1961 veröffentlichte Umberto Eco „Das offene Kunstwerk“[1], in dem er „das Akzeptieren des Unbestimmten und eine Ablehnung der einsinnigen Kausalität“ propagierte, 1967 schrieb Foucault in „Raymond Roussel“[2] über Sprache und Bilder, „die zugleich aussprechen und verbergen“ sollten, und erläuterte deren Mechanismen. Deleuze hatte schon Jahre zuvor die Art seines philosophischen Denkens „als eine Art Arschfick“, mit „Gleitbewegungen, Brüchen, geheimen Absonderungen“ beschrieben[3], später das „Es“ als etwas, das „funktioniert“, „es scheißt , es fickt“[4]. Baudrillard erklärte die Metamorphose zur höchsten Lust, und George Bataille sparte in seinem „Obszönen Werk“[5], das an der Grenze von Surrealismus, Philosophie und Pornographie angesiedelt ist, nicht mit Körperflüssigkeiten und expliziten perversen Einblicken … Wir haben Virginia Woolfs monologisches Schreiben, das Vorantreiben des inneren Bewußtseinsstromes; Rimbaud schon hatte statuiert: „Ich ist ein anderer“, Georges Perec hatte einen Roman ohne den Vokal „e“ geschrieben, wir haben mit Wilde, Proust, Bang, Mann, E.M. Forster, Capote, Genet u.a. Autoren von weltliterarischem Rang, die ihre Homosexualität subtil literarisch darstellten und diese Listen ließen sich ohne Mühe erweitern.
Wer also behauptet, Kim de l’Horizons Roman „Blutbuch“, der soeben den Deutschen Buchpreis erhalten hat, sei originell, der macht unwissentlich oder willentlich wesentliche Teile des Denkens und Schreibens vergessen. Was der Debütant hier treibt und mit dem Attribut „écriture fluide“ wortbombastisch aufbauscht, ist eine späte, eine sehr späte Lese theoretischen Gedanken- und künstlerischen Schriftgutes, das mindestens fünf, sechs Jahrzehnte auf dem Buckel hat und eigentlich abgegriffen wirken müßte. Vieles davon wird im „Roman“ sogar direkt angesprochen oder angewandt.
Gleich zu Beginn baut der Autor – trotz seiner selbstdeklarierten Nonbinarität handelt es sich sicht- und lesbar um einen Mann – zwei Hürden auf. Foucault wird auf Seite 1 direkt, Deleuze auf Seite 2 indirekt zitiert , wer nicht ein bißchen theoretisch denken will – in engem Rahmen, aber eben nicht voraussetzungslos –, bekommt Probleme bei der Lektüre und wer die graphisch beschriebene „Arschficks“ nicht lesen mag oder kann („…die Grindr-App ist meine bleiche Fakel in der Nacht der Agglomerationen, sie weist mir den Weg zu den Männern, die ich suche, die ich brauche, die ich mich brauchen lasse … die ich sich in mich hineinschieben lasse, schnell und gefühllos, ich habe ja genug Gefühle, ich brauche nicht mehr davon, ich brauche endlich mal einen harten cut von ihnen …“ ), wer sein Faible für Sperma an allen Orten nicht erträgt, der ist ebenso ausgeladen. Die Sexszenen sind direkt, brutal und zahlreich, der Erzähler treibt es so exorbitant mit immer wieder neuen Männern, daß ihn der Urologe ermahnen muß und er sich lange Listen seiner „Lover“ samt der jeweiligen anatomischen Merkmale und Verhaltensidiosynkrasien macht.
Es lohnt sich, diese Hürden zu nehmen. Das Buch ist in mehrfacher Hinsicht von Interesse. Und vor allem: es funktioniert! Es ist rasant! Man liest es mit angehaltenem Atem. Man weiß nicht recht wie: Lebens- und Problemwelt dieses Wesens ist den meisten Menschen wohl fremd, aber die Sprache übt dennoch einen magischen Sog aus, dem sich schwer zu entziehen ist, und das, obwohl sie über weite Strecken Nebensätze meidet, von recht einfacher Lexik geprägt ist und auch das szenetypische Einstreuen von Anglizismen nicht scheut –„wie kann ich meine story tellen“ –, immer wieder Stil und Sprechrichtung ändert und zum Ende gänzlich ins Englische verfällt. Dieses Wirrwarr aus gelungenen und mißlungenen Konstruktionen und Bildern weist wirklich eine hohe Sprachsensibilität aus, es führt uns an einen Wesenskern des postmodernen Lebens, es legt uns ungeschützt die Sorgen und Nöte jener Generation der „apolitical self-fulfillers between the boomer generation and gen Z“ offen, der Generation des leistungslosen Einkommens, die ohne materielle Nöte und ohne Zukunftsängste aufwuchs, die, wenn sie einmal Gebrauch von ihren Händen macht, Löcher am Sandstrand buddelt, eine Generation voller „Selbsthaß über unser wohlstandsverwahrlostes Weißsein“. Kim bezeichnet sich zwar aus der Zukunft kommend – „geboren 2666 auf Gethen“ –, tatsächlich ist er 30 Jahre alt und leidet bereits unter Haarausfall. Dieser Menschenschlag hat keine Tiefenbildung, sein bescheidenes Wissen – hier z.B. Dendrologisches über die Blutbuche oder zur Geschichte der Hexen – ist zusammengelesen und gesucht, ein bißchen Expertise gibt es in strukturalistischer und feministischer Philosophie. Das Paradox: dieser Typus ist traumatisiert von der Sorglosigkeit.
Der Erzähler entwirft ein Familiendrama im Tone schwerster Verletzungen, zugefügt von Mutter und Großmutter, doch handelt es sich bei den schlimmen Erlebnissen um zu harte Hände, ein falsches Wort, einen nicht geflickten Teddy oder zu heißes Essen. Man leidet an der Leidenslosigkeit. Das führt bis in schizo-ähnliche Zustände, etwa wenn der Erinnerung an die Kindheit die erste Person, das Ich fehlt und nur von „das Kind“, von „es“ die Rede ist. Dabei ist der gesamte Roman nichts anderes als eine narzißtische Selbstbespiegelung, ein Ausloten der eigenen psychischen Probleme und Empfindungen, ein zeittypisches autofiktionales Werk in extremo. Das Mittel der Wahl sind Briefe an die demente Großmutter (schweizerisch: Großmeer – „Subtilitätsalarm“), die noch die existentielle Not kannte und gemeinsam mit der Meer für das eigene prekäre Leben verantwortlich gemacht wird. Kim zieht den Schluß: „Familie ist die Verbindung, die durch das Vererben persönlicher Traumata entsteht, Kultur die Verbindung, die durch das Vererben kollektiver Traumata entsteht.“ Immer wieder dockt, ja biedert sich der „naughty Text, der einfach nicht straight sein will, sich ständig wegdreht wegquengelt wegqueert“ mithilfe von Triggerbegriffen und interpretativ aufgeladenen Bildern, mit eingestreuten Derridaismen an die poststrukturalistische Literaturtheorie, an die Genderforschung an: „…die Samenbank des europäischen Hodenrudels säte sich unter meine Haut und wucherte meinen Rücken hoch, wie die Dornenhecke Dornröschens Turm bewuchert“.
Diesem Leben ist alles Beständige abhanden gekommen, es lebt in der Unmöglichkeit jeglicher Konsistenz, selbst die Heimat ist kein Ort mehr, sondern eine Zeit. Kein Wunder, daß es heimgesucht wird von Zweifel – „Wie viel meiner Queerness ist essenzieller Ausdruck meiner ureigenen Persönlichkeit“ und nicht bloß american way of life? –, Ängsten und Geistern und daß es sich in Magie, Esoterik und Ideologie flüchten muß, daß man „Ego-Aufspritzung“ in Regalmeter Foucault und Butler braucht. Das ist auch der Grund, weshalb es sich jedem Trend anhängt, weshalb gestern BLM oder #Metoo – es wird das gesamte Arsenal an Signalfloskeln abgeschossen: Rassismus, Nationalismus, body negativity, white privilege, white noise, white guilt, kulturelle Aneignung, Klimaerwärmung, Kapitalismuskritik, Migration, Antifaschismus, Cancel Culture – und heute eben der auf der Bühne rasierte Schädel als Zeichen der Solidarität mit irgendwem. Mensch, jemensch erwirbt damit eine Identität, aber keine, die auf ewig verpflichtet, denn bald kommt der nächste Trend. Identitäten sind Kostüme; deswegen sind und wirken sie auch oft billig, denn hoher finanzieller Einsatz verpflichtet. Dieser außergewöhnliche, kreative, aber nicht originelle Roman ist ein wortreicher Aufschrei der Sprachlosigkeit, der Formlosigkeit, der Ziellosigkeit, der Sinnlosigkeit, der Losigkeit an sich, alles daran ist lose, es ist eine radikale Infragestellung alles Gegebenen, selbst des eigenen Körpers, den man nicht mehr spürt außer beim Aufnehmen des Fremden, des anderen: der harte Schwanz im Arsch ist die letzte Evidenz. Früher hieß das schwul, heute geht „Schwulsein nur, wenn mensch daran glaubt, daß es zwei Geschlechter gibt“, man „schlägt das Erbe der protofaschistischen Sexualität schwuler Männlichkeiten aus.“ Die Folgen und Konsequenzen dieses Schreibens, Denkens, Lebens und Seins werden nirgendwo bedacht, die Gründe nicht erläutert, „mensch“ ist in seinem Sosein aus sich selbst heraus gerechtfertigt.
Auch die Sprache kann keinen Halt mehr bieten, sie brandet wie die Wellen an, „die Meersprache ist kein Zuhause. Sie ist Drohung.“ So kann auch das Buch kein Ganzes werden, „mensch“ will aus der Sprache fliehen und kann es doch nicht; in autopoetischen Textpassagen wird daher das Schreiben des gerade zu schreibenden Textes problematisiert, ohne gelöst zu werden: es bleibt nur die Bewegung, die Veränderung, der Wechsel der Sprachen und Stile. So ist Kim dennoch ein großer Wurf gelungen, über den es noch vieles zu sagen gäbe. Ob er ein Schriftsteller „auf der Karriereleiter“ ist, muß das kommende Buch erweisen. Dieses Produkt kann man als Programmschrift lesen, es ist wohl und will sein: ein „letzter Text“. Das dekonstruktive Konzept des Letzten Textes hatte Jean-Pierre Dubost am Beispiel de Sades übrigens vor 40 Jahren entworfen[6].
Kim de l’Horizon: Blutbuch. Roman, DuMont Verlag, Köln 2022. 303 (334) S. 24 €
zuerst erschienen in: Sezession 111
[1] Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Suhrkamp. Frankfurt 1977
[2] Michel Foucault: Raymond Roussel. Suhrkamp. Frankfurt 1989
[3] Gilles Deleuze: Kants kritische Philosophie. Merve. Berlin 1990
[4] Gilles Deleuze/Felix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie. Suhrkamp. Frankfurt 1977
[5] Georges Bataille: Das obszöne Werk“. Rowohlt. Reinbek 1972
[6] Jean-Pierre Dubost: Einführung in den letzten Text. Zwei Vorträge. Edition Schwartz. Stuttgart 1986
siehe auch: „Blutbuch“ von Kim de l‘Horizon
Man befleckt sich doch nur selbst, wenn man solchen Schund liest, oder nicht? Ich wünsche mir häufig, dass ich den ein oder anderen Film bspw. nicht gesehen hätte und ich nicht wüsste, wie manch eine kranke Existenz innerlich tickt. Sollen sie doch zugrunde gehen, ihre Blutlinie enden. Gut so. Und nicht nur das … auch die Zeit, die man da reinsteckt, kann man doch besser beim Pilzesuchen investieren. Oder? Auch zur Einsicht in die Konsequenzen von Dekonstruktion braucht man doch dieses Buch nicht, sondern muss sich nur eine beliebige Studie zur Häufigkeit von psychiatrischen Krankheiten bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ansehen, oder?
Das sind die Gedanken, die ich hatte, als ich diese Rezession gelesen habe bzw. dessen Interview einst sah. Was denken Sie?
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Mit manchen Dingen muß man sich beflecken, manchem Gift muß man sich aussetzen, wenn man wissen will, was es ist, wie es wirkt und warum es auf andere Menschen solch starke Wirkungen hat. Wenn ich dieses Buch nicht für wert befunden hätte, es in mehreren Anläufen anzugehen, dann hätte ich nicht darüber geschrieben. Dabei muß es noch nicht mal einen inneren oder einen künstlerischen Wert haben; es genügt, daß es ein Produkt der Zeit ist. Insofern gibt es in meinen Augen eigentlich nichts, was man nicht bedenken und behandeln kann. Da man aber nicht alles schaffen kann, muß man sich auf weniges beschränken und das ist oft einfach nur ganz persönlich zu erklären: Warum nun dieses und jenes nicht?
Auch mit der Dekonstruktion machen Sie es sich zu leicht – das ist leider sehr weit verbreitet im rechten Spektrum. Das Urteil ist schon da, die aktive Auseinandersetzung wird hingegen gescheut. Dann wüßte man auch, daß das Blutbuch zwar tatsächlich als ein Resultat der Dekonstruktion angesehen werden kann, daß es aber dennoch nicht deren logische und zwangsläufige Konsequenz ist. Im Gegenteil, Leute wie Kim mißbrauchen diesen Denkansatz, der in seinem Kern sehr wertvoll ist. Diesen darf man nicht an den Wucherungen messen, zumindest nicht ausschließlich – diese hätte es ohne jenen zwar nicht gegeben, insofern steht er in der Schuldanklage, aber es führen viele Wege von dort weg und einige davon führen zu sinnvollen Zielen.
An Ihnen ist die Rezension also leider gescheitert, wenn das das Ergebnis ist. Ich werde mich beim nächsten Mal noch besser anstrengen müssen.
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Antwort von „nietzschi“, die aus irgendeinem technischen Grund hier nicht ankam, bezieht sich auf dies:
„Das Urteil ist schon da, die aktive Auseinandersetzung wird hingegen gescheut.“ Das kann ich so nicht von mir behaupten. Ich bin regelmäßiger Youtube-Besucher der Vorträge auf der grünen Heinrich-Böll-Stiftung (erträglich in 2facher Geschwindigkeit). Es mag da auch einige interessante Äußerungen geben, dennoch sind diese doch in 80% der Fälle eher deswegen erhellend, weil die Damen und Herren selbst Munition gegen ihr eigenes Denken liefern. Viel eher bin ich verblüfft, wie plump und krude da die Betrachtungsweisen über „die“ Rechten sind. Ich habe bisher selten so groteske Fehlanalysen und Klischees gehört. Und hieraus stellt sich doch eine interessante Frage, wenn Ausflüge zu deren Denken so fruchtbar sein könnten, wieso kommt dann fast nur solche Ergebnisse zutage? Natürlich könnte man dann auch die Gegenfrage stellen, wie es denn kommt, dass die Linke dann so weltweit dominiert, immer umgreifender wird … aber ich bin inzwischen reichlich skeptisch geworden, dass dies an den eigenen intellektuellen Verdiensten liegt.
Aber nochmal bezugnehmend auf einen anderen Satz: „manchem Gift muß man sich aussetzen, wenn man wissen will, was es ist, wie es wirkt und warum es auf andere Menschen solch starke Wirkungen hat“ … genau diesen Punkt sehe ich leider nicht. Es wirkt ein bisschen wie intellektueller Abenteuergeist und spezifische biografische Affinitäten. Ich persönlich sehe es eher ähnlich zu Nietzsche in seinem Aphorismus 125 in den Fröhlichen Wissenschaften, „der tolle Mensch“. Nietzsche beschreibt dort die ungeheuerlichen Konsequenzen, die es mit sich bringt, wenn Gott aus einer Gesellschaft verschwindet / von ihr vergessen und seine Idee getötet wird. Alles strömt fortan zum Nichts, ist dem Nihilismus ausgesetzt. Dann bilanziert er beim Blick auf seine Zuhörer / Mitmenschen: „Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. »Ich komme zu früh«, sagte er dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.“ Und genauso empfinde ich es, es herrscht dort eine totale Gedankenlosigkeit vor. Und in dem Fall des Dekonstruktivismus kenne ich mich zwar nicht in den Originaltexten aus, aber ich denke das braucht man auch nicht, um zu sehen, dass dieses „Wuchernde“ erwünschtes Leitziel und Fluchtpunkt ist.
Es gibt natürlich wenige Ausnahmen auf der Linken, wie Hartmut Rosa, aber auch bei dem bluten einem die Ohren, wenn er sich konkret politisch äußert. Probleme allen Ortes, die Linke sieht sich selbst aber nie in der Schuld. Es werden harte totalitäre Maßnahmen inzwischen installiert und die glauben wirklich, ganz unironisch, sie seien die Guten. Sie fühlen eine innere Leere, beruhigen sich mit Tittytainment und anderem sinnentleerten Hedonismus, machen aber darüber hinaus die bösen Rechten und Weißen mit ihren Voodoo-Kräfte für alles verantwortlich. Diese verhindern geradezu magisch, dass wir schon in einem Garten Eden leben. … Das NPC-Meme ist doch mehr als nur ein lächerlich Machen des Gegners. Wie sonst, kann man in dieser Moderne leben und all diesen Verfall NICHT spüren und sehen? Beispiel: die negativen Auswirkungen der Corona-Impfung wird ja immer noch geleugnet … Was bleibt einem da noch übrig zu sagen?
Und eine letzte konkrete Frage: Wieso soll ich bspw. Judith Butler lesen? Selbst wenn ich dort „interessante“ Dinge finde oder dortige Widersprüche entlarven könnte, was mache ich damit? Könnte ich wirklich zu einem Butler Seminar an einer beliebigen Hochschule gehen und dort dann in ernsthafte Diskussionen eintreten? Mit der Macht der Vernunft überzeugen?
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