Sándor Márai: Das Kräuterbuch LXIV
Über das Warten
Wenn jemand nicht zur vereinbarten Zeit zum Treffen erscheint – sei es eine Frau oder ein Mann, ein Freund oder ein Fremder – kannst du fünfzehn Minuten warten. Dann geh fort.
Und wenn er sich nicht mit einer begründeten Ausrede retten kann, dann suche nicht weiter die Gesellschaft einer solchen Person. Trage keinen Zorn und keine Kränkung im Herzen, denn das ist eines Menschen unwürdig. Aber gib dem anderen keine Gelegenheit mehr, dich warten zu lassen.
Denn die Menschen beleidigen einander auch aus Überheblichkeit und Feigheit. Das Wartenlassen ist eine solch anmaßende Beleidigung. Bleibe bei jeder Gelegenheit, wirklich jeder Gelegenheit auf die Sekunde pünktlich.
So müde, so traurig, so lustlos kannst du nicht sein, daß du gegen das Gesetz der höflichen Pünktlichkeit sündigst. Die Pünktlichkeit ist nicht nur die Höflichkeit der Könige, sondern jeder verantwortungsvollen, ihres Ranges bewußten Person. Ein Mann von Klasse ist, wer ohne Interesse pünktlich ist. Der Faule, der Anmaßende, der frivole Mensch kommt immer zu spät. Ein solcher Mensch verpasst schließlich auch des Lebens große Verabredung: Sich selbst kennenzulernen.
siehe: Auch Polen ist verloren