Rosananz

Die schrecklichste Zeit des Jahres steht vor der Tür: Weihnachten. Man muß andächtig tun, sich sinnlos den Bauch vollschlagen, sein Dauergrinsen auflegen und vor allem: man muß verschenken – womit die Idee des Schenkens bereits torpediert ist. Es gibt überhaupt nur ein passendes Geschenk – ein Buch. Ich schenke nie etwas anderes und auch das nur meiner Frau und ein, zwei Auserwählten. In den kommenden Wochen werde ich einige mehr oder weniger verschenkbare Bücher besprechen.

Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit – eine Buchbesprechung

Mein Exemplar strotzt vor Anstreichungen zu Beginn des Buches und ist blütenweiß am Ende. Das liegt, wie schnell klar wurde, an der Repetetivität des Buches. Rosa sagt Bedenkliches, ja sogar Bedeutendes, aber er sagt es immer wieder, in Variation zwar, aber doch durchschaubar. Erst zum Ende des unverschämt gut lesbaren Buches, das man in drei, vier Stunden durch hat, zieht er – etwas überraschend, aber erfreulich – die Schrauben noch einmal an.

Im Grunde versucht er sich an einer neuen Großerzählung, nur spielen weder Ökonomie, Produktionsverhältnisse, Ideologie, Begehren, Angst und andere Zentralbegriffe verbrannter Welterklärungen die zentrale Rolle, sondern die „Resonanz“. So lautete auch sein voluminöser Bestseller und Vorläufer des vorliegenden Titels. Das Moment der Verfügbarkeit stellt letztlich nur einen Teilaspekt jenes „Beziehungsmodus“ Resonanz dar, den Rosa zum archimedischen Punkt erklärt.

Diese Perspektive leistet einiges, aber sie verstrickt sich auch in etliche Widersprüche. Sie macht zuvörderst das Falsche und Verkehrte des spätmodernen Lebens sichtbar.

„Unverfügbarkeit konstituiert menschliches Leben und menschliche Grunderfahrung“, die Moderne wiederum zeichnet sich durch das wachsende Versprechen der Verfügbarkeit („Reichweitenerweiterung”) aus und zwar, wie Rosa in diversen Exkursen darlegt, auf allen Ebenen: individuell, kulturell, institutionell und strukturell. Der Pferdefuß an der Verfügbarkeit ist der veränderte Weltzugang der Menschen: die Welt begegnet ihnen als Aggressionspunkt, als to-do-Liste, als noch zu Erledigendes, noch zu Erlebendes. Das freilich verunmöglicht das wahre Erleben, sprich den Resonanzzustand. Resonanz ist unverfügbar, sie ist eine Gabe, ein Geschenk.

Das alles ist nun nicht neu, man kennt ähnliche Gedanken aus Philosophie, Psychologie und Theologie zur Genüge, Rosa aber nimmt für sich in Anspruch, soziologisch zu argumentieren, er meint, daß unsere Bezogenheit zur Welt nicht anthropologisch festgelegt sei, sondern von den „sozialen und kulturellen Bedingungen, in die wir hinein sozialisiert werden“, primär abhänge. Wovon allerdings die sozialen und kulturellen Bedingungen abhängen, wird uns nicht erläutert.

Stattdessen widmet sich der Autor den Dimensionen der Verfügbarkeit, ihren Paradoxien, ihrem Ideal (Resonanz), der Unverfügbarkeit von Erfahrung und Begehren, der modernen Verfügbarkeit im Laufe eines individuellen Lebens von Geburt bis Tod oder ihrer Bedeutung als institutionelle Notwendigkeit.

Das alles ist immer wieder so angelegt, daß der Leser einen Selbsterkenntniseffekt erlebt, ein gelungener Blick in den Spiegel, ein Verweisen auf die Hamsterräder, in denen wir alle laufen, die Glashäuser, in denen wir sitzen. Auch wenn sich Rosa zahlreich Unterstützung aus der großen weiten Welt der Philosophie holt, bleibt die Nähe zum New Age nicht unbemerkt.

Man könnte meinen, das Buch sei zu glatt, es fehle dem Verfasser an Mut wirklich widerständig zu sein. Alles ist sauber in PC, keine Beanstandungen, nichts hat Vor- oder Nachteile, man legt nur wertfrei dar etc. Nur wenn man die leisen Töne vernehmen will, die blitzartig auf- und untertauchenden Äußerungen zu Heimat, Tradition, Abtreibung, Asyl oder die „unkontrollierbare Eigendynamik der Medien“, dann könnte man einen Kryptorechten vermuten. Aber psst!, das bleibt unter uns – man will schließlich keine Karrieren verbauen.

Nur ganz zum Schluß verrät er sich mit seinem ausgeprägten Kulturpessimismus, da möchte man ihn fast brüderlich in die Arme schließen: „Das Programm der Verfügbarmachung der Welt droht am Ende zu einer radikalen Unverfügbarkeit zu führen, die kategorial anders und schlimmer ist als die ursprüngliche Unverfügbarkeit …“

Noch ein bißchen mehr Mut, vielleicht noch ein Buch über die „Resonanz der Liebe“ und Rosa hätte das Zeug, der Erich Fromm der Generationen X bis Z zu werden.

Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit. Wien/Salzburg: Residenzverlag 2019, 131 Seiten, 19 Euro
zuerst erschienen in „Sezession“ Heft 89

7 Gedanken zu “Rosananz

  1. Skeptiker schreibt:

    Sie werde lachen: ich habe das Buch vor einigen Wochen zum Geburtstag geschenkt bekommen und hatte eine vergleichbare Leseerfahrung gemacht. Die von Ihnen konstatierte „Repetetivität des Buches“ ist nicht zu bestreiten, liegt aber auch an zwei anderen Sachverhalten. Einmal repetiert sich ein deutscher Soziologe an der von ihm in die Welt gesetzten Terminologie, die um „Resonanz“ kreist. Das sagt etwas über die Selbstreferentialität dieses Faches aus, das mittlerweile den Bezug zur sozialen Realität und ihren historischen Dimensionen aufgegeben hat. Derartige Form von objektferner Wissenschaft erinnert an Tierbücher der frühen Neuzeit, die sich mehr mit Einhörnern und Zentauren befassten, denn mit dem Regenwurm im nahen Garten.
    Die vergleichsweise nachdenkenswerten Einlassungen sind schon vor Jahrzehnten von präziser argumentierenden Autoren formuliert worden – von Riesman und Fromm bis hin zu dem Adorno der Minima Moralia. Die Prosa von Rosa hat den faden Charme epigonaler Drittverwertung. Das Buch ist deshalb lesenswert, weil es den Zustand der gegenwärtigen Modesoziologie repräsentiert. Eine für mich wichtige „Spiegelfunktion“ vermochte ich in dem Text nicht zu entdecken, der sich in der Tat wegliest wie ein mittelprächtiger Kriminalroman.

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  2. JJA schreibt:

    Ich wünschte, mir wäre die Sprache gegeben, um gerade vor belesen Menschen wie Ihnen ausdrücken zu können, warum ich den Katholizismus für *den* Schlüssel halte. Nun, in diesem Fall ist es recht einfach: Weihnachten kann wirklich ein großartiges Fest sein! Die dreieinhalb Wochen zuvor hat man besondere Gelegenheit zur Abgrenzung in elitärer Geste („Glühwein im Advent? Ist doch Fastenzeit!“), danach hat man auch wirklich Lust, Unmengen zu essen (bereut es trotzdem hinterher) und das Hochgefühl des Festes erleichtert einem die Bescherung. (Ist es so schwer, eine Geste um der Geste willen wertzuschätzen?) Es ist nicht nur das emotional beladenste, es ist auch das philosophischste Fest: die Inkarnation des Logos, die Materialisierung von Vernunft und Sinn, das Paradoxon schlechthin, in dem die zahllosen Paradoxa des Lebens aufgehoben sind.

    Nun, aber man ja soll nicht nur den Menschen, auch den lieben Gott niemals als bloßes Mittel gebrauchen…

    Noch ein Buch, das bei mir für Dezember ganz oben auf der Liste steht: Tom Holland, Dominion. Der Historiker legt dar, wie das Abendland durch das Christentum, gerade in Entgegensetzung zur antiken, paganen Tradition seine entscheidende Prägung erfahren hat. Für einen Nietzscheaner aber vielleicht kein neuer Gedanke… In England wird es gerade hochgelobt und viel besprochen, ich gehe davon aus, dass es auch noch übersetzt wird.

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    • Innerlichkeit läßt sich kaum in Worte fassen. Wir verstehen dennoch, was Sie sagen wollen. Auch was ich dazu denke, läßt sich schwer in Worte fassen – es schwankt zwischen Bewunderung und Neid auf der einen Seite und Bedauern auf der anderen.

      Das Problem mit diesen Schlüsseln ist nun mal, daß jeder seinen für „den“ hält – und es sei ihm gegönnt. Wir leben alle in unseren Illusionen. Ihre verschafft Ihnen eine „gesegnete Weihnacht“ und mir nur weihnachtliche Ärgernisse, aber damit ist die Bilanz der beiden Lebenswege noch längst nicht gezogen. Die Vorteile meiner Sicht will ich hier und jetzt nicht benennen, um Sie und die Katholiken unter den Lesern und alle anderen, die „den“ Schlüssel zu besitzen meinen, nicht zu verletzen.

      Aber glauben Sie mir: wenn ich hier ab und zu etwas vor mich hin brumme, dann ist das nur die Schale, noch dazu vor Publikum, also immer schon ironisch gebrochen, und dahinter steckt eine äußerst befreiende Kraft, die in allen europäischen Sprachen die Zahl Zwei enthält. Sogar die Ungarn, die alten Nomaden, hatten diesen Gedanken erfaßt und nannte diese großartige Macht „kétség„.

      Das dürfte der wesentliche Unterschied sein: die einen bleiben bei der Eins stehen – und ich verstehe das perfekt, denn das Weiterzählen öffnet die Büchse der Pandora – die anderen haben die Zwei und damit alles weitere entdeckt und können und wollen sie nicht mehr ignorieren, sprechen sie freudig aus. „Hochgefühle“ können beide haben. Beide beinhalten Gefahren – die der Zählenden ist sicher die Unendlichkeit, Beliebigkeit und Verwirrung.

      PS: Seien Sie vorsichtig mit Holland – der Mann ist ein Meister der historischen Manipulation.

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      • JJA schreibt:

        Zunächst: Ich denke, die ironische Brechung war auch in meinem obigen Kommentar erkennbar. Meine Apologetik stützt sich nicht auf den Erlebnischarakter des Weihnachtsfestes. Aber es ist eben auch ein Punkt und gerade für die Rechte ein schwieriger. Unsere Kultur ist durch und durch christlich; wie man sich ihr ernsthaft verschreiben kann ohne christlich zu denken und zu fühlen, bleibt mir unverständlich. (Lichtmesz kritisiert ja in dieser Richtung diese Neuheidentum-Surrogate und Benoist.) Ja, da haben Sie recht: Bei diesen Themen hört Verstehen schnell auf und man kann sich nur noch gegenseitig als Kuriosum betrachten. Dennoch gibt es Rationales zum Thema zu sagen. Ich kann aber dem, was z.B. ein Robert Spaemann oder ein Wolfgang Cramer geschrieben haben, nichts Substantielles hinzufügen.

        Aber mit Verlaub, das Framing: Glauben/Eins (Einfalt?) kontrastiert mit der Zwei/Zweifel etc muss ich zurückweisen. Diesen Bruch gibt es, aber er geht quer zu religiösen oder areligiösen Denominationen, eine Identifizierung beider Unterschiede wäre etwas billig. Um mal schamlos ein Ruge-Zitat bei Frau Kositza zu klauen:

        „Die Menschen glauben, was sie glauben wollen. (…) Man kann ihnen Fakten liefern, man kann sie widerlegen, es hilft nichts. Im Gegenteil, wer etwas glauben will, findet einen Weg. Er wird sich durch den winzigen Spalt quetschen, den die Wahrheit ihm lässt. Wird die Dinge so lange drehen und wenden, bis sie wieder in seinen Glauben hineinpassen, und seine ganze Klugheit wird ihn nicht etwa daran hindern, sondern ihm noch dabei behilflich sein.“

        Das gilt wahrlich nicht nur für eingefleischte Katholiken. Im Gegenteil, ich würde behaupten, die unhinterfragten und gleichzeitig falschen Plausibilitäten unserer Zeit sind ganz andere, der Szientismus z.B., um von Politik gar nicht anzufangen. Der Zweifel richtet sich potentiell auf alles, auch gegen sich selbst.

        Nach dem Holland muss ich aber doch noch fragen. Das Buch ist mein Erstkontakt mit ihm (und noch habe ich keine Zeile gelesen). Worauf stützt sich Ihre Warnung?

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        • No offence intended!

          Natürlich, wir denken alle christlich und das will und werde ich auch verteidigen. Aber das Christentum hat eine extrem ausgefaltete Theologie entwickelt, ein wahrer Kulturschatz. Neben dem Außenvergleich – also der Frage nach „dem“ Schlüssel – ist es die Theologie, die den Zweifel aus sich selbst heraus produziert, denn dort, wo plötzlich zwei Meinungen zu einem Phänomen entstanden sind, dort gibt es den Zweifel, die Zwei – oft in Form des Schismas. Sie entsteht zuvörderst aus den intrinsischen Aporien des Grundtextes. Die Einzigartigkeit des Christentums führt also auch zu seiner eigenen Selbstwiderlegung. Daß man an den christlichen Varianten und dem Christentum auch an Jesus etc. zweifeln kann, ist selbst (ein großartiges) Ergebnis christlichen Denkens, wie überhaupt unsere einzigartige Kultur – inklusive ihrer exterministischen Tendenzen. Es gibt zwar einen anthropologisch fundierten also apriorischen Atheismus aber seine westliche Geschichte ist hauptsächlich ein Produkt der Theologie. Das Christentum gewinnt seine Stärke aus der Theologie, wird über sie tradiert und am Leben erhalten, der Islam aus deren weitgehender Abwesenheit.

          Theologie ist eine Kommarechnung, Einskommanochwas und jede Zahl hinter dem Komma läßt sich wieder durch Komma unterteilen und das bis ins Unendliche … aber die Eins steht. Zweifel ist das Weiterzählen über die Eins hinaus. Das ist auch eine interessante mathematische Frage: Kann es die Eins ohne Zwei überhaupt geben? Als Eins. Das spricht sich in der Weisheit der Sprache aus: Zweifel, dubbio, doubt, kétség, tvivl …

          Ich betrachte Gläubige nicht als Kuriosum, im Gegenteil, ich versuche sie zu verstehen und immer unter der Vorgabe: Sie könnten recht haben, es kann Gott geben. Ich finde, es sollte dem Allmächtigen eigentlich ein Leichtes sein, den Zweifel zu überwinden. Eine schöne Offenbarung (auch Apokalypse), ein überzeugendes unbezweifelbares Wunder, die Wiederkehr Christi … und ich bin sofort dabei. Aber schon eine vollkommen überzeugende Argumentation würde mir genügen.

          Nun sagen die Christen, der Zweifel sei gewollt, denn es bedürfe der Glaubensentscheidung. Wenn er aber gewollt ist, dann sollte er auch gerechtfertigt sein … Daß der Zweifel sich auch gegen sich selbst richtet, macht das eigentlich Faszinierende, Lebendige an ihm aus. Das ist das stärkste Argument für ihn. Wenn auch der Glaube sich gegen sich selbst richten würde, wäre er für vernunftorientierte Menschen viel attraktiver.

          Einfalt ist ein ganz heiliges Wort für mich: es dürstet mich danach. Man zweifelt doch nur, um am Ende den Zweifel zu überwinden.

          Letztlich ist auch Nichtglaube Glaube und sollte unter dem gleichen kositzaschem Schutz stehen, wie der „echte“.

          Tom Holland war in unseren englischen Jahren sehr medienpräsent. Er ist ein so guter Erzähler, daß man ihm schon wieder mißtrauen sollte. Ganz sicher ein Leseerlebnis. Ich hatte seinerzeit sein Rom-Buch in der Mangel und irgendwas zum Islam – habe es vergessen, der Eindruck blieb.

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  3. Pérégrinateur schreibt:

    Gelungene Buchgeschenke, gibt es das? Ja, dank der von uns Männern nicht zu erreichenden Feinfühligkeit der Frauen.

    Der Professor kehrt nach einem Herzinfarkt, einem Krankenhausaufenthalt und einer längeren Rehabilitation ans Institut zurück. Seine anteilnehmende Sekretärin schenkt ihm das Buch „Krankheit als Chance“. Er hat sich freundlich und schicklich bedankt.

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    • Zugegeben, auch das Buchgeschenk muß in der Regel scheitern – außer man schenkt es sich selbst. In dieser Hinsicht ist eine Ehefrau recht hilfreich. Auch ich müßte mich eine Weile zurückziehen und besinnen, bevor mir ein wirklich gelungenes Geschenk einfällt – weshalb ich meine Verwandtschaft und Bekanntschaft bitte, von Schenkungen abzusehen, um Ihnen den Anblick der Maske zu ersparen. Meine Frau wird mich sicher an das eine oder andere gelungene Geschenk erinnern – sie hat das bessere Gedächtnis. Ich erinnere mich immer nur ans Aufatmen nach der Gabenrunde. Da habe ich jedes Jahr klar vor mir stehen.

      Dahlke und Thorwald Dethlefsen muß ich dennoch verteidigen. Deren Bücher über „Krankheit als …“ können auf Erkrankte bewiesenermaßen nachhaltigen Eindruck machen und in der Tat entscheidende Denkprozesse einleiten. Sie sind vielleicht überhaupt erst lesbar, wenn man die Nachricht „Sie haben X“ selber gehört hat. Den Philosophieprofessor möchte ich sehen, der nach seiner ultimativen Prognose dann noch wißbegierig nach der letzten Kantdissertation aus Akademia greift.

      „Hat der Geber nicht zu danken, daß der Nehmende nahm?
      Ist Schenken nicht eine Notdurft?
      Ist Nehmen nicht – Erbarmen?“ (Also sprach Zarathustra)

      plus: Von der schenkenden Tugend

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