Die Redlichkeit des Zuhörens

In politischen Systemen, die dem Recht auf freie Meinungsäußerung den Status eines Grundrechts einräumen, darf die schlichte Möglichkeit, sich zu äußern – und ich meine stets politische Äußerungen – nicht verlorengehen. Meinungen müssen als Meinungen an und für sich zunächst wenigstens geduldet werden, und dieses Dulden muß den Eliten solcher Länder ein verteidigungswertes Gut sein. Mit anderen Worten: Es muß unter den Meinungsführern und Meinungsmachern ein Ethos der Anstrengungsbereitschaft und Redlichkeit beim Zuhören, Durchdenken und Revidieren vorhanden sein.

Denn das, was sich ein politisches System wie das unsrige stets zugute hält, ist ja das Finden der vermittelnden Formulierungen aus dem ununterbrochenen Redestrom des millionenzüngigen Souveräns. Daß daraus etwas werde, ein Staat sich entwickle, ein Volk seinen Weg formuliere: Das ist die Idee hinter dem Ganzen, die Grundvoraussetzung der auf Dialog und Wortmeldung fußenden parlamentarischen Demokratie. Sie hat ihr spezifisches Pathos – wenn überhaupt irgendwo – dort, wo sich einer erhebt und der Mehrheit widerspricht, die ihm während seiner Wortmeldung ruhig zuhört und sein „Nein“ zunächst als völlig legitimes Verhalten würdigt.

Die Anstrengungsbereitschaft und Redlichkeit des Zuhörens, Durchdenkens und Revidierens ist den Meinungsführern in Deutschland abhanden gekommen. Es besteht Konsens darüber, in welchem Fahrwasser man zu rudern hat. Zwar wird der Souverän, das Volk, stets und ständig aufgefordert, sich zu äußern oder den Äußerungen der Meinungsmacher in den ungezählten talkshows zu lauschen. Aber dieser Dauer-Diskurs plätschert in engem Kanal dahin, und für unschicklich gilt, mit einer Äußerung die Zuhörer wirklich zu erschüttern und um die Sicherheit ihres anstrengunsglos konformen Denkens zu bringen. Dabei ist doch die Anstrengungsbereitschaft und Redlichkeit im Diskurs, das Aushalten der anderen Meinung die Idee des Systems.

Vor allem die Institutionen der Medien haben darüber zu wachen, daß die Anstrengungsbereitschaft und Redlichkeit der andauernden demokratischen Meinungsfindung nicht erlahmt. Natürlich ist es einfacher, unbequeme Stimmen von vornherein gar nicht zur Äußerung kommen zu lassen. Das ist bequemer, das ist einfacher als die Auseinandersetzung. Aber es ist gleichzeitig das Ende der Idee vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und damit die hausgemachte Bedrohung eines politischen Systems, das aus dem Schutz dieses Grundrechts nicht zuletzt mit historischen Argumenten seine Daseinsberechtigung ableitet.

Ein Allgemeinplatz ist, daß jeder meinen kann und darf, was er will. Die Gedanken sind frei! Aber auch die Freiheit der Meinungsäußerung ist – von wenigen sittlichen und historischen Einschränkungen abgesehen – in Deutschland durchaus gewährleistet. Beides jedoch, das „Meinen“ und das „Äußern-Können“ bleibt politisch nutzlos, wenn dem Machtlosen nur die stille Kammer oder das politische Hinterzimmer als Ort der freien Rede bleibt. Entscheidend für die Beurteilung des politischen Klimas und der Ernsthaftigkeit demokratischen Selbstverständnisses ist nämlich, ob die Äußerung dessen, was man meint, in einen fairen Wettbewerb um die Gunst des Publikums eintreten kann. Und dieses „Publikum“ ist ja kein Basar-Besucher, sondern wiederum der Souverän: das Volk, das man sich mündig, interessiert und zu politischer Differenzierung befähigt vorstellen sollte, um nicht ganz zu verzweifeln.[1]

[1] Eine Aussage ist wahr oder falsch, richtig oder unhaltbar – zumindest mehr oder weniger und selten in reiner Gestalt. Der Sprecher spielt erst in zweiter Linie eine Rolle. Deswegen habe ich diese Worte erst wirken lassen wollen, bevor ihre Quelle benannt wird, denn der Name polarisiert.
Ich stelle mir vor, die obigen Sätze an Freunde und Bekannte zu senden, die sich politisch anders positionieren – was kein Problem ist – sich jedoch immer wieder verweigern, Texte zu lesen oder Diskussionen zu folgen, die von „verbrannten“ Protagonisten stammen, also von Männern und Frauen, denen man ein Label der Gefährlichkeit aufgeklebt, die man gebrandmarkt, die man vom Diskurs ausgeschlossen, denen man einen saftigen Wikipedia-Artikel angehängt hat… Und ich nehme an, daß jene Freunde und Bekannten der ausgesprochenen Idee nicht widersprochen, ihr vielleicht sogar begeistert zugestimmt hätten … vorausgesetzt, sie entstammen nicht der falschen Feder. Hätte ich den Namen Götz Kubitschek gleich zu Beginn genannt, dann wäre die Aufnahme des Sinns dieser Zeilen ganz sicher beeinträchtigt gewesen. Er schrieb sie in dem wenig bekannten Buch „20 Jahre Junge Freiheit“ im Jahre 2006 auf den Seiten 70-74. Wer an ihnen etwas auszusetzen hat, der soll es tun, ohne den Namen des Autors ins Spiel zu bringen.

siehe auch: Flaggschiff „Junge Freiheit“

Denkanstöße – Enzensberger

Ein Gedanke zu “Die Redlichkeit des Zuhörens

  1. Fuzzer schreibt:

    Hatte kürzlich eine Diskussion mit Flat-Earthlern. Nach mit einfachem Pythagoras und etlichen Sinnen nachvollziehbaren, für sie nicht widerlegbaren Beispielen war die Erziehung in „engen Korridoren“ dann der Grund, einfach mainstream, und überhaupt bäh.

    Wenn man allgemeineren grundlegenden Erkenntnissen wie hier aus Naturwissenschaften und elementarster Mathematik und nicht nur ein paar Personen solche Marken anhängen kann und darüber vollständige inhaltliche Immunisierung und Ignoranz gepflegt wird und wenn das v.a.D. in zunehmend signifikanter Menge passiert, dann geht nach Gerd Held „etwas zu Ende“.

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