In Deutschland muß niemand hungern

Zumindest nicht zu dieser Jahreszeit, denn der Tisch ist gedeckt, sobald man die Haustür hinter sich zuschlägt und irgendwo auch nur ein kleines bißchen Grün findet: einen Park, eine Wiese, selbst einen Straßenrand – von einem Garten oder einem Wald ganz zu schweigen.

Überall findet man das magische Kräuterdreieck, das aus Brennessel, Löwenzahn und Giersch besteht. Jeder kennt diese Pflanzen, man kann sie kaum verwechseln und alle drei sind wahre Ernährungswunder. Sie gelten als Unkraut; mein Nachbar führt seit Jahren einen gnadenlosen Krieg gegen diese Überlebens- und Lebenskünstler und fährt nach getaner „Arbeit“ in den Supermarkt, um sich Rucola aus Italien, Salat aus Holland und Gurken aus Spanien ins Haus zu holen.

Eine Handvoll besagter Gartenwunder wiegt ganze Ladungen an EU-zertifizierten Produkten auf, wenn man auf die Inhaltsstoffe schaut. Man braucht sich nur bücken, es kostet nichts und schmeckt zudem besser und intensiver. Bedenken wie: aber der Staub, die Abgase und dergleichen sind bei Lichte besehen albern, denn auch über den Wirsing fuhren schwere Dieselmaschinen, von den Sprüh- und Düngemitteln ganz zu schweigen. Wenn ich meine Kräuter nicht gerade am Klärschlamm pflücke oder auf der Uranhalde, sollten sie deutlich weniger Schadstoffe enthalten als selbst der teuerste Bio-Salat.

Bei uns jedenfalls gibt es seit Wochen und eigentlich täglich Selbstgepflücktes. Ende Februar steckten Giersch und Brennesseln ihre Köpfe in die Sonne und Löwenzahn findet man sowieso fast immer. Da waren die Pflanzen noch klein, das Sammeln war etwas beschwerlicher, dafür waren sie zart und grün. Heute habe ich einen Sezessions-Beutel in zehn Minuten voll und kann nebenher noch allerhand anderes Grünzeug sammeln. Aber beginnen wir mit den drei Grundnahrungsmitteln.

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Man kann sie roh essen, das ist das Beste. Also kommen immer ein paar Blätter in den Salat. Die Brennessel rollt man zuvor und zerdrückt sie, so daß die Nesseln gebrochen werden. Das Gros wird zu Suppe verarbeitet oder zu Pesto oder zu einem Brei, einer Art Spinat. Man zerkleinert die gewaschenen Pflanzen – man sollte sie waschen, will man keine Fleischeinlage, aber auch die ist kein Problem – übergießt sie mit heißem Wasser oder läßt sie darin aufkochen. Eine große Menge an Grünzeug wird so zu einem kleinen Häuflein und kann zu allem gegessen werden. Als Suppe oder Pesto püriere ich sie, gebe ein paar Walnüsse dazu, ein bißchen Olivenöl und Gewürze nach Belieben.

Die Verdauung dankt es schon nach wenigen Tagen in Form perfekten, bilderbuchmäßigen Abgangs. Da geht es um mehr, wie bereits Carl Julius Weber wußte, als um den glatten Stuhlgang: „Ohne das Emanationssystem der Posteriora könnten wir gar nicht existieren; und eine Störung darin könnte unsere ganze Philosophie über den Haufen werfen…“ oder: „Was ist der offenste Kopf und das offenste Herz ohne die Offenheit der Posteriora, was unsere ganze Philosophie?“[1]

Die Brennessel ist die Basis – sie ist ein „Superfood“, d.h. sie enthält nahezu alles, was der Körper braucht, man könnte sich wochenlang nur von ihr ernähren und wäre dennoch gut versorgt. Sie ist eiweißreich, voller Vitamine und Mineralien und Spurenelemente. Viele Leute laufen an Brennesselfeldern vorbei in die Apotheke, um sich Brennesseltee zu kaufen – wirkt entwässernd, gut für die Nieren – und in den großen Städten gibt es mittlerweile Brennessel-Restaurants, wo man für 15 Euro eine Suppe mit ein paar verrührten Urtica-Exemplaren genießen kann.

Löwenzahn ist bitter und das ist gut so! Seine Inhaltsstoffe stehen der Brennessel kaum nach. Man kann alles an ihm essen: Blätter, Blüten, Stiel (sehr bitter) und Wurzeln. Die Bitterstoffe sind eine Wohltat für den Verdauungstrakt. Unsere zuckerbasierte, kohlenhydratlastige und  zerkochte Nahrung hat das Bittere nahezu verschwinden lassen, dabei ist es unglaublich wichtig. Lieber trinken die Leute einen Magenbitter – mache ich auch sehr gern, ist aber sinnlos – aus eben jenen Kräutern, die man besser gegessen hätte. Von der sehr potenten Wurzel, die auszugraben und zu reinigen etwas mühsam ist, gibt es auch sehr empfehlenswerte Preßlinge zu kaufen. Sie sind zudem voller Inulin und das ist besonders für Diabetiker gut.

Gibt man das Wort „Giersch“ in die Suchmaschine ein, dann kommen tausend Seiten mit Ausrottungstipps. Der beste fehlt meist: aufessen! Wir kennen bereits die Ode auf die Inhaltsstoffe – der Giersch verdient sie ebenfalls. Die drei Pflanzen ergänzen sich ganz wunderbar. Der Giersch hat auch noch den Vorteil, einen sehr guten Eigengeschmack zu haben, der irgendwo zwischen Petersilie und Möhre liegt oder besser: über. Jetzt im Mai beginnen die Pflanzen zu blühen, aber auch die Blüte kann man essen. Die Blätter werden fester und haben ihre Unschuld mitunter verloren, d.h. sie werden von Läusen besiedelt oder treiben seltsame Pocken aus – vielleicht ein Gallwespenbefall. Aber da der Giersch in der Regel ganze Wiesen bildet, finden sich immer geeignete Blätter und es wachsen auch immer wieder neue, junge Pflanzen nach. Das kann man durch Abmähen auch erzwingen. Der Volksmund nennt den Giersch auch „Zipperleinkraut“ und Zipperlein meint Arthrose, Gischt, Rheuma. Ein paar Wochen regelmäßig Giersch genossen und die Leiden sollten deutlich gelindert sein. Sage ich meiner Schwiegermutter jedes Mal, aber sie vertraut eher auf Big Brother Pharma und stöhnt vor Schmerz. Tut halt noch immer nicht genügend weh.

So, das war in aller Kürze das Einfache. Nun das etwas Fortgeschrittenere. Denn meine Suppen und Salate enthalten viel mehr.

Zum Beispiel das Klettenlabkraut. Auch das kennt jeder, auch das kann man in der Apotheke kaufen. Wie alle Labkräuter – man kann sie alle essen – erkennt man es an den Blätterringen, die rundherum um den Stiel wachsen. Es besteht fast nur aus Wasser, wenn man es trocknet oder kocht, verschwindet es beinahe. Zu den Labkräutern gehört übrigens auch der Waldmeister – auch der wächst bei uns im Garten. Von ihm ein, zwei Stengel, wegen des Cumarin – in der Menge ein Gift, in kleinen Portionen wohltuend –, vom klebrigen Verwandten so viel man will.

Dieses Jahr habe ich mir auch die Taubnesseln erschlossen. Im Garten steht in einer dunklen Ecke die silberblättrige oder auch Goldtaubnessel. Im Wald finde ich manchmal die rote Variante. Man kann sie nicht verwechseln, auch die weiße ist eine Delikatesse.

Gleich daneben wächst der Gundermann oder die Gundelrebe. Ein sagenhaftes Kraut! Seine Blätter sind Geschmacksbomben und haben einen minzigen bis melissigen Geschmack. Hier hat man schon mit einem Butterbrot ein Erlebnis. Am Geschmack erkennt man ihn untrüglich und auch an den Blüten, die nicht an der Spitze der Pflanze wachsen.  Kann man – wie alle genannten Kräuter – auch trocknen und im Winter als Tee trinken.

Habe ich schon die Wegeriche erwähnt? Zur Zeit nehme ich den Breitwegerich, weil er noch junge Blätter hat, die später sehr fest werden. Ansonsten das ganze Jahr über Spitzwegerich, als Salat und in den Tee. Oder die Knoblauchsrauke mit ihrem sanft schwefligen Geschmack. Den Kriechenden Günzel? Den Weißdorn? Die Tannenspitzen? Die Baumpilze, allen voran den Birkenporling, dann den Fichtenporling, den Zunderschwamm? Die Birkenblätter, Himbeerblätter, Brombeerblätter? …

Ich wills nicht übertreiben, weiß auch, daß es Themenallergiker gibt. Ich will auch nicht missionieren. Weder treibt mich der Tierschutzgedanke maßgeblich an noch der finanzielle Aspekt oder das Vegetarierthema … am ehesten ist es vielleicht die Freude an der Unabhängigkeit und am Selbermachen, am Wissen, an der Einfachheit und Natürlichkeit. 

Und im übrigen ruft soeben meine Frau, ich solle Essen machen. Mach ich doch. Heute gibt’s Suppe: Brennessel, Giersch, Löwenzahn und dazu alles, was mir im Garten noch begegnet.

Vielleicht später mal was zu Likören, Essenzen, Tinkturen, Honigen und Aufgüssen …

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Fichtenspitzen, Gundermann und Rotklee – Beute eines Spazierganges
[1] Carl Julius Weber: Demokritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen (1843). Band 12, Berlin 1895, S. 81, 84

2 Gedanken zu “In Deutschland muß niemand hungern

  1. Pérégrinateur schreibt:

    Mein Großvater sammelte jedes Jahr Waldmeister, den dann meine Großmutter trocknete und in Säckchen verpackt in die Kleiderschränke legte. Das soll angeblich die gierigen Woll- und Baumwollfresser fernhalten. Nun ja, sicher harmloser als das dafür auch lange Zeit gebräuchliche Naphthalin.

    Ein Freund, von dem ich einmal von diesen Säckchen berichtete und der den Waldmeistergeruch so wenig mochte wie ich den des Bärlauchs, meinte darauf gleich: „Klar, damit die Motten kotzen …“

    Waldmeisterbowle scheint in früherer Zeit beliebt gewesen zu sein, angeblich soll sie besonders berauschend gewirkt haben.

    Wieso mir beides jetzt nur bei Ihren Essempfehlungen einfällt?

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  2. Otto Reincke schreibt:

    Guten Appetit, eines der Besten Salate ist übrigens Vogelmiere…besonders im Fühjahr, kurz vor der Blüte, nur halt diese Sammelei ….

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