Zynische Theorien

Ein Buch, das durch alle Lager schneidet, links, rechts, liberal, geliebt und gehaßt wird, verspricht schon deshalb ein Ereignis zu sein. Man kann Konsens und Dissens rein argumentativ verstehen, noch vor aller ideologischen Zuordnung. So überwältigend seine Verdienste nämlich sind, so zahlreich sind auch seine inneren Widersprüche und Fehler. Während der erzlinke Micha Brumlik in der TAZ etwa ins Schwärmen gerät, hat der Experte fürs Absolute (Daniel-Pascal Zorn) einiges auszusetzen und während die einen den ruhigen, sachlichen Ton loben, sehen andere die Autoren mit „Schaum vor dem Mund“ (DLF). Es gibt aber bis dato wohl nichts Vergleichbares, weshalb es bis auf weiteres zum Kanon aller gehören sollte, die sich dem Themenkomplex kritisch nähern wollen.

Pluckrose/Lindsay gelingt es auf relativ gut verständliche Weise, in das Denken der Social-Justice-Theorie einzuführen und diese anhand ihrer theoretischen Zweige – Postkolonialismus, Queer-Theorie, Critical-Race-Theorie, Feminismus, Gender-Studies, Disability und Fat-Studies – differenziert, nach zwei Prinzipien und vier immer wiederkehrenden Themen – aufzufächern. Schon am Übersetzungskauderwelsch (Race, Disability etc.) erkennt man die Spannungen, der eine deutsche Übersetzung ausgesetzt ist. Dies selbst ist Zeichen der allgegenwärtigen Macht besagter Theorien – sie diktieren heute weitflächig den Raum des noch Sagbaren und schnüren ihn immer enger. Theorie kursiv meint das quasireligiöse Element, das sie über alle tradierte Theorie hebt.

Gelebte Erfahrung, Emotionen und kulturelle Traditionen gelten heute als genuines Wissen, das der Rationalität, der wissenschaftlichen Vernunft überlegen ist; die Marginalisierten haben einen nicht hintergehbaren Wissensvorsprung durch Diskriminierungserfahrungen. Es entsteht das, was man zu bekämpfen vorgibt: ein Metanarrativ, eine Großerzählung. Die Entwicklung der Theorie führt in einem fünf Jahrzehnte währenden theoretischen Vorlauf vom berechtigten Skeptizismus, der Heuristik, über die Theorie zur Praxis, von der Deskription über die Präskription zum unerschütterlichen Glauben. Am Ende stehen bewußt herbeigeführte Paradoxien zur kompletten Selbstimmunisierung, um die Diskurshoheit zu wahren.

Die Lektüre wirkt zunehmend beklemmend, denn sie macht deutlich, wie weit der verabsolutierte Gerechtigkeitsgedanke, der immer mehr neue Ungerechtigkeiten schafft, in nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche eingedrungen ist und wie die „Social-Justice-Forschung eine direkte Folge des radikalen Abbaus von sozialer Gerechtigkeit“ werden konnte. So hat das Buch einen stark appellativen Charakter: man muß etwas dagegen tun, die Totalität der „Argumente“ ist auf dem Weg, zum Totalitarismus zu werden.

Es ist das große Verdienst der Verfasser, die innere Stringenz der Argumentationen ebenso aufzuzeigen wie die geistigen Kapriolen und die versteckten Aporien, und zugleich sichtbar zu machen, daß man es mit gebildeten und hochintelligenten Autoren zu tun hat: die Frage steht im Raum, wie rationale Intelligenz in die Irrationalität, in die Selbstimmunisierung, in die Quasi-Religiosität führen kann. Hier hat das Buch seine größten Stärken, hier liest man mit hohem Gewinn!

Pluckrose, Helen / Lindsay, James | Zynische Theorien | | 2022 | 6467 |  beck-shop.de

Das Problem wird aus der philosophischen Postmoderne hergeleitet, die sich in eine „angewandte“ und eine „verdinglichte Postmoderne“ entwickelt habe. Foucault, Deleuze, Derrida, Lyotard werden als Schöpfer kenntlich gemacht. Allein, es scheint den Autoren an einer wirklichen Kenntnis dieser Denkrichtung zu fehlen; nicht nur werden wesentliche Inspiratoren wie Lacan, Barth, Baudrillard, Levinas gar nicht erwähnt, auch die Wahrnehmung der genannten Denker ist sehr selektiv und dünn, ihre philosophischen Verdienste, die positiven Erkenntnisse der philosophischen Postmoderne werden kaum gewürdigt. Die Binnenvielfalt läßt den Sammelbegriff sogar fragwürdig erscheinen.

Die lineare Rückführung auf die Postmoderne verschleiert zudem die Komplexität des Herkommens. So werden ökonomische, materielle, gesellschaftliche, künstlerische, technische, mediale Ursachen komplett ausgeblendet und der Postmoderne eine Alleinschuld zugewiesen. Es scheint, als handelte es sich um ein innerakademisches Phänomen, das „irgendwie“ in die Gesellschaft überschwappte. Es käme zudem darauf an, die positiven Erkenntnisse vor allem der frühen und auch die teilweise berechtigten Ansprüche der angewandten Postmoderne zu nutzen, statt nur vorzuführen. Auch wird der Eindruck erweckt, als gäbe es aus der Philosophischen Postmoderne nur diesen einen Ausweg, als wäre diese Entartung ihre Entelechie. Ihr im Titel unterstellter Zynismus wird zudem nie deutlich gemacht und natürlich darf auch der obligatorische Hinweis nicht fehlen, daß die eigentliche Gefahr von „Nationalisten und Rechtspopulisten“ komme, die man durch derartige Scheingefechte nur stärker mache.

Am ärgerlichsten ist freilich die vergatternde Apologie des Liberalismus. Dieser bringt in seiner theoretischen Form ganz sicher viele Vorteile mit sich, man sollte umgekehrt aber auch nicht übersehen, daß der Liberalismus selbst zu den ureigenen Wurzeln der Postmoderne und seiner späteren Dekadenzformen gehört. Der Liberalismus wird aus dem geschichtlichen Prozeß herausgelöst, als archimedischer Ausgangspunkt genommen. Man kann diese Gewächse nicht wegschneiden, wenn man ihnen nicht an die Wurzel geht. Immerhin lassen die Autoren die zahlreichen Blüten in lebhaften Farben erstrahlen – ein großartiges, ein notwendiges Aufklärungsbuch!

Helen Pluckrose/James Lindsay: Zynische Theorien. Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt. C.H.Beck Verlag, München 2022. 380 Seiten, 22 €
zuerst erschienen in: Sezession Heft 110

2 Gedanken zu “Zynische Theorien

  1. Nordlicht schreibt:

    Als Ingenieur (Maschinenbau) lese ich so etwas sozusagen mit offenem Munde und addiere zu diesem Theoriekram die Nachrichten über Genderismus, Black-Live-Matter-Gewaltdemos, die Sextremisten der div. Regenbogen-Fraktionen, dazu das Netzwerk der Gruppen, NGOs und Polit-„Institute“, die von den Netto-Steuerzahlern leben.

    Meine Berufswege führten mich auch durch Ministerien, rote und grüne Parteistiftungen, alles auf der Grenze von Wissenschaft (- naja) und politischer Umsetzung. Ich stamme aus einer ländlichen Unterschicht und habe mich mit Fleiss und Ehrgeiz hochgekämpft.

    Von diesem Hintergrund aus nun mein Kommentar zu der hier dargestellten Thematik:
    Was fürn unnützer Scheiss.

    Aus müden Wohlstandsgesellschaften stammende Erben entdecken überall Ungerechtigkeit und Opfergruppen, denen sie geeignete Gesellschaftstheorien liefern, um politischen Einfluss zu erreichen und letztlich Steuergelder abzugreifen. Die Forderungen kommen ja nicht von den wirklichen Armen und Marginalisierten, sondern von parasitären Uni-Absolventen, die sich zu ihren Sprechern berufen fühlen. Typen wie Marx+Engels, mit einem Schuß Ché-Guevara-Killerfreude.

    Ein wenig freue ich mich darauf, dass diese Wohlstandsgesellschaft abstürzt und wir uns dann auf das zum Überleben Nützliche konzentrieren werden.

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    • Pérégrinateur schreibt:

      @ Nordlicht

      Die neue Avantgarde der Mühseligen und Beladenen, das ist die Kümmerer-Klasse, die rührselig predigt und satt einstreicht. Heute gab es einen scharfen Artikel von Alexander Wendt über die Moralbourgeoisie bei Publico.

      Je mehr die Ideologie einer Gesellschaft von einer organisierten Religion bestimmt wird, wie wir es derzeit erleben, desto mehr bekommt man es mit Heuchlern an ihrer Spitze zu tun. Aus diesem Grunde erlaube ich mir, hier zwei kurze Abschnitte aus dem Buch eines zugegeben zuweilen etwas wirren Denkers einzustellen, die aber den beobachtbaren Sachverhalt hier recht gut treffen. Er unterscheidet, etwas kurz gesagt, zwischen Heuchlern, die sich ihrer Natur nicht bewusst sind, und denen, die es sind, letztere sind selbstredend die kleinere Schar.

      Nach Vermögen übersetzt aus dem Französischen. Ich bitte zu verzeihen, wenn ich den Text schon einmal hier geboten haben sollte – ich führe nicht Buch.

      ――――――――

      Aus:

      Albert Caraco
      Écrits sur la religion [Schriften über die Religion]

      VI Échelles de l’hypocrisie [Stufenleiter der Heuchelei]

      15

      Wenn wir unseren Blick in die Vergangenheit richten, so werden wir überall einer gewaltigen Zahl von Heuchlern ansichtig und – je nach Zeit und Ort – einer beschränkten Zahl von jenen, die man Freigeister nannte, die ersten sind die Gattung, die zweiten die Art. Hinzu kommt (und das erscheint zunächst unglaubhaft), dass die Mehrzahl der Heuchler nicht einmal ihren Betrug erkennen, sondern dass sie auf zwei Ebenen leben und von der einen zur anderen wechseln dank dieser Widersprüchlichkeit, die allen zu eigen ist, die ihr eigenes Verhalten nicht reflektieren. Man hat hierbei von Schaufrömmelei [cafardise] gesprochen, der Schaufrömmler [cafard] wäre demnach jener Mensch, der auf die Frömmigkeit versessen ist, die er zur Schau stellt, die aber seine Lebensweise nicht bestimmt, er genügt den erkennbaren Verpflichtungen und hält sich umso mehr schadlos für die Nachteile, die ihnen anhängen, versteht kaum etwas vom Zwiespalt, und wenn wir ihm diesen ausmalen, so erzürnt er darüber recht ehrlich. Das ist der erste Grad der Heuchelei und der zweite ― unendlich viel seltenere ― liegt auf halbem Wege zur intellektuellen Zügellosigkeit [libertinage], er ist ein Kompositum aus Hellsicht und dunklen und unklaren Begriffen, bei denen aber die Redlichkeit zu fehlen scheint; der Mensch, der diesem System anhangt, ist ein illusions- und vorurteilsloser Zyniker, er nimmt das Leben so, wie er es vorfindet, er weiß schon, dass er lügt, tröstet sich darüber aber mit Hinblick auf die allgemeine Würdelosigkeit hinweg. Er besitzt noch zuviel an Klugheit, um was er übertritt auch herauszufordern, er wird zur Verteidigung der Prinzipien herbeieilen, die er täglich misshandelt, aus Eigennutz oder Schicklichkeit wird er ihr anerkannter Verteidiger sein, denn die wahren Gläubigen zeigen niemals soviel an Eifer.

      Meine Ansicht in der Sache ist, dass die Heuchelei als eine Art von Zwischenbegriff handelt zwischen der Welt hienieden, die von der Notwendigkeit regiert wird, und dem moralischen Universum, das der Herrschaft des Guten unterliegt, welches zugleich gegenwärtig ist (in dem Maße, wie wir es bekunden) und allgemein gesehen abwesend (wie es die Tatsachen beweisen). Wir vermuten, dass die Mehrzahl der Heuchler ersten wie zweiten Grades (und sogar die Zügellosen mehrheitlich) durchaus tugendhaft würden, wenn sie denn nicht befürchteten, dabei betrogen zu sein: erst müsste sich die Welt ändern, ehe sie sich besserten, und ihre Gründe dafür scheinen ziemlich stark zu sein, man wird ihnen immer nur höchst bestreitbare entgegensetzen, bald schon wäre man gezwungen, sie zu rühren, anstatt sie zu überzeugen, man würde zu ihrem Herzen sprechen wollen, weil der Prozess über den Kopf verloren ist. Wenn man die Welt anschaut, wie sie sich zeigt, und das unerachtet der Epoche, dann hat man den Eindruck, dass die Klugen gewöhnlich Ungläubige waren, weil Klugheit und Glaube nicht zusammen bestehen können, aber weil die Klugheit den Skandal meidet, vermochten sich die Ungläubigen immer zu verstellen, was sie den Heuchlern ähnlich macht. Ein perfekter Ehrenmann ist mehr oder weniger nach diesem Modell geschnitzt und der wahrhaft Gläubige ist gläubig nur infolge seiner Widersprüchlichkeit, mehr jedenfalls als durch seinen Glauben. Das zeigt uns ganz gut, was die Religionen eigentlich taugen.

      ――――――――

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