Wenn das Volk spricht, dann geschieht das oft nicht in Worten, sondern in Entscheidungen, in massenhaften Handlungen und selbst wenn diese an sich bedeutungslos sind, lassen sich aus der Summe Rückschlüsse ziehen.
In Ungarn geht gerade ein Musikvideo viral. Noch nicht mal eine Woche auf Youtube einzusehen, wurde es bereits dreieinhalb Millionen Mal angeschaut und das bei einem Staatsvolk von nur neun Millionen. Da es sich um Rap-Musik handelt, darf man vor allem die Jugend als Interessent vermuten.
Wir haben es auch nicht mit einer musikalischen Sensation zu tun, allein der Text kann den Erfolg erklären. Uns interessiert er nur in der Abstraktion, im Detail thematisiert er ein Unwohlsein im Leben – nicht untypisch für diese Musikrichtung und auch nicht für die Ungarn – und ist mit vielen Anspielungen gespickt, die nur verstehen kann, wer im Land lebt und den tagtäglichen Aufregungen, Skandalen, Ärgernissen folgt. Es ist eine Generalabrechnung mit allem – aber vor allem mit dem „System“. Deshalb wurde es auch sofort als „rendszerkritikus dal”, als systemkritisches Lied dekodiert.
In dieser Funktion wurde es zum Skandal. Das kritisierte System ist in erster Linie das System Orbán, das System Fidesz, auch wenn es Seitenhiebe an eine unfähige Opposition oder den duldenden Charakter der ungarischen Menschen gibt. Der Künstler ist selbst Produkt dieses Systems – in doppelter Weise –, er entstammt, wie er singt, einem Getto, also einem prekären Vorort der Industriestadt Miskolc, und er hat seinen Aufstieg dem Staatsfernsehen zu verdanken, wo er zuerst in reality shows reüssierte. Er hat am System partizipiert, aber nun scheint ihm – wenn man die dargestellte Wut ernst nimmt – der Geduldsfaden gerissen zu sein, nun hat er sich entschieden, das System zu brüskieren.
Und das Volk bestätigt ihn in Form von exorbitanter Aufmerksamkeit. In den Kommentaren kann man oft vom Mut lesen, den die Künstler gezeigt hätten. Im Rückspiegel erscheint aber auch die Angst vieler Menschen, sich öffentlich kritisch zu äußern – jetzt, wo es jemand tat, stellt man sich euphorisch in den Windschatten und honoriert die Tapferkeit mit Klicks. Wir kennen das Phänomen aus Deutschland allzu gut: wenige haben den Mut, ihren Hut mit Namensschild in den Ring zu werfen, tun sie es aber, dann sammeln sich schnell die Likes. In solchen Situationen wird Popularität politisch bedeutsam.
Nur deswegen habe ich dieses Lied und seinen außergewöhnlichen Erfolg thematisiert – weiter will ich mich nicht damit beschäftigen. Beides ist ein Beweis dafür – was auch hier im Kommentariat immer wieder angezweifelt wurde –, daß in Ungarn die Suppe kocht und auch überkochen kann. Viele, sehr viele Ungarn sind unzufrieden, sehr unzufrieden und immer wieder sehe ich geradewegs Wut und Haß. Haß auf Orbán, Haß auf den Fidesz, Haß auf die allgegenwärtige Korruption, die daraus entstehende Idiotie der Bürokratie, die Propaganda, die Lügen, der Pfusch, die Armut, die in vielen ländlichen Gegenden aber auch in bestimmten Stadtvierteln herrscht. Diese Menschen können die stets lächelnde Art des Ministerpräsidenten, seinen Sinn für Humor, nicht mehr ertragen.
Zugegeben, es gibt auch eine große Menge an Menschen, die ihn vergöttern. Er kann in Budapest oder in Siebenbürgen hunderttausende versammeln, wenn er spricht. Der Riß macht die Situation aber nicht besser – er entfremdet die Ungarn von den Ungarn. Darunter zumindest leiden alle.
Auf einer solchen vielbeachteten Veranstaltung machte Orbán vor ein paar Wochen den Witz vom Fidesz-Fröccs. Der Fröccs ist ein Wein-Wasser-Gemisch, das es in vielen Varianten gibt: eine eigene Wissenschaft. Der Fidesz-Fröccs – ein typischer Orbán-Witz – ist der Zweidrittel-Fröccs, eine Anspielung auf die Wahlverhältnisse.
Aber das Volk kann auch mit anderen Mitteln als dem Wahlzettel abstimmen – und sei es mit den Anhören eines Protestliedes. Menschen mit DDR-Erfahrung wissen aus eigener Erfahrung, wovon ich spreche.
Können Sie den Witz für Deutsche erklären?
Seidwalk: Der Fröccs besteht aus zwei Dritteln Fidesz – eine Referenz zur Wahl.
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