Der neue Mensch …

… saß neulich bei uns am Tisch. Wir kannten ihn als Adoleszenten, jetzt geht er auf die 40 zu. Das Haar wird schütter, seine schlanke Gestalt hat er verloren, aber von seiner Schnelligkeit, seiner Quecksilbrigkeit ist nichts dahin. Schon damals ragte er als Sohn eines singhalesischen Wissenschaftlers und einer deutschen Mutter im englischen Herzland aus der Menge heraus. Man sieht ihm die indische ethnische Herkunft deutlich an. Nach Jahren in Südafrika, mehreren Orten in Westdeutschland und England, hatte es ihn nun in den Osten verschlagen. Aber auch nur für kurze Zeit, denn nun geht es weiter und zuvor wollte er noch mal bei uns vorbeischauen.

Seine Sprache bringt er im Stakkato hervor. Sie besteht aus deutschen und englischen Sprachfetzen. Ununterbrochen wechselt er von einer in die andere Sprache, aber nicht etwa themen- oder absatzweise, nein mitten im Satz wechselt die Sprache rasend schnell hin und her, mal in kurzen, mal in längeren Passagen, ein System ist nicht zu erkennen.

Der junge Mann ist überaus intelligent und gebildet, hatte mehrere Studien absolviert, mit einer Promotion abgeschlossen, meist ging es um wirtschaftliche Dinge aber ein Geschichtsstudium war auch dabei. Sofort ruft er „Nem nem soha!“, als er meine Trianonkarte an der Wand entdeckt, wir unterhalten uns kurz über ungarische Geschichte, die er zu meiner großen Überraschung gut zu kennen scheint. Auch über diverse Autoren können wir parlieren, alles schnell angerissen, durchaus kein small talk, aber dann geht es auch schon zu einem anderen Thema. Er empfiehlt mir Thomas Pynchon zu lesen, lobte Tolkien als genialen Sprachkünstler – es ist just der Tag meiner Tolkienkritik – und empfindet Thomas Mann als Sprachqual … das komplette Gegenteil meiner Wahrnehmung. Immerhin können wir uns auf Thomas Hardy einigen und ich darf ihm Anthony Trollope empfehlen, wenn er schon mal was wirklich Ausgewalztes lesen will.

Das alles sind bei ihm nur Interessen. Seine erste Welt sind die Finanzen und Projekte. Auch wenn ich nicht alles verstehe, was er sagt – sprachlich, Geschwindigkeit, Thema –, wird doch so viel klar, daß er stark in Aktien investiert, ständig taktisch wechselt, immer auf das schnellste Pferd setzt, gern aufkauft, wenn der Graph am Boden ist, auch Kryptowährungen nicht scheut und derart sehr viel Geld gemacht hat.

Auch seine Arbeit scheint zu laufen. Das ist nicht so wie früher mit Beruf und fester Anstellung, nein, er ist bei Linkedin und wenn er seinen Account frei schaltet, dann strömen – so sagt er – die Aufträge nur so herein. Große Firmen – Mercedes, Siemens oder irgendeine arabische Bank – wollen Studien, Gutachten, researches, Evaluierungen, was weiß ich. In Nullkommanichts hat er sich eingearbeitet, vertieft sich ein paar Wochen komplett in das Thema, sucht im Internet, reist in der Welt herum, interviewt Leute und liefert dann 50 Seiten Papier ab, wofür er nach der Präsentation auch mal eine viertel Million abfaßt. Das viele Geld ist auch Fluch. Die Scheidung von der ukrainischen Frau kostet hunderttausende und überhaupt geht das Meiste in Deutschland an Steuern weg.

Dabei lebt er seit Jahren ein Single-Leben, kleine Wohnung, nur das Notwendigste, lebt im Grund genommen aus dem Koffer. Er könnte sich feinen Zwirn leisten, trägt aber einen alten abgewetzten Hoodie, für zehn Pfund vor Jahren bei TKMaxx gekauft.

Ich frage ihn, was Heimat für ihn bedeute, in welchem Land, in welcher Sprache er sich heimisch fühle. Da lacht er nur kurz auf. Deutschland ist es nicht, England ist es nicht, Indien ist es nicht, die Ukraine auch nicht und Südafrika ebenso wenig. Er ist ein Nomade, den es zufällig ein, zwei Jahre nach Freiberg verschlagen hatte.

Rassismus, ja, das gibt es hin und wieder hier im Osten, aber für ihn ist das kein Thema. Er will vorankommen und sich nicht von solchen Kleinigkeiten abhängig machen. Gekommen ist er übrigens mit dem Zug und reist auch am späten Abend zurück und das trotz Schienenersatzverkehrs und unsicherer Verbindungen.

Heute zuckelt er noch durch die nächtliche sächsische Pampa, aber übermorgen steigt er wieder ins Flugzeug und fliegt nach … Sofia! Ja, Sofia! Das wird sein neues Heim. Dort hat er sich eine Wohnung gekauft, dort zieht er hin. Aber warum nur? Die Rechnung ist ganz einfach. In Deutschland ist sein Vermögen in Gefahr, mehr als die Hälfte geht – alles zusammengerechnet – an den Staat. Steuer, Abgaben, Gebühren, Kosten … Er hat sich alle Länder Europas angeschaut: wo macht er den besten Schnitt und heraus kam Bulgarien. Zypern und Portugal kamen wohl auch in die nähere Auswahl, aber nichts schlägt Bulgarien, also geht es dorthin. Sicher, die Luftqualität sei katastrophal, besonders im Winter, wenn dort alle mit Öfen heizen, bekommt man im Tal der Stadt kaum Luft, aber seine Wohnung liege auf den Hügeln und der Flughafen ist auch nur ein paar Minuten entfernt. Von dort geht es in die ganze Welt – zum Spottpreis.

Ob er auch Bulgarisch lerne? Eigentlich braucht er es nicht. Arabisch wäre wichtiger, denn von dort kommen potente Kunden und ein bißchen kann er auch schon, wie überhaupt eine ganze Reihe von anderen Sprachen. Aber es wird sich wohl nicht vermeiden lassen, ein paar bulgarische Floskeln zu lernen. Gerade zu Beginn, wenn der ganze Anmeldungskram gemacht werden muß, wäre Sprachkenntnis nicht schlecht.

Wie lange will er denn in Bulgarien bleiben, wo er noch keine Menschenseele kennt? Das steht noch in den Sternen. Sorgen macht er sich keine. Die Aufträge strömen herein und auch die Wohnung ist eine gute Anlage, denn selbst in Sofia steigen die Preise langsam, aber sicher. Alles, was er benötigt, ist schon im Koffer verstaut, ein paar Klamotten, die Technik, mehr braucht es nicht. Die Freiberger Wohnung steht leer, seine letzten Reinigungsmittel hat er uns in einem Beutel noch mitgebracht, er will sie nicht wegwerfen.

3 Gedanken zu “Der neue Mensch …

  1. Fuzzer schreibt:

    Ich wollte schon etwas dazu schreiben, aber weil Sie es explizit erwähnen:

    Aber so einen komplett neuen Menschentyp, das ist neu.

    Nomaden

    Ich war einmal einer, Zweiteres ist gemeint. Kein Trinker, kein Asket, mittlerweile auch über 55, allerdings nur einmal geschieden 🙂
    So neu ist das nicht, es ist eher ein Unterschied in den zur Verfügung stehenden Mitteln, er bewegt sich da im oberen Bereich. Was Seidwalk so wie ich es lese versucht, ist eine Variation eines expliziten anywhere zu skizzieren und m.E. ist das nicht ganz der Fall. Letztere haben durchaus Bindungen, aber eben nicht an ein Land, und sind finanziell meist eine Nummer grösser und so oft auch familiär oder durch ‚Kreise‘ strukturell eingebunden, daß das für mich eines ihrer Charakteristika darstellt. Die Einzelwölfe wie der Beschriebene liegen noch etwas anders und sind eher Zuträger dieser Leute.

    Ich selbst habe mich übrigens „zurückentwickelt“. Immer noch Consultant, aber konsequent remote arbeitend mit neuer Familie inklusive Kindern und noch einmal neu eingesenkten Wurzeln.

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    • Nordlicht schreibt:

      Ja, mit den Kindern kommt die Notwendigkeit, irgendwo Wurzeln zu fassen. Einmal umziehen, das machen Kinder und Jugendliche im Schulalter mit, vor allem, wenn es in eine interessantere Gegend geht, also zB aus Deutschland nach New York oder nach Beijing. Alle zwei oder drei Jahre, das macht die Familie nicht ohne Schäden mit.

      Mit einer Partnerin allein – ohne Kinder oder nachdem sie erwachsen sind -, das geht dann schon und ist reizvoll. Eine interessante international Community als Kontakt für einige Jahre findet sich überall in den Großstädten der Welt. Für den Ruhestand (- mit einigen zu vermietenden Ferienhäusern) blieb ein Bekannter in Costa Rica, ein anderer als nicht aufhören wollender in Chile, einer in Thailand. In China bleiben wollte keiner.

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  2. Nordlicht schreibt:

    Erstaunlich, so ein Mensch. Daß es solche Consultants gibt, die keine lange örtliche Bindung haben, weiss ich. Aber so einen komplett neuen Menschentyp, das ist neu.

    Ich kenne zwei Typen globaler Nomaden: Die einen trinken viel, abends allein im Hotel. Die anderen sind Asketen, gehen nach den Meetings zwei Stunden in die Gym und joggen vorm Frühstück.

    Sie sind jeweils jenseits der 55 und zweimal geschieden.

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