Mein Bild von Rußland ist fast vollständig von der Literatur geprägt. Dazu kommen ein paar wenige mündliche Berichte, von Leuten, die dort gelebt, Erfahrungen gesammelt haben.
Der großen Faszination der „Tiefe“, die man dort vermutet und den russischen Menschen unterstellt, dieses Unauflösbare, Geheimnisvolle, Mystische, die Größe in jeder Hinsicht, stand immer eine Abscheu vor einer schwer zu fassenden Primitivität und Kulturlosigkeit gegenüber. Russen haben bei mir nie einen Vertrauensvorschuß, so wie ich ihn etwa harmlosen Dänen instinktiv zuspreche.
Egal, was man gelesen hat, ob Dostojewski, Gontscharow, Tschechow, Gogol, überall begegnen uns Dummheit, Dreck, Diktatur, überall, wenn auch nie ausschließlich, sehen wir Brutalität, Willkür, Grausamkeit, eine bewußte Verrohung, Trunksucht und Elend. Das Elend mag mitursächlich sein, es soll hier keine Schuld generiert werden.
Oder Gorki! Dort ganz besonders, obwohl er uns doch schon den neuen Menschen zeigen wollte und selbst hinter Tschernyschewskis wirklich „neuem Menschen“ oder hinter den satirischen Figuren bei Saltykow-Schtschedrin: überall dieser fremde, unbegreifliche russische Mensch.
Und wenn wir die besten Autoren der Neuzeit heranziehen, Solschenyzin etwa oder Sorokin, sehen wir etwas anderes? Hat sich was geändert?
Der Ruf „Die Russen kommen!“ spricht eine Urangst aus, so wie man früher gerufen hat: Die Tataren oder die Mongolen kommen! Man wußte: wem die Flucht nicht gelingt, dem droht Schlimmes, den Frauen vielleicht das Schlimmste, aber auch Kinder und Männer konnten sich ihres Lebens nicht mehr sicher sein.
Dann las ich Tiziano Terzanis Reisebeschreibung durch das postkommunistische Rußland und seine Anrainer und wieder dieses selbe Bild. Ganz eindrücklich die Fahrt auf dem Amur: links Verfall, Trägheit, Elend und kein Wille, daran etwas zu ändern, rechts das Ameisenvolk der Chinesen, die unermüdlich arbeiteten.
Zuletzt besprach ich das Thema anhand der Aufzeichnungen Sándor Márais, der immerhin das Glück hatte, an Leib und Leben unverletzt die Besetzung seines Hauses überstanden zu haben – gerettet hat ihn sein Nimbus des Schriftstellers, denn so roh und abgestumpft die Rotarmisten – längst nicht alles Russen – waren, so ehrfürchtig standen sie doch vor dem Mann der Feder, als habe das Wissen und die Kultur, die sie selbst nicht haben, etwas Heiliges an sich. Und wer „Gebt mir meine Berge zurück!“ gelesen hat, der weiß, was der Ruf „Die Russen kommen!“ bedeuten konnte.
Ja, ich gebe zu: Vorurteile, alles Vorurteile. Aber nun las ich gerade ein weiteres Buch über Rußland und darin wird ein Historiker zitiert, der „alle Vorurteile“ bestätigt fand. Die Rede ist von Olaf Kühls „Z. Kurze Geschichte Rußlands, von seinem Ende her gesehen“. Eine Besprechung des Buches wird zur passenden Zeit folgen, jetzt geht es nur um dieses Rußlandbild.
Das ist umso wichtiger, als Kühl ein bekennender Liebhaber, nein Liebender alles Slawischen ist. Bewiesen hat er es in dutzenden genialen Übersetzungen aus dem Russischen und Polnischen, allen voran des an sich unübersetzbaren großen Witold Gombrowicz. Hört man Kühl über den Osten sprechen, dann muß man an Reinkarnation glauben, denn der Hang zur Slawistik kam über ihn wie ein Schicksal und was hat er nicht daraus gemacht!
Diese „Geschichte“ ist nun freilich eine Abrechnung mit Rußland, vor allem mit dem Rußland Putins. Wir finden alles wieder, was die russische Literatur bereits seit Jahrhunderten beschrieben hatte. Es ist ein düsteres, trauriges, erbärmliches Rußland, durch und durch verkommen in seiner Größe. Auch Kühl fährt den Amur hinunter und beschreibt drei Jahrzehnte nach Terzani die gleiche Szenerie. Und er zitiert Stanislaw Lem und man könnte meinen, Lem und Márai hätten sich verabredet, nur daß der hochkultivierte Ungar ein wenig bei der drastischen Rede des Polen errötet wäre:
„Die Russen hingegen waren eine Meute, die sich der eigenen Minderwertigkeit und Unterlegenheit auf eine wortlose dumpfe, jede Zügellosigkeit schürende Art bewußt war. Indem sie 80-jährige Greisinnen vergewaltigten, den Tod kurzerhand leichthin und im Vorbeigehen austeilten, jedes Anzeichen des Wohlstands, der Ordnung, des zivilisatorischen Reichtums zerschlugen, zerstörten und vernichteten – wobei sie in ihrer zerstörerischen Selbstlosigkeit beachtlichen Einfallsreichtum, Initiative, Aufmerksamkeit, Konzentration und Willensanstrengung bewiesen –, nahmen sie Rache weniger an den Deutschen (eben den ANDEREN!!) und dafür, was die Deutschen ihnen in Rußland angetan hatten. Vielmehr galt ihre Rache der ganzen westlichen Welt außerhalb der Grenzen ihres Gefängnisses, die auf die niederträchtigste aller möglichen Vergeltungsarten erfolgte: Sie schissen nämlich auf alles – keine Tiere zeigen solche, würde ich sagen, EXKREMENTALE VERBISSENHEIT, die die Russen gezeigt haben, indem sie mit ihren Exkrementen die zerschlagenen Salons, Krankenhaussäle, Bidets, Kloschüsseln füllten, auf Bücher, Teppiche, Altäre schissen. In diesem Scheißen auf die ganze Welt hatten sie ihre Freude und darin, die Welt zertreten, zermalmen, bescheißen zu KÖNNEN, nachdem sie schon vergewaltigt und gemordet hatten (sie vergewaltigten Frauen nach der Entbindung, Frauen nach schweren Operationen, sie vergewaltigten Frauen, die in Blutlachen lagen[1], sie vergewaltigten und schissen, und MUSSTEN außerdem Uhren stehlen …).“
Der letzte Gedanke ist besonders faszinierend: die Uhren. Auch Márai berichtete von dieser Fixierung. Kühl läßt uns wissen, daß das berühmte Photo vom Hissen der roten Fahne auf dem Reichstag retuschiert werden mußte, weil der führende Soldat an jedem Armgelenk zwei Uhren getragen hatte. Hinter jeder mag eine entsetzliche Geschichte gestanden haben.
Und heute prahlen die Oligarchen und Neureichen mit ihren goldenen Uhren und Kühl weiß ein paar Geschichten zu erzählen, wie dieser seltsame Fetischismus bis in die höchsten Kreise der Politik reicht und so manchen Skandal verursacht hat. Denn das ist der Clou seiner Schreckensgeschichte: er will uns davon überzeugen, daß diese Primitivität und Kulturlosigkeit, diese Gefühllosigkeit und Verkommenheit systemisch sei und also auch bis in die höchsten Kreise, ja bis in das oberste „Herz der Finsternis“ anzutreffen ist. Und man ist geneigt, ihm zu glauben, vorsichtig zu werden. Hat es von Ivan dem Schrecklichen über Stalin bis hin zu Chruschtschow und Breschnew keine Herrschaft der Crudokratie, Kleptokratie, Mediokratie gegeben?
Geopolitische Interessen hin oder her, Nato-Osterweiterung, Vertrags- und Versprechensbrüche … – das alles kann man diskutieren und in Rechnung stellen –, Russen gegenüber naiv zu sein, kann sich schnell rächen und man sollte einen Menschen schon sehr gut kennen, bevor man ihm vertraut.
Was Kühl freilich nicht sagt: Die Differenzen zwischen den Russen und den Ukrainern dürfte minimal sein. Auch die klassische Literatur gibt das her. Man lese etwa den ukrainischen Nationalschriftsteller Kwitka-Osnowjanenko und man wird mit exakt jenen Häßlichkeiten konfrontiert, wie bei den russischen Klassikern
Wenn wir heute tagtäglich mit vermeintlichen oder tatsächlichen Atrozitäten medial versorgt werden, dann gibt es zwar oft gute Gründe, im ganz speziellen Fall skeptisch zu sein, aber im höheren Sinne sollte man nicht zweifeln.
[1] Da kommt mir noch eine angelesene und nie vergessene Szene in den Sinn: War es bei Harry Thürk, „Die Stunde der toten Augen“, wo der russische Soldat eine tote Frau vergewaltigte?
siehe auch: Vorurteile retten!
Ich bin auch ein Liebhaber der russischen Literatur, nicht der Russen. Ich kenne keinen. Mein Vater geriet in Afrika in englische Kriegsgefangenschaft. Er erzählte mehr als einmal die Begrüßung der Engländer, meist Offiziere: „No watches?“. An einem oder beiden Armen hatten sie ihre Beute bereits aufbereiht. Der Soldat auf dem Brandenburger Tor hätte also auch ein Engländer sein können. Ihre Einschätzung läßt doch nur den Schluss zu, den Russen keinen Vorwand zu bieten, zu uns zu k o m m e n. Der dumme Westen wird alles dafür tun.
Lese z.Zt. Tschechows Biografie seiner Schwester Maria. Das zeigt doch ein wenig anderes Russlandbild. Die Russischen Autoren scheinen sich auch mit ihren Stereotypen zu gefallen. Siehe „Der Schneesturm“ von Sorokin.
Seidwalk: Die Uhren kommen nicht von mir, sondern von Kühl, Lem und Márai. Demnach geht die Faszination weiter, als nur pure Bereicherung, die völlig „normal“ im Krieg ist. Lesen Sie „Gebt mir meine Berge zurück!“ – dort sind es auch die Deutschen.
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Vermutlich muß hier doch noch etwas klargestellt werden. Ungern, denn es deutet darauf hin, daß hier entweder schlecht geschrieben oder schlecht gelesen wird.
Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß mit diesem Artikel nicht alle Russen oder „der Russe“ gemeint war, eine so große Selbstverständlichkeit, daß ich die Betonung fast für peinlich halte. M. E. gibt der Text als solcher dies auch her. Zudem führt er mehrere Kronzeugen auf und präsentiert Meinungen und Erfahrung. Wer auf diesem Blog schon öfter gelesen hat, der muß bemerkt haben, daß ich immer großen Wert auf die Vermeidung von unsäglichen Verallgemeinerungen gelegt habe. Das ist überhaupt sein Grundimpuls: sich von den marktschreierischen Generalisierungen, die es zuhauf gibt, abzuheben, die Komplexität der Lage anzuerkennen …
Beim beschriebenen Phänomen handelt es sich auch nicht um die kriegsübliche Grausamkeit, die Menschen in Extremsituationen ausleben können. Es gibt im russischen System, im Volk, im Land einen durch die Geschichte wahrnehmbaren Zug der Brutalisierung – ich habe das anhand der klassischen Literatur aufzuzeigen versucht und mit Kühls Buch neue Bestätigung gefunden. Selbst die tagtäglichen Nachrichten bestätigen das: https://www.focus.de/kultur/kino_tv/markus-lanz-ex-soldat-schockiert-mit-ukraine-bericht-da-ist-nicht-nur-lanz-sprachlos_id_194729320.html
Vor dieser Erscheinung können wir nicht die Augen schließen. Es gibt kulturell unterschiedliche Zugänge zum Thema Gewalt: die Russen sind nicht allein in dieser Hinsicht.
Unabhängig davon gibt es das überaus faszinierende „ewige Rußland“ mit einer großartigen Kultur und wunderbaren Menschen. Beides geht offensichtlich zusammen. Die erwähnten Literaturgenies haben in ihren Werken beide Seiten geschildert; was ich herausgefiltert habe – um der Sache willen – ist nicht das Ganze. Aber auch das ist eine fast peinliche Plattitüde.
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Nun nehmen Sie doch mal Ihren Artikel und ersetzen „Russen“ durch „Neger“ oder „Juden“. Dann hätten Sie doch ein gewisses Problem.
Seidwalk: Und was wäre Ihrer Meinung nach der Erkenntnisgewinn? Was Sie vorschlagen ist mittlerweile so eine eingeschliffene Übung, leider oft genutzt, um von den Problemen abzuweichen. In diesem Fall handelte es sich aber um einen Kategorienfehler.
Zweitens kenne ich deren Literatur nicht.
Drittens mußte meine Großmutter nebst drei Kleinkindern im Handwagen Hals über Kopf fliehen, weil nun mal die Russen kamen.
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Das ist nun bedauerlich, daß Ihre Großmutter vertrieben wurde. Genauso wie meinen Ur-/Großeltern dieses Schicksal in der Branau zuteil wurde. Das ist kein Argument für eine Generalisierung, daß alle Russen nun so sind. In Weißrussland gibt es einen Friedhof der Dörfer, in dem 260 Dörfer „bestattet“ sind, welche von der deutschen Armee mit allem, was sich darin bewegte niedergebrannt und vernichtet wurden. Das waren aber auch nicht „die Deutschen“, sondern ein gewisser Teil derer. Und wegen der Kategorisierung Ihres Artikels würde ich die unterste Schublade namens „Jud süß“ vorschlagen.
Seidwalk: Es ist schade, daß sie den abwägenden Charakter des Textes nicht wahrnehmen wollen.
Die Frage nach dem Erkenntnisgewinn, die eigentlich wichtige Frage, haben Sie nicht beantwortet. Warum sollte ich Russen durch Neger oder Juden ersetzen – was ist der Sinn?
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Wobei Gorki eher gerade gut war, wenn er den tatsächlichen Menschen beschrieben hat (s. seine autobiographische Trilogie) und nicht wenn er bemüht war (wie dem unsäglichen „Die Mutter“)
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Betr.:
„Rußland Putins, (…) durch und durch verkommen in seiner Größe …“
Wir wäre es mit einer Ergänzung, etwa:
„… Dagegen das von westlichen Beratern zur westlichen Zivilisation geleitete Russland unter Jelzin …“
Seidwalk: Mögliche Ergänzungen zu einem derart komplexen Thema gibt es unzählig viele. Man muß sich in einem Format wie diesem beschränken und konzentrieren, und auf einen Leser hoffen, der diese Konzentration mitmacht.
In Kühls Buch werden auch Jelzin und Gorbatschow ausführlich thematisiert, durchaus auch in Bezug auf die Verkommenheit.
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