Wilhelm Diltheys frühe Briefe kann man in zweierlei Gestalt lesen. Man entscheidet sich entweder für das Antiquariat und legt sich den von Diltheys Tochter Clara Misch– sie heiratete den eifrigsten Schüler des Meisters, Georg Misch, und trug daher dessen Namen – herausgegebenen Band „Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern“ aus dem Jahre 1933 zu, kauft ein bißchen vom Flair, muß aber mit der Auswahl vorlieb nehmen, oder aber man greift tief in die Tasche und entscheidet sich für den vollständigen ersten Band der vierbändigen Briefausgabe aus dem Jahre 2011.
In beiden Fällen ist die Lektüre nicht immer eine Freude. Wir erleben nämlich den Studenten und Doktoranden als einen überaus biederen, anständigen, schon in jungen Jahren sehr gesetzt und reif, wenn nicht alt wirkenden Mann, dessen Briefe stilistisch mitunter an mißlungene Paul-Heyse-Parodien erinnern. Diltheys ermüdender Biedermeier-Stil ist sicher bis heute ein Hinderungsgrund größerer Bekanntheit und das rächt sich leider, denn er gehört zu den großen Denkern der späten Blütezeit der deutschen Philosophie und ist noch immer hochaktuell.
Die Briefe der ersten Jahre zeigen den kommenden Großdenker als einen seiner Arbeit bis zur Selbstaufgabe gewidmeten Menschen. Lesen und schreiben und dann wieder lesen, das war sein Leben. Wenn die schmale Geldbörse es zuließ, auch mal ein Konzert oder ein geselliger Abend unter Freunden aber auch diese bestanden fast ausschließlich aus vergleichbaren Typen und fast alle haben später eine akademische Karriere gemacht – geblieben ist nur der vielleicht unauffälligste unter ihnen, geblieben ist nur Dilthey selbst. Trotz seiner noch jungen Jahre schien er sich kein Interesse für das schöne Geschlecht leisten zu wollen, erst im reiferen Mannesalter (41) lief ihm eine über den Weg, zwanzig Jahre jünger als er und man hätte gern gewußt, wie so eine Kontaktaufnahme in Bad Elster zustande gekommen sein mag. Immerhin gingen aus der Ehe noch drei Kinder hervor, besagte Clara – ebenfalls mit einem Buchmenschen verheiratet[1] – kümmerte sich später um den Nachlaß.
Immer wieder entwirft Dilthey Pläne für zu schreibende Bücher und immer will er das ganze Feld erst überblicken, weshalb es nie zu diesen Büchern kommt. Dennoch hat er sich durch diese extensive Lektüre nicht nur sein überreiches Wissensarsenal angelesen, das heute seinesgleichen sucht, sondern auch sein Denkvermögen geschult und das Gespür für das Fehlende in den Geisteswissenschaften. Gerade sehen wir ihn tief versunken in die Scholastik – „sonst arbeite ich die erste Periode der Scholastik und werde daraus auch meine Dissertation nehmen … die zugleich so unendlich langweilig und unendlich interessant ist“[2] –, als er erneut einen Brief an den Vater schreibt, der sein Tun und Schaffen in Berlin offenbar skeptisch beäugt und es im Wesentlichen auch bezahlt.
Gerade die Briefe an die Verwandtschaft, die Eltern, den Vater, die Schwester, wirken oft forciert, so als wolle er zum einen gute Stimmung erzeugen und zum anderen eine gewisse innere Distanz überwinden, denn zu Hause wußte man wohl schon lange nicht mehr, was der Sprößling geistig trieb und hätte es wohl auch nicht verstanden. Diese Briefe unterscheiden sich markant von denen an die intellektuellen Freunde und Mitstreiter, unter welchen dann der Briefwechsel mit Yorck von Wartenburg zu einem philosophischen Feuerwerk und Klassiker in eigenem Recht werden sollte.
Er berichtet also über die Hochzeit seines Freundes Wehrenpfennig und stellt den Eltern die Braut vor. Darauf kommt es hier an, das ist der Kern dieses Artikels.
„Den andern Tag war die Braut den ganzen Tag mit uns zusammen bei Lazarus‘; wir hatten einmal wieder einen prächtigen Tag dort im Thiergarten, auf dem Balcon und im Hause. … nachher habe ich auch einmal wieder ein paar Stunden ordentlich mit ihm auf dem Balcon über Wissenschaft geredet, wozu es seit Wochen nicht gekommen war“ – man spürt förmlich an den Wiederholungen und Füllwörtern die innere Müdigkeit …, aber dann wird er plötzlich wach und schreibt folgende bezaubernde Zeilen:
„Seitdem sehe ich die Braut fast täglich und morgen will ich einmal zu Veits gehen, ich sehe aber, ich habe von ihr noch nichts gesagt, kann auch jetzt noch nichts Rechtes sagen. Sie ist also eine Frankfurterin, Anna Hölzle, Tochter eines dortigen Kaufmanns, mit Veits befreundet. Sie ist 27 Jahre alt, beim ersten Anblick sollte man sie für noch älter halten, später erkennt man die weichen Linien der Züge. Hübsch kann ich sie garnicht finden; zwar ist ihr Wuchs hübsch, der Mund geistreich, aber der etwas verschwimmende, blauäugige, graublonde Eindruck des ganzen Gesichts, das nicht gut entwickelte Profil lassen es nur zu einem unbestimmten Eindruck des Ganzen kommen. Ein solches Gesicht braucht Bewegung, um das innere Leben zu verrathen; aber dann kann sie auch recht nett aussehen. Über ihr inneres Wesen läßt sich noch wenig vorläufig reden. Sie ist schüchtern, vollkommen selbstlos, nicht raschen Geistes und durch Witz und schnelle Frage leicht beunruhigt. Aber ihre Gedanken scheinen nach der Tiefe zu gehen: sie lebt augenscheinlich sehr in einsamer geistiger Welt der Betrachtung: besonders auffallend ist die leichte Erregbarkeit ihres Wesens und Gemüthstiefe liegt in allen Zügen ihres Wesens. Sie ist gewiß ihm unbedingt ergeben, von herzlicher Gemüthsoffenheit, der Leitung und der Anregung ihres mehr passiven Wesens sehr bedürfend. Sie liebt Wehrenpfennig – wie aus ihren Äußerungen Frau Dr. gegenüber hervorgeht – mit dem unbedingten Enthusiasmus, dessen er wie ich glaube bei einer Frau bedarf. Die Gegenseite dieser leichterregbaren Gemüthstiefe ihres Wesens ist offenbar praktisches Ungeschick … Dagegen wird sie gewiß, was das Innere angeht, stets Behagen um sich verbreiten durch die mittlere Temperatur des Geistes, die an den Menschen wie an der Natur die glücklichste ist. Sie scheint fortwährend in einem gemäßigten Klima zu leben.“
Was für eine Beschreibung, was für ein Blick, was für ein Einfühlungsvermögen. Ganz jung war Dilthey, als er diese Zeilen mit 27 schrieb, nicht mehr, aber wer könnte so etwas heute noch verfassen, überhaupt noch wahrnehmen? Was diese Generationen noch sehen konnten, en passant, und mit welcher Sicherheit des Urteils und des Ausdrucks! Fragt man heutzutage jemanden nach seiner Impression von irgendwas, dann darf man sich schon beschenkt fühlen, wenn mehr als „schön“, „gut“ oder „schrecklich“ kommt. Warum? „Na, weil es eben gut war…“
Dabei ist hier nichts durchkomponiert. Die Wiederholungen weisen auf die Spontaneität der Zeilen hin, an denen nicht gefeilt wurde. Man hat fast die Vermutung, daß Dilthey – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – die Attraktivität, ein solches kleines Frauchen zu haben, aufgeht: mit mittlerer Temperatur des Geistes, unbedingt ergeben, der Leitung und Anregung bedürftig und nicht zu hübsch, damit sie einen selbst und andere nicht zu sehr erregt.
André Gide, Les Caves du Vatican, Erstes Buch, Abschnitt II
Beschreibung der Gattin von Anthime Armand-Dubois:
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Véronique portait toujours, piquées à son caraco d’intérieur, sous le sein gauche, deux aiguilles tout enfilées, l’une de blanc, l’autre de noir. Près de la porte-fenêtre, sans même s’asseoir, elle commença la réparation. Anthime cependant la regardait. C’était une assez forte femme, aux traits marqués; entêtée comme lui, mais accorte après tout, et la plupart du temps souriante, au point qu’un peu de moustache ne durcissait pas trop son visage.
— Elle a du bon, pensait Anthime en la voyant tirer l’aiguille. J’aurais pu épouser une coquette qui m’eût trompé, une volage qui m’eût planté là, une bavarde qui m’eût rompu la tête, une bécasse qui m’eût fait sortir de mes gonds, une grinchue comme ma belle-soeur…
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Véronique trug stets, in ihr Hausmieder unter der linken Brust eingestochen, zwei fertig eingefädelte Nadeln, eine mit Weiß, eine mit Schwarz. An der Fenstertür begann sie die Reparatur, ohne sich auch nur zu setzen. Anthime jedoch schaute sie an. Es war eine recht kräftige Frau mit markanten Zügen; halsstarrig wie er, doch alles in allem freundlich und meist lächelnd, so dass sogar ein bisschen Bartwuchs ihrem Gesicht keine Härte gab.
— Sie hat etwas Gutes, dachte Anthime, wie er sie die Nadel zücken sah. Ich hätte auch eine Kokette heiraten können, die mich betrogen hätte, eine Flatterhafte, die mich hätte sitzenlassen, eine Geschwätzige, die mir den Kopf hätte platzen lassen, eine dumme Pute, die mich hätte ausrasten lassen, eine Verhärmte wie meine Schwägerin …
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Das Werk Gides, gestorben 1951, ist hierzulande inzwischen gemeinfrei. Unbedingt zu lesen: Die Verliese des Vatikans, aus dem obiges Zitat stammt.
Seidwalk: Habe es mir zurecht gelegt – wird sowieso Zeit, mal wieder was Normales zu lesen! Übersetzung Schlientz, dva
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