßbarem.

Ich entsinne mich eines alten Freundes, der vor zwei Jahrzehnten eine Wanderung durch die Karpaten wagte und von lebensgefährlichen Situationen mit Hunderudeln sprach und manchmal auch von gutmütigen Begleitern, die einem nicht mehr von der Seite wichen. Was mögen diese Tiere erlebt haben, wenn sie den Menschen so aggressiv angehen oder sich ins Auto stürzen? Die Straße ist mit Hundekadavern geschmückt – alle paar Kilometer liegt ein verendetes Tier. Sie scheinen genau zu wissen, wo die Grenze ist, denn auf ungarischer Seite bemerkt man davon nichts.

Überhaupt ist der Unterschied zu Ungarn deutlich. Man sieht auch dort viel Armut – aber alles ist relativ. Je weiter wir ins Land eindringen, die kleinen Ortschaften an der Landstraße 6 durchqueren, umso deutlicher zeichnet sich folgendes Bild ab: Von den Häusern ist ein Drittel verfallen und unbewohnbar geworden, ein weiteres Drittel sind Bauruinen in verschiedenen Zuständen der Vervollkommnung und ein letztes schließlich kann als genuines Wohnhaus dienen.

Die Baustellen, so hat meine Frau irgendwo gelesen und klärt mich nun auf, gehören oft Arbeitsmigranten, die ihre kärglichen Überschüsse – meist in England oder Deutschland verdient oder bekommen – in die Heimat senden, wo man, vornehmlich aus Prestigegründen, Häuser baut, in denen niemand wohnt, die aber etwas darstellen. Der Prozeß kann viele Jahre dauern und wenn das Geld für die erste Etage da ist, dann wird eben die erste Etage gebaut und im Jahr darauf vielleicht die zweite und dann das Dach, die Fenster, die Inneninstallationen und irgendwann, in ferner Zukunft und wenn es den ästhetischen Ansprüchen genügt, wird auch verputzt. Aber wenn, dann im billigsten Grau. Nun ist man also reich und kann was vorzeigen. Die Kehrseite – erzählt mir die engagierte Pädagogin – ist eine verlorene Generation Kinder, die ihre Eltern an den westlichen Arbeitsmarkt verlieren und in Heimen oder bei Großeltern aufwachsen. Eine Bildungskatastrophe zu Europas Nutzen.

Auch als wir in Timișoara/Temeswar einfahren, ist der erste Eindruck eher bedrückend. Grau ist die herrschende Farbe. Man fährt an langen Betonzäunen vorbei, die meist schief sind und zerbröckeln und unangenehm an einstige sowjetische Kasernen erinnern. Klassische Ceausescu-Ästhetik. „Neues“ ist immer Beton, alles wild durcheinander gebaut. Dazwischen ein paar habsburgische Prachtbauten im Havanna-Charme.

Die Hauptstraße führt direkt auf das Hotel „Continental“ zu, ein ebenfalls spätsozialistisches Hochhaus, das wie ein letzter Zahn im zahnlosen Mund – eine häufige Ansicht in diesen Breitengraden – alles andere überragt. Ich schaue meine Frau, die für die Buchung verantwortlich ist, skeptisch von der Seite an, denn den Fehler des letzten Jahres wollte sie nicht noch einmal machen.

Im Inneren aber erwartet uns ein Hotel, das allen modernen Ansprüchen genügt – wage ich als Unerfahrener zu sagen. Wir werden diskret und freundlich empfangen, man empfiehlt uns die kostenfreie Sauna, das Schwimmbad und etwas, das sich Jaccuzi nennt.

Hinter uns steht eine deutsche Familie, eine Mutter mit zwei Kindern. Sie ist der „grüne“ Typ, billige Jeans, Regenjacke und streng zusammengebundenes Haar und erklärt ihren Jungen gerade: „Es gibt zwei Welten in Rumänien: diese hier und eine andere aus Armut und Elend. Zu dieser hier haben nur die wenigsten Zugang.“ Peinlich berührt und erfolgreich schuldbeladen stehen die Kinder da, nicken und schauen auf den roten Teppichboden.

Das Hotel war unter Ceausescu ein Vorzeigeobjekt. Das Schwimmbad auf seinem Dach wurde von Ceausescus Sohn eifrig benutzt, erzählt man uns. Wenn Nicu kam, wurde das Hotel geschlossen – einsam zog er auf dem Dach seine Runden, nur von bewaffneten Sicherheitsleuten begleitet. Ein paar Jahre nach der Wende starb er an Leberzirrhose.

Wir schauen aus dem achten Stock über die Stadt und plötzlich wird uns bewußt: die Epoche der Häßlichkeit begann nach 1945, ganz abrupt. Alles, was davor gebaut wurde, hat Stil. Erst die Einführung des Betons und des seriellen Bauens hat die Städte zerstört – in Ost und West.

Die Innenstadt schockiert mich! Vor Schönheit. Das war nicht zu erwarten! Wunderschöne Hausfassaden, weite, offene Straßen und enorme Plätze. Der Piața Unirii kann sich mit jeder Piazza in Italien messen und übertrifft die meisten. In der Mitte die obligatorische Dreifaltigkeitssäule, die weite Fläche, die dem Begriff „Lichtung“ eine neue Bedeutung verleiht, wird an den langen Enden von Kirchen und an den Seiten von großartigen Palazzi und Barockbauten und Wiener Secessionsbauten umsäumt. Alles ist in dezenten Pastellfarben gehalten, bunt zwar, aber nicht protzend.

Es weht ein kalter Wind. Die gestrige Wärme wurde von einem Regengebiet – aus Ungarn kommend, wie man uns betont – abgelöst. Dennoch sind die Straßencafés voll. Doch nur von Jugend, richtiger, teenagender, hipsternder Jugend. Das wird sich überall bestätigen. Die vielfältige Café- und Barkultur, die sich im Zentrum entwickelt hat, wird ausschließlich von sehr jungen, gut frisierten und geschminkten und sehr westlich gekleideten Menschen frequentiert. Ü-30 ist eher selten. Flackernde I-Phones eher die Norm. Aber wo sind die Alten?

Man sieht: hier sammelt sich das Geld Rumäniens. Elegante Damen in hochhackigen Schuhen staksen über das Pflaster, junge Männer im maßgeschneiderten Anzug bieten ihnen den Arm oder den Schirm an. Andere tragen die typisch italienischen abgesteppten Jacken. Hunde sieht man hier fast keine; nur einmal kommt eine junge Frau mit vier gestriegelten und bezopften West Highland White Terriern an der Leine vorbei. Sie hat grüne Haare und trägt eine rote Jacke und muß mächtig ziehen, die vier Hunde akkurat in einer Linie zu halten.

Die Geschäfte haben bis 20 Uhr geöffnet. Noch immer ist es hell, die Menschen machen ihren passeggiata, das Leben geht hier wohl nach mediterranem Takt. Ende März hat man halb neun noch immer natürliches Licht – ein starkes Argument für die Sommerzeit.

Wir betreten eine Buchhandlung, in der uns Rockballaden um die Ohren wehen. Wenn man die Sprache ignoriert, dann ist sie von einem westeuropäischen Geschäft kaum noch zu unterscheiden. In der Regel haben kleinere Sprachen ein Übersetzungsproblem, aber hier ist viel Qualität versammelt, wenn auch etwas verspätet. Rumänien ist gerade bei Simone de Beauvoir und Henry Miller angekommen, denen man die Schaufenster widmet. Ich stehe vor den gesammelten Werken Ciorans und Mircea Eliades und werde melancholisch, wie immer, wenn man vor begehrten Büchern in fremden Sprachen steht: das werde ich nie lesen können … aber Glanz überall.

Und dennoch: Inmitten der perfekt hergerichteten Fassaden steht immer wieder ein vollkommen verfallenes Haus, wie als Mahnung. Oder einst opulente Gebäude im Havanna-Charme. Sie haben seit Jahrzehnten keine Farbe oder keinen Putz mehr gesehen. Am Piața Victoriei, gleich gegenüber dem Opernhaus, steht ein enormes Gebäude in verblichenem Grün, dessen zahlreiche Löcher in der Fassade Einschüsse sein müssen. Hier, in Timisoara, begann 1989 die Rumänische Revolution, die viele Todesopfer kostete. Die ersten fielen just auf diesem Platz, als sie friedlich demonstrierten und die Securitate – vielleicht von diesem Haus aus? – in die Menge schoß.

Heute wirkt der Platz friedlich. Zu Ostern sind Stände aufgebaut, die landestypische Spezialitäten, Klimbim oder Osterdevotionalien verkaufen. Wir nehmen ein Schaffell mit, das auffallend nach Schaf riecht.

Der Platz öffnet sich zur orthodoxen Kirche hin, der „Kathedrale der Heiligen drei Hierarchen“. Am Ostersonntag nehmen wir dort am Gottesdienst teil. Hier hat die Rumänisch Orthodoxe Kirche ihren Hauptsitz. 85 Prozent der Rumänen gehören ihr an. Man feiert jedoch nicht Ostern, sondern ein Frühjahrsfest, das Florale oder Floreal, wie man uns sagt. Die Zeit läuft hier noch nach dem Julianischen Kalender, Ostern wird erst am 8. April gefeiert. Viele Menschen haben ein paar Zweige Weidenkätzchen oder Forsythien mit und in den Straßen verkaufen Zigeunerkinder Osterglocken und schauen einen so lange herzerbarmend an, bis man, besser frau, fünf Lei herausrückt.

Die Kirche ist gerammelt voll. Vor dem Eingang fuhr gerade ein Rettungswagen heran, um eine schwächelnde Großmutter aufzunehmen. Sie winkt ihren Verwandten, von so viel Aufmerksamkeit erregt, noch einmal fröhlich zu. Drinnen steht man frei im Raum. Es gibt keine Reihen. In der Mitte bildet sich eine Art Ameisenstraße, auf der ununterbrochen Menschen von vorn nach hinten und von hinten nach vorn strömen. Wir reihen uns ein und verlassen die Straße in der Mitte des Doms, wo gerade etwas Platz geworden ist. Vorne, vor einer gigantischen goldenen Ikonenwand, singt ein bärtiger Priester und beginnt gerade den Segnungsprozeß. Derweil gehen mehrere Männer mit einem Korb durch die Reihen und sammeln die Kollekte. Es liegen nur 1-Lei-Scheine darin. Das sind 20 Cent.

Die Architektur erinnert mit ihren Rundbögen an die romanische Bauweise. Wieder falle ich – wie schon in Szeged – auf das Äußerliche herein. Die Kirche ist erst 70 Jahre alt und im moldawischen Stil gehalten. Ihre Grundstruktur soll an die byzantinische Hagia Sophia erinnern. Circa 4000 Menschen sollen in ihr Platz haben. Unweigerlich denke ich im Gedränge an einen Selbstmordattentäter, der sich hier problemlos hätte einschleichen und gleich hunderte Opfer haben könnte.

Anders war es in der Katholischen Kirche, wo wir den Ostergottesdienst in drei Sprachen verfolgten: Rumänisch, Deutsch, Ungarisch. Man betet das Vaterunser in allen drei Sprachen, aber nur auf Rumänisch murmeln alle mit. Das Ungarisch des Priesters klingt fremd. Dann sagt er etwas und alle geben ihren Nachbarn die Hand. Auch unsere Hände werden von fremden Händen gedrückt. Diese überraschende Gefühlsaufwallung und Nähe verunsichert mich einen Moment und ich sehe aus den Augenwinkeln, wie sich eine ausgestreckte Hand wieder zurückzieht. Wir schauen noch ein wenig der Abendmahlsfeier zu. Plötzlich bildet sich eine lange Schlange, die Oblate zu empfangen. Als wir die Kirche ohne Kniefall und Bekreuzigen verlassen, sind wir enttarnt …

siehe auch: Mein Rumänisches Tagebuch

Deutschland, Deutschland über Rumänien

Märtyrer, Versöhnung, Hirn …

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