„Trotz aller traumatischen Ereignisse, die das Imperium erschüttert hatten, war die Integration der Barbaren in philanthropischer oder religiöser Absicht weiterhin das dominierende Motiv der offiziellen Diskurse.“(Alessandro Barbero)[1]
Möglicherweise erntete Barbero mit seiner im leicht zugänglichen Ton geschriebenen Aufarbeitung der Schlacht von Adrianopel, die aufgrund der nicht mehr zu beherrschenden Migration der Anfang des Endes Westroms war, Kritik unter Fachgenossen oder aber er wollte seine These auf breitere Füße stellen …, jedenfalls ließ er im Jahr darauf eine dreifach umfängliche Studie veröffentlichen, in der der Katastrophenkurs weit in die historische Vergangenheit zurück und die folgenden Jahrzehnte weiter entwickelt wird. Schon im Ton wirkt es akademisch, zudem ist es mit extensivem Apparat versehen und strahlt Kennerschaft aus – aber auch ein wenig Langeweile, wie sich das für einen akademischen Text gehört.
Lehrreich ist es trotzdem. Folgen wir in aller Kürze dem Gang dieser Geschichte.
Gleich zu Beginn entwirft Barbero eine manichäische Welt: Da ist das reiche Rom, prosperierend und zivilisiert, mit unübersehbaren Ungleichheiten und Ungleichgewichten im Inneren, aber doch mit einer starken Administration und einer funktionierenden Ökonomie versehen und da sind auf der anderen Seite ganze Völker jenseits der Grenzen, die mit ungenügenden Ressourcen auskommen müssen, die an Hunger und Kriegen leiden und die folglich immer öfter an die Tür klopfen und um Eintritt bitten oder diesen mit Gewalt erzwingen. Und jedes Mal muß die jeweilige Regierung entscheiden, wie zu verfahren sei. Dabei standen verschiedene Optionen zur Auswahl und die reichten von der Zwangsräumung und Grenzschließung über die Inhaftierung oder das Festsetzen von Eintrittsgeld bis zur humanitären Hilfe und zur Schaffung von Arbeitsplätzen im Reich mit dem Ziel der Integration und Assimilation.
Die Ähnlichkeiten zur heutigen Situation sind unübersehbar und diesmal stellt Barbero bewußt auch immer wieder darauf ab. Die Geschichte, die er nachfolgend entfaltet, über mehr als 400 Jahre lang – von Augustus bis Theodosius und darüber hinaus –, ist nichts anderes als dauerndes Vagieren zwischen und Wiederholen angegebener Maßnahmen, jeweils auf die konkrete historische Situation zugeschnitten. Trotz zwischenzeitlicher Erfolge bleibt das Endergebnis katastrophal – es war Rom nicht gelungen, den Zustrom zu beherrschen und systemstabilisierend zu organisieren.
„Über Immigration sprechen, bedeutet, über Grenzen zu sprechen“, setzt er seinen Diskurs an. Die Geschichte dieses Dramas entfaltet sich vor allem und zuerst an den Grenzen, an Rhein, Main, Donau, am Limes und an Gebirgspässen. Schon zu Augustus‘ Zeiten stand fast die Gesamtheit des riesigen Berufsheeres an diesen Grenzmarken. Man darf sie sich durchaus nicht rigide vorstellen. Einerseits war insbesondere der Limes auch als potentieller Vorposten für künftige Eroberungen angelegt, andererseits wirkte die römische Kultur weit ins Hinterland hinein, auch wenn die Grenzen de facto geschlossen waren. Die Nähe zu dieser Hochzivilisation führte also zur langsamen Romanisierung in Abhängigkeit von der Entfernung, aber eben auch zur Verstärkung der Attraktion des Sehnsuchtsortes. Was heute die weltweiten Medien global schaffen, schufen damals die grenznahen Handelsbeziehungen.
Es gab auch immer wieder Lobredner dieser extensiven zivilisatorischen Leistung, die eine Vorstufe des Universalismus verherrlichten, der die geistigen, moralischen und materiellen Werte über die eigenen Grenzen hinaus verbreitet sehen wollte und von einer „römischen Ökumene“, einer „Zukunft der vollständigen Integration“ träumte. Nichtsdestotrotz waren die Grenzen geschlossen und zwar in beide Richtungen und konnten nur auf Antrag und mit gültigem Paß überwunden werden. „Die Möglichkeit, die Grenze zu überqueren, ohne die eigenen Beweggründe erklären zu müssen und in das römische Territorium einzudringen, ohne um die Erlaubnis zu bitten, existierte einfach nicht.“
Das heißt nun nicht, daß der Übertritt im Laufe der Zeit nicht trotzdem stattfand. Auch wenn die Dokumente schweigen, so geht Barbero auch schon für die ersten beiden Jahrhunderte von einer signifikanten illegalen Einwanderung aus, zieht sogar Parallelen zur Jetztzeit, denn damals wie heute wurde das Problem in der Öffentlichkeit lange verschwiegen und ignoriert und nur gelegentliche rassistische Ausschreitungen in den Städten – in einer Welt, in der Rassismus als Denkmöglichkeit wenig verbreitet war, weil es das „Blutsdenken“ nicht gab[2] –, zeugen von zunehmenden Spannungen. Niemand weiß heute, wie viele Opfer diese Konflikte gefordert haben mögen.
Das Römische Reich stand dabei vor einer schweren Aufgabe: Die Sicherung der Grenzen selbst verlangte einen stetigen Strom an militärischem Nachwuchs, die Armee war eine Menschenfreßmaschine, die nach immer neuem Menschenmaterial gierte, aber auch ein „melting pot“ mit entbarbarisierender und egalitaristischer und assimilierender Wirkung[3], eine „Karrieremöglichkeit, die es den Kindern von Einwanderern ermöglichen würde, sich in der römischen Gesellschaft zu integrieren“.
Jeder interne oder externe Feldzug forderte Opfer, ließ Lücken zurück, die gestopft werden mußten. Zudem fehlte es an Arbeitskräften und ganze Landstriche lagen nach Kriegen oder Epidemien oder Naturkatastrophen wüst und mußten neu besiedelt werden. Doch die Ressource Mensch war im Inneren des Reiches endlich, von außen aber strömten immer neue Völkerschaften an die Grenze.
Diese waren meist Bauern mit einfacher Subsistenzwirtschaft – ein einziges Fehljahr konnte zu Hungersnöten führen. Die Lösung lag auf der Hand: Man bietet diesen Menschen Land und macht sie langfristig zu Römern oder man nimmt sie ins Militär auf und macht sie auf diese Art zu Römern. Der wesentliche Unterschied zur heutigen Zeit, so Barbero, liegt in der kollektiven Aufnahme ganzer Stämme und Völker und der Ansiedlung auf dem Land anstatt in der Stadt.
„Lange Zeit gelang es dem Imperium, den Zustrom zu bewältigen, die Assimilation der Immigranten zu unterstützen und sie erfolgreich zu nutzen, um die landwirtschaftliche Produktion wiederzubeleben und die Reihen der Armee zu schließen; an einem gewissen Punkt begann jedoch etwas schiefzugehen, und die Anwesenheit von Neuankömmlingen zeigte destabilisierende Effekte. Die Katastrophe von Adrianopel 378 ist nur die sichtbarste Folge einer neuen Unfähigkeit, Einwanderungsströme zu verwalten und zu steuern: was als traurige Geschichte von Flüchtlingen begann, die zunächst abgelehnt und dann akzeptiert wurden, was dann zu Mißbrauch und Veruntreuung in der Verwaltung führte, kostete schließlich einem Kaiser das Leben und stellte einen epochalen Wendepunkt in der Geschichte Roms dar.“
Und dann geht Barbero diese Geschichte Epoche für Epoche durch.
Schon unter Cäsar und Augustus, nach der Eroberung Galliens, wurden strategische und taktische Abwehrmaßnahmen notwendig. Eine komplizierte Geschichte von Kriegen und Umsiedlungen, von Bündnissen und Abkommen entfaltet sich. So wurden etwa die Ubier schon im Jahre 19 auf das linke Rheinufer umgesiedelt. Es brannte an allen Grenzen: ob Gallier, Germanen, Franken, Alemannen, Goten, Sarmaten, Daker, Araber, … immer wieder stand man vor der Frage, wie damit umgehen, ein ewiges Ringen zwischen Konflikt und Kompromiß, zwischen Abstoßung und Anziehung. Die Flavier, die Antoniner – Hadrian und Mark Aurel –, die Severer, die Tetrarchen, die Kaiser der Staatskrise bis hin zu Diokletian und Konstantin dem Großen und seinen dynastischen Nachfolgern, sie alle hatten mit dieser Frage zu kämpfen. Neben den ökonomischen und militärischen Faktoren werden humanistische Begründungen lauter und spätestens seit Mark Aurels Herrschaftszeit dominant.
Oftmals erbaten die Stämme friedlichen Eintritt, wurden aber feindlich, wenn dieser ihnen verwehrt wurde. Die Quellenlage ist oft dünn und man muß davon ausgehen, daß ein Großteil der Konflikte den Geschichtsschreibern entging. Man nahm nun ganze Völkerschaften auf und versuchte sie im Land zu verteilen, was nicht immer friedlich vor sich ging. Es ist faszinierend, sich vorzustellen, wie etwa arabische Kämpfer am Hadrians Wall die Grenzen des Reiches verteidigten und Kelten vielleicht in Mauretanien standen.
Immer wieder verselbständigten sich fremde Einheiten und zogen marodierend durchs Land. Sie niederzuschlagen verlangte neue militärische Rekrutierungen – Rom war in einem Teufelskreis gefangen. Umgekehrt mehren sich die fremdländischen Namen auf den Grabsteinen erfolgreicher Militärs. Immer öfter stiegen die Barbaren schon in erster oder zweiter Generation in den militärischen Rängen auf. Eine erfolgreiche militärische Laufbahn konnte die Zusicherung der Bürgerrechte bedeuten. Barberos Text verliert sich hier mitunter in militärhistorische Detailfragen, wenn er etwa diskutiert, welche militärischen Positionen den jeweiligen Migranten offen standen, welchen Rechtsstatus die Stämme oder die Individuen hatten[4] etc. Das zeigt die ganze Komplexität des Problems – das je nach historischer Phase – wellenförmig abflaute und anschwoll, in der Gesamtgröße aber zulegte.
Zum unlösbaren Problem wurde dann die Krise an der Donaugrenze, auf die bereits Konstantin – der schon eine „germanizzazione“ der Streitkräfte zugelassen hatte – mit Strafmaßnahmen reagierte. Das wurde der Blueprint für die folgenden Kaiser bis Theodosius. Um den „demographischen Druck zu verringern“ wurde aber auch immer wieder versucht, vertraglich abgesicherte Übertritte größerer Einheiten von Goten zu gestatten. Diese aus der Not geborenen utilitaristischen Zugeständnisse wurden als humanitäre Akte gefeiert. Erschwerend – oder erleichternd? – kam hinzu, daß Teile der Goten den Prozeß der Christianisierung bereits durchlaufen hatten, es also eine „wachsende Familiarität“ gab, die Abstoßungsaffekte verminderte. Ja, es gab sogar religiöses Asyl für verfolgte gotische Christen und bereits im 4. Jahrhundert war die Integration von Einwanderern in die römische Gesellschaft Kirchenpolitik, um ein „universales christliches Imperium“ zu schaffen.
Die Verträge verschafften Beruhigung und das gute Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben …, aber jener Prozeß, der in der Schlacht von Adrianopel gipfelte und den Barbero in seinem ersten Buch ausführlich beschrieben hatte und der im „fallimento dell‘integrazione gotica“ – im Scheitern der Integration der Goten – gipfelte, war nicht mehr aufzuhalten. Dieses Scheitern wurde zum Trauma, denn bislang war „die Fähigkeit, die Barbaren zu integrieren und ihre Arbeitskräfte einzusetzen, das Land neu zu besiedeln und die Reihen der Armee zu füllen, immer eines der Geheimnisse des Erfolgs des Imperiums gewesen.“
Vielleicht kann man Barberos Fazit ein dialektisches nennen. Einerseits war die Migration für ein aufgeblähtes Reich eine unverzichtbare Quelle, ohne die Landwirtschaft und Militär nicht aufrecht erhalten werden konnten. Diese wurde durch einen spezifischen kulturellen Universalismus ideologisch abgefedert, der den Kaiser „als Vater und Beschützer der ganzen Menschheit“ sah und es als „moralische Verpflichtung empfand, die Romana felicitas auf der ganzen Welt zu verbreiten“ und alle daran teilhaben zu lassen. Es bestand kein genuines „Interesse, die ethnische Homogenität der Bevölkerung zu verteidigen“, vielmehr waren „le campagne“ – Barbero spielt hier mit der Doppelbedeutung des Wortes, das sowohl „Feldzug“ als auch das freie „Land“ bedeuten kann – für die Regierung ein Versuchsfeld für soziale Experimente.
Es begann zu scheitern, als die Flüchtlinge in zu kurzer Zeit in zu großer Zahl eintrafen und auf eine erstarrte und korrupte Bürokratie trafen, die in Zeiten gesellschaftlichen Umschwungs mit den Anforderungen nicht mehr Schritt halten konnte. Die Probleme wurden in historisch rasanter Geschwindigkeit objektiv unlösbar, die teilweise Öffnung der Grenzen, als Ventilöffnung, schaffte nur kurzzeitige Entlastung und verstärkte die Konflikte letztlich. Schließlich entglitt in einigen Gebieten die Regierungskontrolle vollkommen, es bildeten sich verschiedene autonome Einheiten, die, wenn sie militärisch geformt waren, immer wieder auch italisches Gebiet verheerten und letztlich zum Untergang Roms, Westroms – um genau zu sein –, führten.
siehe auch: Untergang des Imperiums
Interessant zu sehen, wie der Arbeitskräftemangel für das, was Rom zum Imperium gemacht hat, nämlich effiziente Landwirtschaft und Militär, am Schluss auch seinen Untergang verursachte. Ein bedingungs- und eigentlich zielloser Expansionismus trieb Rom schon an, als es sich noch im Aufstieg befand. Seine Macht wollte sich selbst vergrößern und garnierte das mit moralischen Rechtfertigungen
https://hintermbusch.wordpress.com/2018/05/10/nesactium-und-die-schlimmen-istrier/
„Es bestand kein genuines Interesse, die ethnische Homogenität der Bevölkerung zu verteidigen“
Das ist bis heute ein Grundzug lateinischer Gesellschaften. Mexiko beispielsweise ist das einzige Land der Welt, das eine schwarze Minderheit so vollständig (durch Mischehen) assimiliert hat, dass sie nicht mehr im Straßenbild erkennbar ist. Die Deutschen und auch die Angelsachsen sind da ganz anders, was die Integrationskraft und Dauerhaftigkeit ihrer Großreiche deutlich reduziert:
https://hintermbusch.wordpress.com/2016/02/28/erfindung-europas-ursprung-und-grenzen-der-toleranz/
LikeLike
Todds Bücher zu lesen ist gewiss zuträglicher als die der vielen, nach eigener Erklärung emanzipatorisch wirkend wollenden Soziologen. Empririsches Arbeiten geht gut zusammen mit familialem Materialismus, während die hermeneutischen Wesensschauen bei Bedarf der Empirie bekanntlich ganz entraten können.
Er pauschalisiert natürlich. Im frühen, in Koautorschaft verfassten Buch L’Invention de la France werden im Anhang auch die Sozialstatistiken nach Département oder Arrondissement wiedergegeben, auf die sich die Analyse und die schönen flächengefärbten Karten stützen. Dabei fällt dann auf, dass aus absolut gesehen kleinen Unterschieden – etwa bei einem überall minoritären und oft auch eher nur historischen Phänomen wie etwa der Kohabitation nicht in direkter Linie Verwandter – sehr starke Schlüsse auf das dominanate Familienmodell gezogen werden. Es wird also Quantität in Qualität verwandelt. Ich würde mir wünschen, dass in seinen Büchern die Rohdaten ebenfalls ausgiebig Platz fänden, damit könnte man als Leser besser beurteilen, wie triftig seine Schlüsse sind. Und ob etwa die mémoire du lieu auch in modernen Zeiten, wo die Kinder zum Studium wegziehen und dann nicht wiederkommen, überhaupt noch kraftvoll genig wirken kann?
Wo er im Buch auf deutsche Verhältnisse zu sprechen kommt, verallgemeinert er auch stark. Die lutheranischen, also nach seiner Regel inegalitären Schwaben etwa hatten weithin ein Erbrecht, das, wenn nicht inzwischen flurbereinigt wurde, solche Flurkarten hervorbrachte:
http://udo.lubw.baden-wuerttemberg.de/public/q/c63ww
LikeLike
Geehrter seidwalk
Ein interessanter Beitrag.
Ergänzend einige Bemerkungen von Peter Heather zu den damaligen „Migranten“:
Bryan Ward-Perkins gewährt uns einen Blick in eine Region (Britannien), in der es keine Koexistenz von Römern/Kelten und „Migranten“ gab:
LikeLike
Vielen Dank für die spannenden Beiträge! Den „Tag der Barbaren“ hätte ich mir gerne als Urlaubslektüre gekauft, doch Amazon Deutschland scheint es nicht auf Lager zu haben. Ich suche weiter. Das längere italienische Werk würde meine Sprachkenntnisse doch überfordern, und auch das böse Wort „Langeweile“ schreckt da etwas ab. Ohnehin muß ich noch meinen „Christ, Römisches Kaiserreich“ beenden. So werfen uns die Fragen und Probleme der Gegenwart auf die Ursprünge Europas zurück …
Verbirgt sich hier dann auch Ihre Begegnung mit Bischof Sidonius?
Seidwalk: Bei Amazon kann man es gebraucht kaufen, Händler allerdings in den USA – das dauert bis zu 6 Wochen, geht aber in der Regel gut.
https://www.amazon.de/gp/offer-listing/0802715710/ref=sr_1_2_olp?ie=UTF8&qid=1529655836&sr=8-2&keywords=The+Day+of+the+Barbarians
https://www.amazon.de/gp/offer-listing/1843545942/ref=sr_1_3_olp?ie=UTF8&qid=1529655836&sr=8-3&keywords=The+Day+of+the+Barbarians
LikeLike