Denkanstöße Sloterdijk XI

Anthropologie könnte eine ernsthafte Wissenschaft sein, wenn der Mensch nicht wäre. Aber sie kann sich nicht konsolidieren, weil sie mit ihrem Gegenstand schwankt. Bis in die tiefste Wesensebene haben Menschen, als ontologische Irrlichter, eine charakteristische Unschärfe um sich; an dieser erkennt man sie zuverlässiger als in jeder Definition. Alle Unschärfe in der Theorie des Menschen geht aber auf die Unmöglichkeit zurück, nach objektiven Kriterien zu entscheiden, ob der Mensch „im Grunde“ ein armes oder ein reiches Wesen sei. Beide Optionen markieren, in unterschiedlichen Graden, seit je die Geschichte der Zivilisation. Die seit Jahrtausenden offen vorherrschende These spricht vom Menschen als geborenem Mängelwesen, als in sich gekrümmtem Sünder, als denkendem Schilfrohr, als prekärem Spaltprodukt der Evolution, als instinktverlassenem Paria des Kosmos, als Sklave des Selbsterhaltungstriebes; als kargem Überlebenskünstler und als düsterem Sparer.

Die weithin in der Latenz gebliebene Antithese vertritt eine Lehre vom Menschen als Luxuswesen, als Feuerwerkskörper des Seins, als Festplatz der kosmischen Bewußtwerdung, als endlichem Gott, als Dichter eigener Welten; als heiterem Erzeuger und als mutigem Verschwender. In diesen beiden Auffassungen, die schwerlich aufeinander zurückgeführt werden können, spiegeln sich verschiedene Ethiken und Temperamente wider – mehr noch: verschiedene Logiken, verschiedene Rationalitäten, verschiedene Arten von Daseins-Bilanzierung. Naturgemäß muß eine so tiefe Spaltung des anthropologischen Grundsatzes ihre Entsprechung finden in den Auffassungen vom Spiel. Wo der Mensch als armer gedacht wird, dort gilt er als das Wesen, das trotzdem spielt – zur Entlastung und Kompensation, zur Aufheiterung und zur Erbauung. Die Hypothese des Mangels deutet das Spiel durch sein vierfaches Gegenteil: durch die Geburt, durch die Arbeit, durch den Krieg und durch den Tod; somit stehen dem Spiel jene Instanzen des Ernstes gegenüber, in denen sich die Schwere und Gewalt der Welt zusammendrängen.

Jedes Mal ist das Spiel nur ein Loskauf von Zwängen und ein leichtes Zwischenspiel zwischen schweren Aufgaben. Gerade der spielende Mensch ist der arme – er spielt, weil er es nötig hat. – Wo hingegen der reiche Mensch proklamiert wird, dort gilt er als das Wesen, das von Grund auf spielt. Solches tut es, weil es per se zu viel des Guten besitzt, weil es per se zu viel des Guten besitzt, weil es im Überschäumen bei sich ist, weil seine Selbstverwirklichung die Selbstverschwendung braucht. Zur Hypothese des Reichtums gehört die Absolutsetzung des Spiels. Wenn Menschen reiche Wesen sind, dann insofern, als sie das Spiel nicht durch sein Gegenteil interpretieren. Im absoluten Spiel stehen die ernsten Größen des Lebens dem Spiel nicht gegenüber, sondern sind ihm immanent; sie treiben es an, sie geben ihm Volumen, Weltgehalt, Menschlichkeit. – Egon Friedell hat einmal gesagt, Kultur ist Reichtum an Problemen. Analog dazu müßte eine Anthropologie des Überflusses sagen, Spiel ist Reichtum an Widerständen. Wenn das reiche Leben an sich selbst glaubt, dann feiert es seine Schwierigkeiten. Daher gehört zur modernen Welt eine Religion der Belastbarkeit im Leichtsinn.

Peter Sloterdijk: Für eine Philosophie des Spiels. In: Der ästhetische Imperativ. Hamburg 2007. S. 176ff.

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