Wer seriös Nietzsche zitieren will, der greift seit 35 Jahren zur Kritischen Gesamtausgabe aus dem Hause De Gruyter oder wenigstens zur Kritischen Studienausgabe des dtv-Verlages. Beide begrüßen den Interessenten mit einem Skandalon. Man liest auf ihnen: „Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari“. Wie aber kamen zwei Italiener dazu, das deutsche Ereignis Nietzsche herauszugeben? Der Geschichte dieser „Rettung“ geht der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch in seinem Buch „Wie Nietzsche aus der Kälte kam“ nach.
Nietzsche KSA: Werke, Briefe, Frühe Schriften
Schon nach der Lektüre der ersten Seiten weiß man, daß man es mit einem wilden Ritt durch Geschichte und Philosophie zu tun haben wird, daß Felsch ein untrügliches Gespür für Inszenierung besitzt und daß Lesegenuß, Information und Denkarbeit sich glücklich vereinen werden. Wie er das nun historische „deutsch-französische Gipfeltreffen“ in der Abtei Royaumont im Juli 1964 arrangiert, wo wesentliche auf Jahrzehnte richtungsweisende Weichen der Nietzsche-Rezeption gestellt werden sollten, das läßt das Herz eines jeden Nietzsche-Lesers höher und schneller schlagen. Anwesend sind drei maßgebliche Fraktionen. Zum einen die alte bestandswahrende Garde der kritischen und konservativen Nietzscheaner – Löwith, Wahl, Marcel und in abwesender Anwesenheit auch Heidegger –, zum anderen die noch wenig bekannten französischen Linksnietzscheaner – allen voran Foucault und Deleuze –, und mittendrin die beiden italienischen Editoren, die vielleicht schon ahnten, daß ihre philologische Lesart der Gewalt der Differenz nicht wird widerstehen können. Die Konstellation widerspricht schon damals Habermas‘ Verdikt (1968), daß von Nietzsche „nichts Ansteckendes“ mehr ausgehe.
Im Gegenteil: Nietzsche ist gerade dabei abzuheben. Deleuze, Derrida, Blanchot, Lacoue-Labarthe, Nancy, Barthes und andere Vertreter des sogenannten Postmodernismus entdecken im vermeintlichen Nazi-Philosophen die ersehnte Werkzeugkiste, aus der man sich in „wilder Exegese“ frei bedienen kann, den man „benutzen, verzerren, mißhandeln und zum Schreien bringen“ (Foucault) soll, um ihm Anerkennung zu zollen. Das Paradoxe daran: diese Methode hat nicht nur bedeutende Nietzsche-Interpretationen hervorgebracht, allen voran Deleuze‘ „Nietzsche und die Philosophie“, sie hat die Philosophie über Jahre befruchtet – davon legen die Sammelbände „Nietzsche aus Frankreich“ oder Ernst Behlers „Derrida-Nietzsche“ Zeugnis ab und noch die Derrida-Gadamer-Kontroverse[1] schien davon belebt.
Den Editoren waren solche Auswüchse suspekt. Colli, der klassische Gelehrte und Gräzist, lange Jahre Lehrer und Mentor des jüngeren Montinari, der sich als unstete Person der kommunistischen Partei Italiens angeschlossen hatte, um durch die Ereignisse 1956 parteipolitisch heimatlos zu werden, hatten ganz andere Ideen. Sie wollten Nietzsche wertfrei edieren und zwar auf Punkt und Komma. Dessen Nachlaß jedoch lagerte im ostdeutschen Weimar und wurde in der DDR wie gefährliches Frachtgut behandelt. Lukács hatte mit seiner „Die Zerstörung der Vernunft“ das letztgültige Verdikt gesprochen und Wolfgang Harich – selbst Autor beachtenswerter Gedanken zu Nietzsche[2] – achtete wie eine Art Rumpelstilzchen auf Einhaltung des historischen Urteils.
Montinari aber gelang es, nicht nur die DDR, sondern auch das Archiv zu infiltrieren und in jahrelangen Exerzitien jedes Wort Nietzsches zu entziffern, zu kontextualisieren und wieder verfügbar zu machen. Schon lange war bekannt, daß Nietzsches Schwester vor Textmanipulationen nicht zurückgeschreckt hatte, auch um den Denker den Nationalsozialisten anzudienen; vor allem das sogenannte Hauptwerk „Der Wille zur Macht“ fiel wieder in sich zusammen – allerdings hatte es bereits wesentliche Teile von Heideggers tiefsinnigen Auslegungen[3] inspiriert und schon damit ein eigenes Existenzrecht erworben.
Als Colli und Montinari allzu früh den typischen Archiv-Exitus im Dienste Nietzsches erleiden, da gingen sie mit der bitteren Einsicht, daß just ihre akribische Arbeit zum Tod des Autors in der Hyperinterpretation der Differenz-Exzesse beigetragen hat, denn gerade die Idee, nicht nur die Werke Nietzsches, sondern auch seinen wilden Nachlaß aus Zetteln, Notizen, Kladden und Heften zu veröffentlichen, hatte die Dekonstruktion erst ermöglicht. Schließlich konnte Derrida aufgrund ihrer Akribie mit guten Gründen sagen: „Die Gesamtheit von Nietzsches Text ist vielleicht, in höchstem Maße, vom Typ ‚ich habe meinen Regenschirm vergessen‘“[4].
Felsch vollbringt das Kunststück, diese komplexe Editions- und Wirkungsgeschichte in ihrer weltgeschichtlichen, philosophiehistorischen und biographischen Verwirrung über Raum und Zeit zu einem konzisen Text zu verweben, der unter die Rubrik „spannend erzählt“ zu rechnen ist. Über allem wird deutlich: Nietzsche war, ist und wird ein offenes Schlachtfeld bleiben.
Philipp Felsch: Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung. Verlag C.H. Beck, München 2022, 287 Seiten, 26 Euro