Jahrhundertmenschen gibt es nur sehr wenige. Wenn sie sterben, meint man, die Welt müßte für einen Moment stille stehen. In Deutschland war Ernst Jünger vielleicht der letzte dieses Schlags. In Dänemark ist der homo danicus gestern im Alter von 105 Jahren gestorben. Man muß so ein Jahrhundert nicht nur leben, man muß es auch ausfüllen können.
Die Rede ist von Lise Nørgaard. Sie wurde ein halbes Jahr vor der Russischen Oktoberrevolution geboren.
Es ist nicht nur ihr Werk, daß ihr diesen Status verleiht und auch nicht nur das hohe Alter, es ist nicht zuletzt die Haltung die sie – die ein solch seltener Mensch – ausstrahlt.
Stets aufrecht, immer guter Dinge, resolut gut, geschmackvoll und doch individuell gekleidet, niemals klagend, nie dummes Zeug redend, nie sich auf die Zunge beißend, unbeirrt offen und ehrlich … So versinnbildlicht sie als Ideal den dänischen Menschen, so symbolisieren diese Art Menschen den Triumph des Humanen, des Menschenmöglichen in seiner jeweiligen historischen und nationalen Eigenart. An ihrer Echtheit konnte sich ein Volk aufrichten.
Man mag es anfangs nicht glauben, daß eine gelernte Sekretärin zu solchem Ruhm gelangen konnte. Dann begann sie für die lokale, später die große Presse zu schreiben und später Bücher, und so beeinflußte sie das ganze Land.
Ihr erster humoristischer Roman „Med mor bag rattet“ (Mit Mutter am Steuer) wurde zu einem feministischen Mani-Fest, es folgten „Volmer – Porträt einer Gesellschaftsstütze“ im Stile der englischen Jungenstreichliteratur und kleinere Erzählungen. Alle lesenswert, alle leicht und tief zugleich. Im Alter lieferte sie dann großartige biographische Arbeiten, die das Leben Dänemarks auf wunderbar unterhaltsame Weise Revue passieren lassen.
meine Nørgaard-Sammlung
Aber ihre größte Bedeutung erlangte sie mit den Drehbüchern. Selbst in der DDR war „Oh, diese Mieter“ (Huset på Christianshavn) ein Riesenerfolg. Darin wird in 84 Folgen – Nørgaard schrieb einige davon – das Zusammenleben einer proletarisch geprägten Hausgemeinschaft, die unterschiedlicher nicht sein könnte, geschildert und bei aller Diskrepanz steht am Ende immer wieder der Zusammenhalt. Diese Serie wurde zum Inbegriff der inneren Kohärenz des dänischen Volkes.
Die Kultserie ist trotzdem ein wenig in den Hintergrund geraten, denn mit „Matador“ gelang Nørgaard – zusammen mit dem legendären Regisseur Erik Balling (Olsenbande) – der ganz große Wurf. Das war der Blueprint für alle folgenden legendären dänischen TV-Serien, die die danskhed feierten. Zuletzt das überaus erfolgreiche „Badehotellet“ – ihr Erfolg ist auch in der rein dänischen Thematik und dem rein dänischen Casting zu suchen; Eingeständnisse an den verheerenden Zeitgeist werden zwar gemacht, aber noch immer in kaum wahrzunehmender Subtilität.
„Matador“ ist die dänische Fernsehserie schlechthin geworden, die das Volk – ähnlich dem Svenskekampen, dem ikonischen Länderspiel gegen Schweden – vor dem Bildschirm vereint. Dreieinhalb von fünf Millionen saßen einst, um die neue Folge zu sehen. Mittlerweile wurde sie neun oder zehn Male ausgestrahlt und findet noch immer ein Millionenpublikum.
Erzählt wird in einem großen Komplex an Geschichten, der Kampf zweier Familien in einer fiktiven Kleinstadt in den 30er und 40er Jahren. Mads Andersen-Skjern, der aus einem innermissionarischen Milieu stammt, greift mit seiner Boutiqueeröffnung die alten Machtverhältnisse in der Stadt an, zuvorderst die Varnæs-Familie, eine alte Bankerdynastie. Dänische Geschichte wird aufgearbeitet. Aber die eigentliche Bedeutung der Serie ist eine andere:
Sie stammt aus der Tradition des Kollektivromans, einer Erzählgattung, die in Skandinavien eine große Geschichte hat. In ihr steht nicht mehr das Individuum im Zentrum, sondern eine Gruppe, eine Gemeinschaft, ein Dorf, eine Stadt, ein Kollektiv … eine gemeinsame Identität. Diese wurde nicht nur beschrieben, sondern auch bestärkt. Deswegen lieben es die Dänen, die Filme wieder und wieder zu sehen – selbst die DVD-Box wurde viele Millionen Male verkauft und steht auch bei mir an einem Ehrenplatz –; es ist nicht nur Nostalgie, die Serie wirkt auch wie ein gemütliches Lagerfeuer, um das das ganze Volk sich scharrt, um die Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit zu feiern.
Aber diese Zeiten sind in Wahrheit vorbei. Zeugnis dessen sind die nach Osten ausgerichteten tausenden von Satellitenschüsseln in den Vororten der Städte.
Sollte Lise Nørgaard sich als sterblich erweisen, dann – so empfand ich immer –, dann wird mit ihr eine Welt untergegangen sein. Heute also ist es soweit.