Niemandes Diener sein

Eine der interessantesten und abgründigsten Figuren in Albert Wass‘ großem Roman „Die Hexe von Funtinel“ ist Tóderik, der Einzelgänger, der als Fremder zusammen mit dem kleinen blonden Mädchen Nuca – die man für seine Tochter hält – in das abgelegene Tal in den siebenbürgischen Bergen kommt. Man weiß nichts über ihn, er ist unglaublich wortkarg, sagt nur das Allernotwendigste und auch das mit einem aufrechten, fast herrischen Ton, so daß die Bewohner des Dorfes nicht wissen, wie sie sich zu ihm verhalten sollen. Dann baut er auch noch ein vollkommen rundes Haus ohne einen einzigen Nagel darin … die beiden werden schnell zum Mythos.

Wass Albert: A funtineli boszorkány - moha olvasó-NAPLÓJA

Eines Tages wird er von der Herrschaft zur Bärenjagd befohlen. Er geht widerwillig und reiht sich in die Treiber ein. Doch die Jagd ist nicht erfolgreich. Der alte Waldhüter weiß keinen Rat: wo sind die Bären? In seiner kargen Art brummt Tóderik etwas, daß sie dort und dort seien und aus diesem oder jenem Grund. Die Menge lacht über den Sonderling, aber der Herr verlegt die Jagd an die besagte Stelle und bald läuft ihm ein kapitaler Bär vor die Flinte.

Wieder kann Tóderik sein Können zeigen. Blitzschnell enthäutet er das große Tier, wie immer nahezu wortlos. Man sieht ihm seine Meisterschaft an, jeder Handgriff sitzt, das Fell ist vorbildlich abgezogen.

Aber auch der Herr, der „König der Berge“, wie man ihn ehrfurchtsvoll nennt, ist ein harter Knochen. Was er sagt, das hat Gewicht, denn er sagt nur selten etwas und auch nur dann, wenn es etwas zu sagen gibt.

Und vor allen Leuten aus dem Dorf, vor den Männern, die Tóderik als Treiber an der Seite standen, und vor den Augen und Ohren des alten Waldhüters Mitru macht der Herr dem Sonderling ein unfaßbares Angebot: er könne bei ihm Waldhüter werden. Den Männern steht der Mund offen. Eine bessere Stellung kann man sich nicht wünschen, umso mehr, als Tóderik ein Habenichts ist, der sich mit ein paar Fellverkäufen im Winter durchschlagen muß. Als Waldhüter aber darf er öffentlich ein Gewehr tragen, darf legal jagen, was er will, bekommt Deputat an Maismehl und Pálinka, dazu ein üppiges Handgeld … sein Leben ist gemacht. Der Neid frißt an den anderen, daß ausgerechnet dieser Fremde eine solch exzellente Stellung bekommt.

Aber dann geschieht das Unvorstellbare – Wass hat diese Szene, neben anderen, eingebaut, um uns ein Bild von diesem Manne zu geben. Tóderik lehnt ab! „Danke, mein Herr. Ich werde nirgendwo hingehen.“, sagt er. Den Umstehenden stockt der Atem, bevor sie über ihn herfallen und schelten und belehren: „Hast du nicht gehört, du Narr?! Zum Waldhüter, bewaffneten Waldhüter ernennt dich der gesegnete wohlgeborene Herr! Tóderik zuckte erneut nur mit der Schulter und sah zum Herrn auf, direkt in die Augen.“ Das ist ein Ding zwischen den beiden, von dritten lassen sie sich nicht hineinreden. Immerhin findet Tóderik ein paar Worte:
„Verzeih, mein Herr, ich glaube, du hast viel Wald, und du bist ein großer Herr. Aber ich war in meinem Leben noch nie der Diener eines anderen und werde es auch nie sein. Nun. Sei deswegen nicht wütend, aber so ist es nun mal.“

Noch einmal schauen sie sich ins Auge, dann akzeptiert der Herr, läßt Tóderik aber die Tür offen, er könne jederzeit kommen und den Posten erhalten. Man sollte annehmen, daß nur Tóderiks feste, bestimmte, männliche Art ihn vor einer Katastrophe gerettet hat, denn der Herr ist als streng bekannt, findet hier aber, in diesem Mann aus dem Volk, einen gleichwertigen Widerpart.

Hier können wir Tóderik verlassen, der sich nun weiter den Vorwürfen der Umstehenden ausgesetzt sieht und ihnen schließlich eine kurze Strafpredigt hält, die alle verstummen läßt.

Wass Albert: A funtineli boszorkány - Első könyv | könyv | bookline

Was fortdauert, ist der Gedanke, unabhängig und frei zu bleiben. Und wenn man an dieser Stelle innehält und sein eigenes Dasein reflektiert, dann kann man schnell erschrecken. Wie abhängig wir doch sind! Als Gesellschaft – wir merken das gerade in energetischen Hinsichten – und als Individuen. Die moderne Gesellschaft hängt an tausend Fäden, Bedingungen für ihr Funktionieren. Schneide einen hindurch und schnell kann alles zusammenbrechen: Strom, Brennstoffe, Treibstoffe, Rohstoffe, Plastik, Halbleiter, Unterseekabel, Medikamente, Wahrheit usw. usf.

Aber erst das Individuum!

Deshalb habe ich schon vor Jahr und Tag entschieden, mich mindestens von drei Dingen nicht abhängig zu machen: Fernseher, Auto, Mobiltelefon. Keines davon besitze ich. Meine Fahrerlaubnis ließ ich schon vor Jahrzehnten auslaufen und ich könnte auch gar kein Auto mehr steuern.

Mir ist bewußt, daß dies ein heikles Thema ist, denn viele Menschen empfinden im partiellen Verzicht – um den es nicht einmal geht, sondern nur um die Nicht-Nutzung – einen inhärenten Vorwurf oder sie halten meinen Entscheid für arrogant oder sie werfen mir vor, nicht konsequent zu sein und gleich auf alles zu verzichten … Sie sagen mir: du kannst dir das nur leisten, weil … Ja, das ist richtig. Aber dieses „weil“ gibt es nur, weil ich so bin, wie ich bin, deshalb haben sich diese Bedingungen so und so ergeben.

Dann sagen sie: aber ich brauche das Auto, weil ich in Stuttgart oder Hamburg oder manchmal auch nur 30 km entfernt arbeiten gehe. Ich sage: Du arbeitest in Stuttgart oder Hamburg, weil du ein Auto hast. Hättest du keines, würdest du hier irgendwo arbeiten und vielleicht – wie ich – deine Wege mit dem Fahrrad bewältigen.

Ich will auch niemanden bevormunden. Nicht jede Autofahrt ist ein Problem. Die Bio-Bäuerin, die ihre seltenen Salate in die Stadt zum Markt fährt, tut gut daran; der Verleger eines exklusiven Verlages kann sein wichtiges Geschäft ohne Wagen nicht bewältigen, der Chirurg muß früh in die Klinik vor der Stadt usw. Aber ob der Elektriker oder Maurer oder Buchhalter wirklich vierhundert Kilometer fahren muß, um ein paar hundert Euro mehr zu verdienen – dafür aber mit Lebenszeit und Beziehungsproblemen zu bezahlen –, ist eine andere Frage … die ich nur stellen will, die ich nicht urteilend beantworten will.

Ebenso das Handy. Schon das Telefon war ein äußerst fragliches Ding – ich benutze es nur mit Widerwillen und hasse es vor allem, angerufen zu werden, nicht zu wissen, wer wann was von mir will, bereit sein zu müssen, durch den schrillen Ton aus dem Leben gerissen zu werden. Das Telefon ist wie früher das Telegramm: wenn es kommt, kann es nur eine Hiobsbotschaft beinhalten, mindestens aber eine Belästigung.

Das Smartphone ist nun eines der schlimmsten Geräte, die sich Menschen je angetan haben. Darüber muß man nicht viele Worte verlieren, es genügt die Jugend im dauergebückten Modus zu sehen. Sicher, es heißt immer wieder: verantwortungsvoll nutzen, die Vor- und Nachteile abwägen, sinnvoll einsetzen …

Das ist Gerede! Die Technik hat eine innere Tendenz, sich in jeder Hinsicht zu verwirklichen. Wir Menschen sind schwache Wesen, der Bildschirm hingegen stark, er ermüdet nie. Wenn er aufflackert, wenn es piept und sogar, wenn es nicht piept oder gerade deswegen, dann rennen wir, schauen wir, sorgen wir uns. Mütter behaupten, sie machten sich weniger Sorgen, wenn ihr Kind sich alle paar Minuten meldet; das Gegenteil ist der Fall: sie sorgen sich jetzt im Minutentakt.

Aber jeder nach seiner Façon. Ich will nicht agitieren, es geht mir auch nicht vordergründig um die Ökologie, die freilich ein bedeutendes Thema ist – hier geht es um die Unabhängigkeit, die Freiheit. Ein Tóderik werden! Daß ich keiner bin und auch nie einer sein werde, mache man nicht zum Vorwurf. Man nutze seine Zeit besser, um obige Geschichte zu durchdenken.

Wass Albert: A Funtineli Boszorkány. Budapest 2011 (1959)

13 Gedanken zu “Niemandes Diener sein

  1. Skeptiker schreibt:

    „Ebenso das Handy. Schon das Telefon war ein äußerst fragliches Ding – ich benutze es nur mit Widerwillen und hasse es vor allem, angerufen zu werden, nicht zu wissen, wer wann was von mir will, bereit sein zu müssen, durch den schrillen Ton aus dem Leben gerissen zu werden. Das Telefon ist wie früher das Telegramm: wenn es kommt, kann es nur eine Hiobsbotschaft beinhalten, mindestens aber eine Belästigung.

    Das Smartphone ist nun eines der schlimmsten Geräte, die sich Menschen je angetan haben.“

    Wie halten Sie es hinsichtlich Kontakt mit Freunden, Bekannten, Verwandten – nur handschriftliche Briefe, Postkarten …?

    Seidwalk: Pflege nur sehr wenige Kontakte. Die dann via Mail und gelegentlich in persona. Muß nicht ständig deren Befindlichkeiten wissen und teile auch meine selten. Natürliche Abneigung gegen jede Form leeren Geredes. Selbstkritisch stelle ich immer wieder fest, daß ich trotzdem viel zu viel Zeit vor Bildschirmen verbringe (Computer, Tablet), allerdings weniger zur „Kommunikation“, mehr zur Information und Produktion. Aber auch diese sind fragwürdig, bin mir dessen bewußt.

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    • Pérégrinateur schreibt:

      @Seidwalk: Nachtgedanken eines Dichters.

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      Charles Baudelaire

      Petits poèmes en prose

      X

      À UNE HEURE DU MATIN

      Enfin ! seul ! On n’entend plus que le roulement de quelques fiacres attardés et éreintés. Pendant quelques heures, nous posséderons le silence, sinon le repos. Enfin ! la tyrannie de la face humaine a disparu, et je ne souffrirai plus que par moi-même.

      Enfin ! il m’est donc permis de me délasser dans un bain de ténèbres ! D’abord, un double tour à la serrure. Il me semble que ce tour de clef augmentera ma solitude et fortifiera les barricades qui me séparent actuellement du monde.

      Horrible vie ! Horrible ville ! Récapitulons la journée : avoir vu plusieurs hommes de lettres, dont l’un m’a demandé si l’on pouvait aller en Russie par voie de terre (il prenait sans doute la Russie pour une île) ; avoir disputé généreusement contre le directeur d’une revue, qui à chaque objection répondait : « — C’est ici le parti des honnêtes gens, » ce qui implique que tous les autres journaux sont rédigés par des coquins ; avoir salué une vingtaine de personnes, dont quinze me sont inconnues ; avoir distribué des poignées de main dans la même proportion, et cela sans avoir pris la précaution d’acheter des gants ; être monté pour tuer le temps, pendant une averse, chez une sauteuse qui m’a prié de lui dessiner un costume de Vénustre ; avoir fait ma cour à un directeur de théâtre, qui m’a dit en me congédiant : « — Vous feriez peut-être bien de vous adresser à Z… ; c’est le plus lourd, le plus sot et le plus célèbre de tous mes auteurs, avec lui vous pourriez peut-être aboutir à quelque chose. Voyez-le, et puis nous verrons ; » m’être vanté (pourquoi ?) de plusieurs vilaines actions que je n’ai jamais commises, et avoir lâchement nié quelques autres méfaits que j’ai accomplis avec joie, délit de fanfaronnade, crime de respect humain ; avoir refusé à un ami un service facile, et donné une recommandation écrite à un parfait drôle ; ouf ! est-ce bien fini ?

      Mécontent de tous et mécontent de moi, je voudrais bien me racheter et m’enorgueillir un peu dans le silence et la solitude de la nuit. Âmes de ceux que j’ai aimés, âmes de ceux que j’ai chantés, fortifiez-moi, soutenez-moi, éloignez de moi le mensonge et les vapeurs corruptrices du monde, et vous, Seigneur mon Dieu ! accordez-moi la grâce de produire quelques beaux vers qui me prouvent à moi-même que je ne suis pas le dernier des hommes, que je ne suis pas inférieur à ceux que je méprise !

      ――――――――――――――――

      Charles Baudelaire

      Kleine Prosagedichte

      X

      UM EIN UHR IN DER NACHT

      Endlich allein! Man hört nurmehr das Rollen einiger später und heruntergefahrener Mietskutschen. Während einiger Stunden gehört uns nun die Stille, wenn nicht sogar die Ruhe. Endlich! Die Tyrannei des menschlichen Antlitzes ist verschwunden, nun leide ich nur noch an mir selbst.

      Endlich! Ich kann mich jetzt entspannen in einem Bad aus Düsternis! Zunächst, zweimal den Schlüssel umgedreht. Mir scheint, diese Drehung vergrößert noch meine Einsamkeit und verstärkt noch die Barrikaden, die mich jetzt von der Welt trennen.

      Ein schreckliches Leben! Eine schreckliche Stadt! Fassen wir den Tag zusammen: mehrere Menschen getroffen, von denen einer mich fragte, ob man zu Lande nach Russland kommen könne (er hielt Russland wohl für eine Insel); reichlich gegen den Direktor einer Zeitschrift argumentiert, der auf jeden Einwand antwortete „Wir hier sind die Partei der Anständigen“, woraus folgt, dass alle anderen Zeitschriften von Halunken redigiert werden; Stücker zwanzig Personen gegrüßt, von denen mir fünfzehn unbekannt sind; im selben Maße Handschläge gegeben, und das ohne die Vorsichtsmaßregel, mir Handschuhe gekauft zu haben; während eines Platzregens um mir die Zeit zu vertreiben mit einer Zirkusartistin hochgegangen, die mich bat, ihr ein Venustra-Kostüm zu zeichnen; einem Theaterdirektor den Hof gemacht, der mir beim Abschied sagte „Sie täten vielleicht gut daran, sich an Z… zu wenden, er ist der schwerfälligste, dümmste und berühmteste meiner Autoren, mit ihm könnte Ihnen vielleicht etwas gelingen. Suche Sie ihn auf, wir sehen dann“; mich (warum eigentlich?) einiger Gemeinheiten gerühmt, die ich nie begangen habe, und feige einige andere Untaten abgestritten, die ich mit Wonne begangen habe, Aufschneiderei, Verbrechen der menschlichenn Respektlosigkeit; einem Freund einen leichten Dienst abgeschlagen und einem völligen Narren ein Empfehlungsschreiben gegeben; oh, ist das jetzt alles?

      Unzufrieden mit allen und mit mir selbst, würde ich gerne abbüßen und ein wenig in der Stille und Einsamkeit der Nacht stolz sein. Ihr Seelen derer, die ich geliebt habe, derer, die ich besungen habe, stärkt mich, unterstützt mich, entfernt von mir die Lüge und die verderblichen Dünste der Welt, und Ihr, Herr mein Gott, gewährt mir die Gnade, einige schöne Verse zu verfassen, die mir selbst beweisen, dass ich nicht der letzte der Menschen bin, dass ich nicht unter denen stehe, die ich verachte!

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    • Fuzzer schreibt:

      Fernseher, Auto, Mobiltelefon
      1. Habe ich seit 1995 nicht mehr. Letzte Sendung „Space Night“, letzte mit näherem Inhalt: Glenn Gould erklärt Bach.
      2. Projektbetrieb, Montag früh hin, Freitag zurück. Das wollen Sie nicht mit dem Zug, speziell wenn das Ziel noch extra in der Pampa liegt… Geht den Elektrikern und Maurern übrigens auch nicht anders, ich habe die in der Familie und auch zeitweise (s.o.) in ihren Unterkünften genächtigt. Zweites Teilthema: Längeres Wohnen auf dem Land. Holz ist zu fahren, Ziele verschiedener Art in machbarer Zeit zu erreichen. Können Sie natürlich auch einmal längere Zeit mit dem Lastenfahrrad versuchen.
      3. Kartenmaterial im Gelände, Autonavigation und na ja, Telefonieren. Auch ganz hilfreich, wenn man für alte Eltern erreichbar sein will oder muß und das Festnetz einfach weiterleiten kann. Mehr nicht, Versuche mit wissenschaftlicher Literatursammlungen scheiterten letztlich auch bei Zeit dafür am winzigen Bildschirm. Zum Rest unten mehr.
      Das ist alles extrem subjektiv. Regeln gibts nicht, je mehr verschiedene Lebensweisen man vom Grund her kennenlernt.

      Wie kommt man aus Maßlosem raus? 1. zeigt einen Ansatz. Fernsehen wurde simpel langweilig, es gab nichts mehr zu sehen. Netze sind trickier, die Angriffsvektoren zahlreicher und subtiler. Zumal wenn man aus einer Zeit kommt, in der die Vorteile klar überwogen. Zusatzeffekte wie das in der Wurzel schon im Hypertext liegende Problem nichtlinearer Informationsverarbeitung mit den inzwischen gut bekannten Folgen für Mittel- und Langzeitgedächtnis plus die mittlerweile normal gewordene gezielte Ausbeutung dieser Schwächen durch große professionelle Akteure erschweren das. Ja, systematischer Anteil hier, nicht einfach zu lösen. Aber möglich, Hauptweg – immer – Umkehr des Weges. Schreiben statt Lesen (auch dessen interpretierende Varianten sind zu wenig), Bauen statt Ansehen. Kann man in ihren spezifischen Themen auch Kindern gut vermitteln, der Ausgang des Prozesses bleibt natürlich lange offen. Letztlich stirbt aber der ganze Unsinn an eigenem Schaffen. Gilt explizit auch fuer die „alternativen Medien“. Die stehen auf der Stelle, die wesentlichen Informationen verpasst man nicht, die kommen eh eher ungefragt. Ich bin immer mehr raus dahingehend, fasst sich gut an. Auch diese sind meist nur noch Teil des Problems.

      Nebenbei haben und hatten auch Bücher schon dasselbe Problem wie das gerade Beschriebene. Wiederkäuen anderer Gedanken unter Auflösung der eigenen Strukturen bis hin zu krankhaften neurologischen Ergebnissen gab es immer.

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  2. Nordlicht schreibt:

    Betr. „Technik hat einen inneren Drang, sich in jeder Hinsicht zu verwirklichen.“

    Als Ingenieur sehe ich das anders. In dem Satz steckt eine Vermenschlichung von Dingen ohne Leben, ja eine Dämonisierung. Das hörte ich öfters von Kollegen, die Soziologie oder Politik studiert haben. Ihr Menschenbild ist ein mißtrauisches.

    Technik lebt nicht, Technik „verwirklicht“ sich nicht. Technik ist ein Werkzeug, nicht mehr.

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    • Vielleicht ist der „Drang“ ein zu harter Begriff, vermutlich klingt „Tendenz“ besser. Ich werde das übernehmen.

      Davon abgesehen müßten Sie in der Lage sein, uns eine Technik zu benennen, die zwar funktioniert hat und auch gewisse Vorteile mit sich brachte, aber nie in Anwendung kam, weil die Menschen die schadhafte Seite der Entwicklung wahrnahmen.

      Ich bleibe also dabei: wer ein Auto hat, der fährt; wer ein Handy hat, der glotzt drauf. Ansonsten müßte er es ja nicht haben, ja man könnte sogar sagen, daß es sich zwar um einen starken Charakter handeln könnte, der Mensch jedoch ziemlich dumm ist, wenn er sich eine Technik zulegt, die er nicht benutzt.

      Ich erinnere gern an Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland – darin steht:

      Dsi Gung war im Staate Tschu gewandert und nach dem Staate Dsin zurückgekehrt. Als er durch die Gegend nördlich des Han-Flusses kam, sah er einen alten Mann, der in seinem Gemüsegarten beschäftigt war. Er hatte Gräben gezogen zur Bewässerung. Er stieg selbst in den Brunnen hinunter und brachte in seinen Armen ein Gefäß voll Wasser herauf, das er ausgoß. Er mühte sich aufs äußerste ab und brachte doch wenig zustande.

      Dsi Gung sprach: „Da gibt es eine Einrichtung, mit der man an einem Tag hundert Gräben bewässern kann. Mit wenig Mühe wird viel erreicht. Möchtet Ihr die nicht anwenden?“

      Der Gärtner richtete sich auf, sah ihn an und sprach: »Und was wäre das?« Dsi Gung sprach: „Man nimmt einen hölzernen Hebelarm, der hinten beschwert und vorn leicht ist. Auf diese Weise kann man das Wasser schöpfen, daß es nur so sprudelt. Man nennt das einen Ziehbrunnen.“

      Da stieg dem Alten der Ärger ins Gesicht, und er sagte lachend: „Ich habe meinen Lehrer sagen hören: Wenn einer Maschinen benützt, so betreibt er all seine Geschäfte maschinenmäßig; wer seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt, der bekommt ein Maschinenherz. Wenn einer aber ein Maschinen­herz in der Brust hat, dem geht die reine Einfalt ver­loren. Bei wem die reine Einfalt hin ist, der wird ungewiß in den Regungen seines Geistes. Ungewißheit in den Regungen des Geistes ist etwas, das sich mit dem wahren SINNE nicht verträgt. Nicht daß ich solche Dinge nicht kennte: ich schäme mich, sie anzuwenden.“

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      • Pérégrinateur schreibt:

        Wieso verzichtet der alte Mann denn nicht auch auf die Produkte der Keramik? Er hat doch wohl zwei Hände, die er hohl zusammenlegen kann.

        Seidwalk: Genauso hatte es Diogenes der Kyniker gemacht:

        „Als er einmal ein Kind sah, das aus den Händen trank, riß er seinen Becher aus seinem Banzen heraus und warf ihn weg mit den Worten: „Ein Kind ist mein Meister geworden in der Genügsamkeit.“ Auch seine Schüssel warf er weg, als er eine ähnliche Beobachtung an einem Knaben machte, der sein Geschirr zerbrochen hatte und nun seinen Linsenbrei in der Höhlung eines Brotstückes barg.“ (Diogenes Laertius VI, 37)

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        • Pérégrinateur schreibt:

          Nichts gegen den alten Kyniker; ich selbst trinke zu Hause immer direkt aus den sicher wiederverschließbaren 1,5-Liter-Aldiflaschen mein Brausewasser und zum Zähneputzen tut es auch die hohle Hand unterm Hahn. (Ersteres übrigens, seit ich gesehen habe, wie ein Arbeitskollege zwei Tastaturen kurz nacheinander mit verschüttetem Getränk ruiniert hatte.)

          Für die eigene Tränkung reichen die Handschalen durchaus, aber für die Wässerung eines Feldes sind sie nun mal untauglich. Und für das Zurück zur Natur, also jeder sein eigener Subsistenzbauer, sind wir hierzulande schon viel zu dicht bevölkert. Das schlagende Argument zuletzt, ein religiöses (also Vorsicht, denn dieses anzugehen würde selbstredend meine tiefsten Gefühle verletzen und jegliches „Ausrasten“ rechtfertigen): Ich bin Anhänger des promethischen Glaubens.

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          • Will man die alte chinesische Geschichte richtig verstehen und für das Heute nutzbar machen, darf man natürlich nicht die Zeit außer Acht lassen, in der sie entstanden ist, denn nur dann begreifen wir das Problem, das Dschuang Dsi 350 v.u.Z. angehen wollte. Es ist eine Antwort auf die ur-taoistische Frage nach dem Beginn des Irrweges: wo ist der Mensch falsch abgebogen? Wo liegt die Ursünde, im christlichen Vokabular. Wir befinden uns dort im Reich der Aporien, wie das Laotse selbst ausgedrückt hat: „verloren ging das große Dau – güte und rechtschaffenheit entstand – hervortrat die klugheit – die große heuchelei entstand – zerrissen war die sippe – der familiensinn entstand – in wirrnissen zerfiel der staat – der treue minister entstand“. Darin werden alle positiven Werte – Güte, Rechtschaffenheit, Klugheit, Familiensinn, treuer Minister – als Produkte einer ersten Entartung kenntlich gemacht. All dies wird erst notwendig, wenn der als vollkommen gedachte Urzustand beschädigt ist: das große Dau. Es sind Schwundstufen menschlichen Seins.

            Auch in vielen Gedanken Konfuzius‘ klingt das noch an – hier nur ein Bsp.: „“Wenn dich der Fürst von Wei bitten würde, die Regierung zu übernehmen, was würdest du zuerst beginnen?“ „Zuerst“, antwortet der Meister, „müssen die Begriffe richtig bestimmt werden. Wenn die Begriffe nicht richtig bestimmt sind, stimmen die Aussagen nicht mit den Tatsachen überein; wenn die Aussagen nicht mit den Tatsachen übereinstimmen, sind die Geschäfte schlecht zu führen; wenn die Geschäfte schlecht zu führen sind, gedeiht keine Ordnung und Harmonie; wenn keine Ordnung und Harmonie gedeiht, wird Gerechtigkeit zu Willkür; wenn Gerechtigkeit zu Willkür wird, weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen.“ Die Suche nach der ersten Entartung – Konfuzius ist freilich schon ein legitimes Kind dieser.

            Dschuang Dse lebte zwar nach ihm, ist jedoch Laotse geistig näher. Er macht den Urmoment mit der technischen Sünde aus, denn sie bringt das „Maschinenherz“. Wir können ihn also nicht mit späteren Bewässerungsprojekten und Zwängen kritisieren, weil sein Weiser diese Zwänge noch gar nicht kannte oder noch ablehnen konnte. Er war noch ein Vertreter des Wu Wei. Demnach ist die „Bearbeitung“ des Wassers mit anderen als natürlichen Mitteln schon ein Frevel. Inwieweit das Wu Wei in einer laufenden Megamaschine anwendbar ist oder ob es nicht zu katastrophalen Folgen führen muß, ist eine gute Frage …

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            • Pérégrinateur schreibt:

              Ach, diese Mythen einer harmonischen Urzeit! Wie heißt es doch in der Vie de St. Alexis im 11. Jahrhundert:

              Bons fut li siecles al tens ancienor,
              Quer feit i ert e justise et amor,
              Si ert credance, dont or n’i at nul prot ;
              Toz est mudez, perdude at sa color :
              Ja mais n’iert tels com fut als ancessors.

              ――――――――

              Gut war die Welt zu früherer Zeit,
              Als es noch Glauben gab und Gerechtigkeit und Liebe,
              Wohl konnte man [Menschen] glauben, aber davon ist nichts übrig ;
              Alles ist verändert, hat seine Farbe verloren :
              Niemals mehr wird es sein, wie es bei den Ahnen war.

              ――――――――

              Die Vergangenheit wird immer verklärt. Was für eine schöne Zeit das doch war, als noch 15–40 % der Männer eines gewaltsamen Todes starben, die Frauen geraubt wurden und früh im Kindbett starben! Wir sind falsch abgebogen? Geradlinig weiter vorwärts zu wäre es noch übler gewesen! Man wünscht sich eben die Rose Zivilisation ohne die Dornen nichtfamilialer, gefühlslos-sachlicher Beziehungen und vergisst darüber Hunger, Krankheit, Gewalt und die anderen frühgeschichtlichen apokalytischen Reiter. Die Ambivalenz des Lebens in modernen Gesellschaften wird schlecht vertragen, und man sieht nicht die Waagschale mit den Vorteilen, die nun mal ohne (vergleichsweise eher geringe) Nachteile nicht zu haben sind.

              Ich habe die Gesindezimmer auf dem kleinbäuerlichen Hofe meines Ururgroßvaters gesehen: 4 m² große Lattenverschläge unterm blanken Ziegeldach, ungeheizt, mit gerade mal Platz für ein Bett und ein Truhe mit Kleidern, die man übrigens hundert Mal geflickt und fleißig vererbt hat, weil das damals Wertgegenstände waren. Dazu dann noch die Schikanen der Bauersfrau gegenüber den zu hübschen Mägden, die nach Meinung des Hausherrn wiederum auch nicht tanzen zu gehen brauchten, „denn das könnt ihr auch hier im Haus haben“.

              Ich habe solche naturwüchsigen Verhältnisse noch selbst erlebt in Gestalt einer auf dem Hof gebliebenen Schwester meines Großvaters, die ihr Lebtag lang schwer gearbeitet hat, ganz schief und krumm war, sich alles vom Munde abgespart hat und der man am Schluss noch aufschwatzen wollte, wem sie am besten ihr Sparbuch mit 10 oder 20.000 Mark vererben müsse. Ihre schönste Zeit hatte sie während der fünf Jahre langen tödlichen Krankheit, als sie im Pflegeheim lebte und sich ganz verwundert zeigte über die Sorge, nit der man sie dort behandelte.

              Ich weiß nicht, ob Sie ein Stadtkind sind. Solche machen sich oft sehr verkehrte Vorstellungen vom „heimeligen“ Land. Lesen Sie die auf dem Lande spielenden Romane von Marcel Aymé, diese zeigen ein treffendes, nichtromantisiertes Bild mit der nötigen Ambivalenz. (Seine anderen Bücher sind übrigens auch nicht gerade schlecht.)

              ――――――――

              Das Wort von Konfuzius über die falschen Begriffe kannte ich schon. Es ist gewiss ärgerlich, wenn irgendwelche „Aktivisten“ einen Maaßen des Rassismus zeihen, weil er wirkliche Rassisten als das bezeichnet, was sie sind. Aber es gibt zu allen Zeiten mehr dummes Geschwätz als kluge Reden, mehr heimtückische Herabsetzung als Bemühung um die Wahrheit, siehe Schopenhauers Eristische Dialektik. Relevant ist eher, ob auch die Wahrheit gesagt werden kann.

              Denn die „Lösung“ für das von Konfuzius angesprochene Problem könnte auch die Sprachzensur der Mächtigen sein. Vielleicht wollte er ein Wokistan in Altchina?

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      • Nordlicht schreibt:

        Zu: „… wer ein Auto hat, der fährt …“

        Selbstverständlich, das ist aber etwas anders als der Satz, den ich zitierte und kritisierte. Der lautete: „Technik hat einen inneren Drang, sich in jeder Hinsicht zu verwirklichen.“

        Für Ingenieure besteht Technik aus Werkzeugen, aus materiellen Werkzeugen und aus Verfahren. Die haben keinen Drang, sondern sind tot wie Steine.

        Zur Nennung von Techniken, die trotz ihrer Vorteile wegen bestimmter Nachteile nicht genutzt werden, veweise ich auf den Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland und einigen anderen Ländern.- Ein historisches Beispiel: China ist im 15. Jh. aus der Seeschifffahrt ausgestiegen.-

        Zum Homo Faber gehört auch seine Fähigkeit, rational zu entscheiden. Wenn die Nachteile einer Technik die Vorteile überwiegen, wird diese nicht mehr genutzt. Man mag kritisieren, daß Ökonomen sehr unterschiedliche Entscheidungsaspekte ökonomisieren, d.h. in Geld bewerten, aber irgendwie muss man Vorteile und Nachteile eben bewerten, zB Zahl der Unfallopfer gegen Zeitgewinn beim Transport (- letztlich auch von Kranken, die ins Krankenhaus transpotiert werden).

        „Tendenz“ statt Drang in dem eingangs zitierten Satz kommt mir näher, aber auch mit dem „sich … verwirklichen“ kann ich nichts anfangen. Technik verwirklicht sich nicht. Selbstverständlich entwickelt Menschen mit bestimmten Techniken Verhaltensweisen, die es vorher nicht gab. Sie fliegen beispielsweise. Das verändert die Arbeitsteilung, das Freizeitverhalten, die Welt insgesamt. Die Verfügbarkeit über bestimmte Techniken erzeugt eine Eigendynamik des Systems Mensch – Technik.

        Aber ohne den Menschen wäre die Technik tot, wie gesagt. Sie verwirklicht für sich genommen nichts, auch nicht sich.

        PS Der Erzählung kann ich durchaus etwas abgewinnen. Warum die Nutzung von arbeitsvereinfachenden Werkzeugen schlecht sein soll, verstehe ich allerdings nicht.

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        • Wir sprechen hier also von einem semantischen Problem – also meinem, nicht der Sache an sich. Meine Unfähigkeit, Dinge akkurat auszudrücken, dürfen Sie nicht auf die Tatsachen attribuieren.

          Funktionierende Techniken werden dann abgewählt, wenn sie durch effizientere ersetzt werden. Ihre Bsp. sind deswegen ungenügend, weil es sich um eine politische Entscheidungen handelt. Die Chinesen werden dennoch gefischt haben, auch wenn sie ihre Flotte einmotteten und die Atomtechnik floriert wie noch nie, unabhängig davon, ob in D aus ideologischen Gründen abgebaut wird. Man könnte meine Aussage insofern konkretisieren, als der Mensch die technischen Hilfsmittel nutzt, nachdem er den taoistischen Urmoment hinter sich gelassen hat, nachdem er – biblisch – aus dem Paradies vertrieben und überhaupt erst Mensch wurde. Er könnte theoretisch anders handeln, das stimmt, und tut das in einigen wenigen Einzelexemplaren, aber seiner inneren Natur nach tendiert er dazu, die technischen Mittel zu nutzen. Insofern „verwirklicht“ sich die Technik, natürlich nicht aus sich selbst heraus – obwohl wir gerade an der Epochenschwelle stehen, wo auch das in Frage steht -, sondern braucht den menschlichen Handlanger. Wir sind dies aus unser anthropologischen Konstitution heraus. Sicher kann der Homo Faber bis zu einem gewissen Grad rational entscheiden, aber er bekommt dabei das „Faber“ nicht aus seinem Namen heraus.

          „Warum die Nutzung von arbeitsvereinfachenden Werkzeugen schlecht sein soll, verstehe ich allerdings nicht.“ – Siehe Eintrag Pérégrinateur. Ich würde eher sagen „problematisch“ Es wurden verschiedene solche Werkzeuge kenntlich gemacht. Bei Engels ist es das Feuer, das die Büchse der Pandora öffnete, bei Sloterdijk ist es einmal der Speer, das Wurfgerät, bei Arthur C. Clark ist es der Stock, es kann auch die Klinge sein etc. Die Genialität der alten Chinesen liegt darin, zu diesem frühen Zeitpunkt, als die späten Folgen noch nicht im Ansatz absehbar waren, die inhärente Gefahr erkannt zu haben. Faszinierend dabei immer, daß sie – die wir heute als den Inbegriff der Weisheit verstehen – sich auf die „alten Meister“ beriefen, mit denen sie sich selbst nie vergleichen könnten. Diese alten Meister muß man sich noch als im Dau vorstellen – ob Mythos oder nicht.

          Dahinter steckt ja immer die Frage nach dem besseren Leben. Wir nehmen für uns in Anspruch, die westliche Zivilisation als die bessere Variante zu betrachten, aber aus Sicht der „Naturvölker“ – nehmen Sie den Papalagi und dergleichen – wirkt unsere Lebensform pervers und zumindest die Folgeschäden unserer Lebensform sind doch enorm – wenn nicht gar apokalyptisch – genug, um den einfachen und alten Köpfen Gehör zu schenken.

          Nordlicht: Daß Ziel einer technischen Entwicklung ist nicht „immer mehr“, sondern „immer besser“.
          „Immer mehr“ ist das Ziel der Marketing-Leute, der Finanz-Leute, auch der Politiker, die mit Konsummengen Wähler beeindrucken wollen

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