Wir kommen gerade aus dem Theater. Eigentlich gehe ich nicht mehr. Kann diese dauernde Belehrung, das ewige Moralisieren, gepaart mit Verhunzung einfach nicht mehr ertragen: die Springerstiefel, die Uniformen, die nackten Brüste, dieses Dudududu, das macht man, denkt man, sagt man nicht, das verkappte AfD-Bashing, das wir-sind-bunt-Gelaber … vor allem aber die Erstarrung der schauspielerischen Leistung unter all diesen Vorgaben, die abgelebten Verkörperungen, die Wiederholung gekünstelter Mimik und Gestik und die ideologische Verfremdung oft bewundernswerter Texte.
Lessing
Ernst nehmen!
Es sind oft die unwesentlich scheinenden Kleinigkeiten, die uns über den Ernst der Lage in Deutschland informieren. Etwa die Meldung, daß die „Ernst-Moritz-Arndt-Universität“ in Greifswald nun nicht mehr so heißen möchte – was natürlich nicht stimmt, denn nur eine Mehrheit des Senats hat darüber entschieden. In einem langjährigen Prozeß, der uns gleich als „demokratisch“ verkauft wird und also zu akzeptieren sei – oder wollen Sie als undemokratisch gelten? –, hat man es sich nicht leicht gemacht.
Linkes Raunen
Wir wollen schon hier anmerken, daß konservativ ist, in Gesetzmäßigkeiten zu denken, die sich immer wieder herstellen, während fortschrittlich zu sein scheint, sich mit Erwartungen zu beschäftigen, die sich niemals erfüllen. (Moeller van den Bruck)
„Raunen“ ist so ein Wort, das der linke Diskurs besonders gern nutzt, wenn es um „konservatives Denken“, um nicht-linkes Denken geht und insbesondere dann, wenn der zu diskreditierende Denker gewisse geistige Anforderungen stellt, die bereits sprachlich einen „Elitismus“, eine Trennung von Spreu und Weizen anstreben. Hegel war schon so einer, aber Heidegger ist der Paradefall, ein „dunkler Rauner“ durch und durch, den man von Adorno und Popper her schon deswegen ablehnt und alle revolutionäre und analytische Philosophie (Habermas, Hösle u.a.) nehmen das „Raunen“ gern als Anlaß, Heidegger gar nicht erst (unvoreingenommen) zu lesen.
Evola ist auch so ein Rauner oder Stefan George oder Moeller van den Bruck … und im jetzigen Kulturkampf werden auch Sloterdijk oder Botho Strauß gern als solche oder gar als „Schwurbler“ ermittelt.
In einem ansonsten kaum lesenswerten Artikel über das Kulturverständnis und die ärgerliche Kulturliebe der „Rechten“ (AfD und Hintermänner), zeigt uns Thomas Assheuer – Habermas-Schüler und Missionar –, daß er die Kunst des Raunens auch sehr gut beherrscht, wenn es „der Sache nützt“. Man muß den Aufsatz nicht lesen, um meiner Argumentation folgen zu können, es genügen die letzten Zeilen:
„Nach Wahlverwandtschaften mit konservativen Intellektuellen aus der Weimarer Republik muß man hier nicht lange suchen. Auch damals wurde zwischen Kunst und Kultur nicht groß unterschieden, auch damals sollte die tragische deutsche Kunst in Konkurrenz zur Verfassung treten; sie sollte Gewißheit erzeugen und Gottvertrauen in die nationale Stärke. Darüber hinaus sollte sie die Religion überflüssig machen, die ungeliebte Erfinderin von Gleichheit und Menschenrechten: Deutsche Kunst ,erfüllt jeden wahrhaft modernen Menschen mit derselben Sicherheit ums Weltall, die sonst nur das Vertrauen auf Gott geben konnte‘. Der Autor dieser Zeilen war der konservative Revolutionär Arthur Moeller van den Bruck. Das Buch, das ihn 1923 schlagartig berühmt machte, hieß: Das Dritte Reich.“
Wie man sieht, wird nicht nur Unsinn erzählt – z.B. Gottvertrauen ja, Religion nein –, es wird auch geraunt und angedeutet und insinuiert. Das abschließende Zitat, der letzte Satz, von einem Lieblingsrauner, effektvoll ins Offene gestellt, was soll er anderes bedeuten, als daß die „konservative Revolution“ und damit die „Neue Rechte“ und damit die AfD … einen direkten historischen Draht zum „Dritten Reich“, zum Nationalsozialismus hat?
Dabei weiß Assheuer als gebildeter Mensch sehr wohl, daß die Idee des „Dritten Reiches“ oder des „Tausendjährigen Reiches“ in den alttestamentarischen Prophetenschriften wurzelt, daß sie durch die christliche Trinitätslehre (Offenbarung, Paulus) noch einmal beschleunigt wurde und letztlich durch den mittelalterlichen Theologen Joachim di Fiore endgültig scharf gemacht und von Franziskus von Assisi gelebt wurde, daß die Idee des kommenden Endreiches seither vor allem der Linken ihre kinetische Energie verlieh. Er hat das von Ernst Bloch etwa gelernt, dessen Utopie nichts anderes ist und der sich sehr ausführlich mit Joachims Meisterschüler Thomas Müntzer beschäftigt hatte. Er konnte das bei Lessing ebenso wie bei Hegel verfolgen und all sein Marxstudium wäre umsonst gewesen, wenn Assheuer just entgangen sein sollte, daß Marx und seine Vorläufer – von Robespierre und Bakunin bis Owen – vom „Dritten Reich“ durchglüht waren und selbst die späten postmarxistischen Apokalyptiker, wie Rudolf Bahro, waren Fioristen bis in die Haarspitzen. Auch Habermas, Assheuers Lehrer, gehört mit seinem Wunschbild des „herrschaftsfreien Diskurses“ dazu …
Die Nationalsozialisten – das darf man nicht vergessen – verstanden sich als Sozialisten; sie haben der linken Denktradition viel mehr entnommen, als heutigen „Antifaschisten“ lieb sein kann.
Assheuer will uns anderes einreden. Er rekurriert auf den Topos des „Reiches“ im NS und verbindet den konservativen Klassiker van den Bruck – der schon 1925 starb und das Bild, als Übersetzer Dostojewskis, im Übrigen von dem großen Russen übernahm –, von dessen Lehre Hitler sich ausdrücklich distanzierte, unausgesprochen, im raunenden, andeutenden Gestus, mit den Verbrechen des NS. Er hätte auch Friedrich Hielschers „Das Reich“ nennen können oder Stefan Georges „Neues Reich“ … und damit nur bewiesen, wie virulent der Begriff in der Weimarer Republik war.
Aber Information war von Anfang an nicht sein Ansinnen.
Die Lessing-Legende
Der religiöse Glaube ist die private Sache jedes einzelnen Menschen, in die ihm niemand dreinzureden hat, um derentwillen er von niemandem behelligt werden darf. Aber ebendeshalb darf auch kein Mensch mit seinem religiösen Glauben andere Menschen behelligen. Der Satz, daß Religion Privatsache sei, schließt den Satz ein, daß jede Religion, sei sie nun, welche sie wolle, rücksichtslos bekämpft werden müsse, sobald sie ein Kappzaum der wissenschaftlichen Forschung, eine Waffe der sozialen Unterdrückung sein will. (Franz Mehring: Die Lessing-Legende)
Mal ganz ehrlich: Lessings „Nathan der Weise“ ist ein ziemlich miserables Stück. Wer „Minna von Barnhelm“ oder „Emilia Galotti“ kennt, der weiß, was für ein großartiger Dramatiker Lessing sein konnte. Der „Nathan“ überragt im öffentlichen Bewußtsein trotzdem alles. Gern übersieht man die dramaturgischen Schwächen des Werkes, die holzschnittartigen Figuren, die Theorielastigkeit – denn der „Nathan“ enthält die Ringparabel. Sie mußte in diesem Alterswerk nicht nur wie ein Testament erscheinen, sie paßte auch zu gut zur pseudoaufklärerischen Beschönigung der monotheistischen Religionen unter dem Totschlagwort „Toleranz“. Hätte Lessing geahnt, daß er bis heute dazu mißbraucht wird, Realität anhand seines Märchens zu verdrängen, er würde vielleicht – so viel darf man einem scharfen kritischen Geist zutrauen – das Stück nicht oder anders geschrieben haben. Nun also steht es, wird permanent aus dem Zusammenhang gerissen – ohne Kenntnis des Streites mit Pastor Goeze, dessen Verlängerung der „Nathan“ ist, ist es eigentlich gar nicht zu verstehen – und wurde als Klassik mitverantwortlich für eine Fehlsicht, insbesondere auf eine der drei Religionen. Mittlerweile meint man, Lessing habe damit den Islam als „friedliche Religion“ adeln wollen – tatsächlich war er überhaupt nicht für eine Religion, sondern nur gegen Unterdrückung: verfolgte Jesuiten verteidigte er genauso, wie er gegen Antisemitismus vorging …
Um das Stück zum Leben zu erwecken, bedarf es einiger Mühe. Mit meinen Syrern hatte ich es besprochen. Die Ringparabel war beiden längst bekannt, nicht die Lessingsche Variante, sondern eine eigene. Saladin oder Salah-ad-Din, wie sie ihn sehr respektvoll aussprechen, gilt als einer der größten Helden der muslimischen und syrischen Geschichte, obwohl er Kurde und nicht Araber war. In Damaskus steht ein riesiges Mausoleum, sein Sarg wurde von Wilhelm II., Deutscher Kaiser und Preußischer König, gestiftet.
Saladins Fama, ein mildherziger, weiser und toleranter Feldherr und Sultan gewesen zu sein, beruht auf einer Ausnahmehandlung: Anstatt nach der Eroberung Jerusalems das zeitübliche Blutbad anzurichten, ließ er tausende reiche Christen sich freikaufen, die anderen wurden keinen Kopf kleiner gemacht, sondern in die Sklaverei verkauft. Dahinter stand politisches Kalkül („Weisheit“) und die Rechnung ging auf: Kaum hatte die Nachricht dieser „Mildtätigkeit“ Europa erreicht, begann man alles Mögliche in diesen mystischen Saladin hineinzuprojizieren. Man sah in ihm, woran man – mit christlichem Gewissen belastet – selber krankte: den edlen Heiden, den ritterlichen Gegner, die morgenländische Leuchte der Toleranz. So wurde er zur Legende. Lessing nutze sie und wurde selber zur Lessing-Legende, anfangs zur bürgerlichen, als welche Mehring sie kritisierte, dann zur proletarischen, zu der Mehring sie machte, und schließlich, heute, zur tolerantistischen. Daß auch bei Lessing nur ein einziger Tempelherr das Massaker übersteht, und dies aus ganz privaten Gründen, wird heute gern übersehen.
Die lokale Presse feierte das Stück. Intendant und Fördervereinsvorsitzender schwelgten in versöhnender Hochherzigkeit. Auf der Bühne sieht man hingegen eine wenig inspirierte Vorstellung. Ein Nathan in Anzug und Krawatte kurvt mit einem Schreibtischstuhl in einer kalten Bürolandschaft herum und redet von Tempelherren, Babylon und Jerusalem, Spangen und Ohrgehenken. Routiniert und ohne wirkliches Interesse spielen die Schauspieler ihre Rolle herunter. Immer wieder gibt es Textunsicherheiten, die Abläufe sind nicht einstudiert, man stolpert über Tische, läuft sich in die Wege, die Daja muß mit Textzettel auftreten (die erste Besetzung ist erkrankt), der Patriarch ruft laut und genervt „was?“, als er den Souffleur beim ersten Mal nicht versteht. Im großen Monolog in der Ringparabel werden die entscheidenden Zeilen – „…komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott zu Hilf“ – der politischen Korrektheit oder der Tolerantitis geopfert.
Ob die Akteure selber nicht an die Botschaft glauben und sich lächerlich vorkommen oder ob sie aus anderen Gründen demotiviert sind, wissen wir nicht.
Seit zwei Jahrzehnten kämpft das Theater ums Überleben, jedes neue Jahr wird der Haushalt umstritten und letztlich doch gekürzt, man fusioniert und defusioniert, Sparten werden geschlossen, Löhne beschnitten, Personal entlassen … Und im Grunde genommen steht die tabuisierte Einsicht: Die einst boomende kleinbürgerliche sächsische Stadt mit heute proletarischer Bevölkerung, stark überaltert und mit stetigem Einwohnerschwund seit der Wende, braucht kein so großes Theater mehr. Ausverkauft werden ein paar frivole Stücke oder überteure aufgeplusterte Musicals, ansonsten bleiben die Ränge leer.
Auch heute können sie nur mit mehreren Schulklassen zum Vorzugspreis von vier Euro pro Karte halbwegs gefüllt werden. Unter den Zuschauern zwei Syrer, Eintritt frei. Sie wissen von alledem nichts und freuen sich der bunten Bilder. Als der Derwisch in gefaktem Arabisch eintritt und eine peinlich klischeebeladene Vorstellung eines „Arabers“ gibt, schaue ich mich fremdschämend heimlich um. Hussain lächelt ein schiefes Lächeln.
Pause. Gebetszeit. Nach langen Verhandlungen werden wir von einem Betreuer erwartet. Er führt uns im Eilschritt durch die Katakomben. Verwinkelte enge Gänge, viele Türen, ich habe keine Ahnung mehr, wo wir uns befinden. An der Garderobe, der Maske vorbei. Schließlich zum Ballettsaal (das Ballett gibt es nicht mehr). Daneben die Damentoilette. Hussain und Khaled ist der ganze Aufruhr unangenehm. Ein stilles Eckchen hätte doch genügt. Wir schließen die Tür hinter den beiden und unterhalten uns. Die bedauernswerte Daja – plötzlich umgekleidet – huscht auf die Toilette. Wir hören sie urinieren, während ich ein paar Fragen über „die da“ beantworten muß. Der junge Mann ist’s zufrieden. Alles geht seinen Gang. Projekt Integration geglückt, Beitrag geleistet.
Bevor wir uns wieder setzen, fragt Khaled noch: „Wer von den Männern ist denn Salah-ad-Din?“
siehe auch: Großes Theater