Liest das noch jemand?

Die abendliche Routine beim Auskleiden bringt es mit sich, daß mein müder Blick jeden Abend nach links oben abschweift. Dort befinden sich zufälligerweise die Psychoanalytiker. Neben, über, vor den gesammelten Werken Freuds und Jungs stehen und liegen die Schüler, meist in billigen Taschenbuchausgaben der Verlage Kindler, Fischer und Suhrkamp. Schlägt man sie auf, dann brechen manchmal die Rücken, so billig war die Qualität, so ausgetrocknet ist das Papier. Adler, Groddeck, Reik, Rank, Neumann, Horney, Mitscherlich, Clark, Brenner, Politzer, Rogers u.a. bis hin zu Alice Miller und Gerhard Danzer müssen es nebeneinander aushalten, mögen sie sich in Leben und Denken auch spinnefeind gewesen sein im Kampf um die wahre Auslegung der Meister. Nur Wilhelm Reich steht nicht dort; er ist ohnehin viel umfangreicher vertreten, ihm gebührt ein eigener Platz, weit weg von Freud – er steht etwas unglücklich neben Hans Blumenberg, aber das ist nur der Platznot geschuldet. Weiterlesen

Vertikale Faulheit

Sándor Márai: Das Kräuterbuch LXXV

Über die Faulheit

Es gibt zwei Arten von Faulheit: die waagerechte und die senkrechte. Es gibt den Menschen, der nur in der langen Perspektive seines Lebens faul ist; in Plänen; darin, seine Entscheidungen, seine Entschlüsse hinauszuzögern; träge baut er sein Lebenswerk auf, alles baut er in die Zeit, in die weite Ferne hinein. Weiterlesen

Bildung ist eitel

Sándor Márai: Das Kräuterbuch LXXIV

Über die Bildung des Charakters

Selbstgefällig und stolz denkst du daran, ein paar Bücher gelesen und verstanden, dein Wissen vermehrt, etwas über die Natur oder die menschliche Seele gelernt zu haben. Weiterlesen

Niemandes Diener sein

Eine der interessantesten und abgründigsten Figuren in Albert Wass‘ großem Roman „Die Hexe von Funtinel“ ist Tóderik, der Einzelgänger, der als Fremder zusammen mit dem kleinen blonden Mädchen Nuca – die man für seine Tochter hält – in das abgelegene Tal in den siebenbürgischen Bergen kommt. Man weiß nichts über ihn, er ist unglaublich wortkarg, sagt nur das Allernotwendigste und auch das mit einem aufrechten, fast herrischen Ton, so daß die Bewohner des Dorfes nicht wissen, wie sie sich zu ihm verhalten sollen. Dann baut er auch noch ein vollkommen rundes Haus ohne einen einzigen Nagel darin … die beiden werden schnell zum Mythos. Weiterlesen

Sport und geistige Arbeit

Sándor Márai: Das Kräuterbuch LXXIII

Darüber, daß die Körperertüchtigung nicht immer gesund ist

Ich zum Beispiel – zugegeben, bereits im Erwachsenenalter – frönte mit großer Lust dem Schwimmen und dem Tennisspiel. Vor allem das Tennis liebte ich, als ich in die Vierziger kam; es ist der einzige humanistische Sport; Mann gegen Mann, mit aller Kraft, aber immer bleibt ein Abstand zwischen den Kämpfern, sie berühren einander nicht. Weiterlesen

Herzen brechen

Sándor Márai: Das Kräuterbuch LXXII

Darüber, wie Herzen brechen

Genau so wie in den Liedern, welche die Chansonetten in den Kaffeehäusern singen. Und die Lehre aus diesen Liedern ist immer die, daß man die zerbrochenen Herzen nicht mehr zusammenkleben kann. So lautet auch im Leben die Lehre. Weiterlesen

Blauer Planet in grünen Fesseln

Orbáns Leseliste III

„Auch von Václav Klaus habe ich etliche Bücher gelesen. Gott sei Dank befindet er sich noch in guter Konstitution. Ich konnte mich vor einigen Tagen bei meinem Besuch in Prag persönlich davon überzeugen. Er hat gute Bücher über die Freiheit geschrieben, jetzt ist von ihm ein Buch über die Inflation erschienen. Auf Klaus lohnt es sich zu achten. Er ist einer der letzten Antikommunisten der Wendezeit, die heute noch schriftstellerisch tätig sind.“

Mit diesen Worten nahm Viktor Orbán gleich zwei Bücher des ehemaligen tschechischen Ministerpräsidenten in seine Leseempfehlungen auf; sie enthalten fast alles, was Orbán an Klaus fasziniert. Weiterlesen

Übung ist alles – Alles ist Übung

Seit die Wenigen explizit üben, wird evident, daß implizit alle üben, ja mehr noch, daß der Mensch ein Lebewesen ist, das nicht nicht üben kann – wenn üben heißt: ein Aktionsmuster so wiederholen, daß infolge seiner Ausführung die Disposition zur nächsten Wiederholung verbessert wird. (Sloterdijk)

In seiner kleinen, aber wichtigen Schrift „Vom Geist des Übens“ hatte Bollnow versucht, eine alte konservative Technik als „Rückbesinnung auf eine elementare didaktische Erfahrung“ wieder verstärkt ins Bewußtsein zu heben. Er sah im Üben jene Tätigkeit, die Voraussetzung für die „volle Entfaltung und Erfüllung“ des Menschen sei und wer will ihm da widersprechen? Es ist das Üben, das bewußte wiederholende Üben, das Repetieren, das in der modernen Pädagogik bedauerlicherweise immer öfter diskreditiert wird, das den Menschen dennoch zum Meister so vieler Abläufe, Techniken, Künste, das ihn zum Menschen macht. Heute meint man oft, damit des Menschen Freiheit einzuschränken, Bollnow hingegen legte dar, daß erst durch das Üben wahre innere Freiheit erlangt werden kann: „Die wahre innere Freiheit besteht darin, sich, ohne sich vom Spiel der Umstände ablenken zu lassen, ruhig und stetig auf seine Aufgaben einzulassen, sein Werk bis zur höchsten ihm möglichen Vollkommenheit zu bringen und in gesammelter Anstrengung sein Können und seine Leistung immer weiter zu steigern“. (79) Weiterlesen

Heldentum

Sándor Márai: Das Kräuterbuch LXVII

Über das Heldentum

Das größte Heldentum besteht darin, bei deiner Arbeit zu bleiben, egal was die Welt sagt. Und noch größeres Heldentum besteht darin, deine Arbeit zu vernichten, wenn du spürst, daß du sie nicht so perfekt ausführen konntest, wie du dir es als Ziel gestellt hattest. Weiterlesen

Sex an und für sich

Die Zeller Zeitung gab dieser Tage die Ergebnisse einer großangelegten Untersuchung bekannt. Demnach werden im dortigen Blatt am häufigsten jene Artikel angeklickt, die sich um die Nachbarin drehen, insbesondere dann, wenn diese sich im Evakostüm zeigt.  Das ist ein weiterer empirischer Beweis dafür, daß sich alles besser verkauft, wenn es mit Sex konnotiert ist, und das, obwohl die Öffentlichkeit mit derartigen Bildern und Nachrichten überbordet ist oder zumindest war. Weiterlesen

The West and the rest

Orbáns Leseliste II

Roger Scrutons Buch erschien vor 20 Jahren und ist als unmittelbare Reaktion auf den 11. September 2001 zu lesen. Wenn Viktor Orbán es in seine Allzeit-Leseliste aufnimmt, dann wird es wohl bleibenderen Wert für ihn beanspruchen. Warum, das wird schnell klar: Scruton will uns nicht den Islamismus erklären, sondern dessen Geburt aus dem Islam und den fundamentalen Unterschied zu dem, was wir die „westliche Demokratie“ nennen. Dabei versucht sich der konservative und sehr traditionell wirkende englische Philosoph in Objektivität, er vermeidet also die Parteinahme, will uns beide Konzepte in objektivem Ton vorstellen, ohne freilich das „Wir“ und „Die“, in das wir hineingeboren werden, zu negieren. Weiterlesen

Der neue Mensch …

… saß neulich bei uns am Tisch. Wir kannten ihn als Adoleszenten, jetzt geht er auf die 40 zu. Das Haar wird schütter, seine schlanke Gestalt hat er verloren, aber von seiner Schnelligkeit, seiner Quecksilbrigkeit ist nichts dahin. Schon damals ragte er als Sohn eines singhalesischen Wissenschaftlers und einer deutschen Mutter im englischen Herzland aus der Menge heraus. Man sieht ihm die indische ethnische Herkunft deutlich an. Nach Jahren in Südafrika, mehreren Orten in Westdeutschland und England, hatte es ihn nun in den Osten verschlagen. Aber auch nur für kurze Zeit, denn nun geht es weiter und zuvor wollte er noch mal bei uns vorbeischauen. Weiterlesen

Sexus und Traurigkeit

Sándor Márai: Das Kräuterbuch LXXI

Über den Sexus und die Traurigkeit

Am Grund der Dinge liegt der Sexus. Vielleicht sogar im Leben der Kristalle. Aber alle Geschlechtlichkeit ist traurig.

Die Angelegenheit des Körpers wie ein Urteil betrachten. Nur die Zärtlichkeit ist menschlich. Die Leidenschaft ist unmenschlich[1] und hoffnungslos. Weiterlesen

Das Glück

Sándor Márai: Das Kräuterbuch LXX

Über das Glück

Glück gibt es natürlich nicht in dem destillierbaren, verpackbaren, etikettierbaren Sinn, wie sich das die meisten Menschen vorstellen. Als ob man nur in eine Apotheke gehen müsse, wo sie einem – für Dreisechzig – eine Medizin geben, und danach tut nichts mehr weh. Weiterlesen

Orbáns Leseliste – Nationale Interessen

In seinem sehr lesenswerten großen Interview mit der “Budapester Zeitung” hatte Viktor Orbán auch einige Lesetipps verteilt, Bücher benannt, die ihn beeindruckt und beeinflußt haben. Der Zufall will es, daß ich die meisten davon im Hause habe. Es kann keine schlechte Idee sein, Orbáns Hinweis zu folgen, die Bücher zu lesen und vielleicht gelingt es uns dadurch sogar, seinem Denken, seiner politischen Grundüberzeugung näher zu kommen.
Heute: Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen

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