Denkanstöße – Bollnow (1962)
Wir brauchen uns nicht damit aufzuhalten, den Geist dieser Maßlosigkeit in unserer Gegenwart im einzelnen sichtbar zu machen. Die Maßlosigkeit schon unserer äußeren Lebensansprüche ist oft genug, wenn auch vergeblich angeprangert worden. Ob es nun der Fernsehapparat ist, das eigene Auto oder die Ferienreise nach Mallorca: in allem strebt der Mensch über seine vernünftigen Grenzen hinaus. Dabei wendet sich die Kritik nicht gegen die Bedürfnisse als solche, deren Erfüllung gewiß das menschliche Leben in einer schönen Weise zu bereichern vermag, sondern dagegen, daß diese Bedürfnisse den Menschen versklaven und daß er in der Ruhelosigkeit der immer erneuten Anstrengung gar nicht dazu kommt, das Gewonnene auch zu genießen. Kaum ist das eine Ziel erreicht, so treibt das neue Bedürfnis den Menschen zu neuer Anstrengung weiter. Darum ist es auch hier die Frage des rechten Maßes; denn das übersteigerte Verlangen nach Lebensgenuß untergräbt notwendig die Voraussetzungen des Lebensgenusses selbst und hebt sich also selber auf. Maßlosigkeit heißt hier Ruhelosigkeit und ewige Hast.
Ähnlich ist das Verhältnis in der modernen technischen Welt. Eine Erfindung jagt die andere, ein Rekord sucht den bisherigen zu überbieten, und die Entwicklung des technischen Fortschritts droht sich in immer schnellerem Tempo zu überstürzen. Der Hang zum Quantitativen, zum rein zahlenmäßigen Maßstab für die Entwicklung beherrscht alles. Wiederum wäre es sinnlos, sich gegen eine unvermeidliche Entwicklung zu sträuben und in die Rousseausche Idylle zu entfliehen. Das Problem ist vielmehr, daß der Mensch in seinem Innern sich von dieser äußern Entwicklung nicht überrennen läßt, daß er auch im wachsenden Betrieb seine innere Ruhe zu wahren versteht. Das ist die Aufgabe, die jedem einzelnen in unserer industriellen Welt gestellt ist. Aber auch das ist wiederum eine Frage des rechten Maßes.
Ich verdeutliche diese Unrast unserer Zeit an einem einfachen Beispiel, das den meisten wohl aus eigener Anschauung bekannt ist: am Auto. Das Streben nach einem eigenen Wagen gehört zu den tief sitzenden Bedürfnissen unserer Zeit, auch wo dieses wirtschaftlich nicht einmal sinnvoll ist. Und die Ausweitung des Lebens, die dadurch ermöglicht wird, ist auch gar nicht zu bezweifeln. Aber nur die wenigsten vermögen damit richtig umzugehen. Im Auto steckt die Tendenz, weiterzufahren und möglichst schnell weiterzufahren. Eine schöne Landschaft bemerkt man wohl eben, aber mit flüchtigem Blick fährt man vorüber. Ein freundliches Städtchen lockt zum Verweilen, vielleicht, so meint man, sollte man es einmal näher besehen, aber ein andermal, denn diesmal fehlt es an Zeit, und ein andermal ist es genauso. Wer nimmt sich schon die Zeit, beim Schönen zu verweilen? Im Auto steckt geradezu ein Sog zum Weiterfahren, und in diesem Sinne könnte man fast von der Dämonie des Autos sprechen, der der Fahrer unterliegt. Aber das ist nicht notwendig so, man kann sich auch dagegen wehren und man kann auch vernünftig mit so einem Wagen umgehen; man kann sich auch Zeit lassen und verweilen, wo es sich zu verweilen lohnt. Aber das geschieht nicht von selbst, sondern das verlangt vom Menschen erst eine erhebliche Anstrengung, nämlich die Leistung seiner maßhaltenden Vernunft, die sich erst im Gegenzug gegen eine natürliche Versuchung betätigt.
Dieses einfache Beispiel sollte zugleich allgemein das Verhältnis des Menschen zur Technik verdeutlichen. Der Mensch braucht sich von ihr nicht beherrschen zu lassen, er kann ihr gegenüber auch seine innere Überlegenheit bewahren, aber das erfordert die volle Anspannung seiner maßhaltenden Vernunft, und diese wird immer größer und immer schwerer, je weiter die technischen Möglichkeiten wachsen. Fehlt diese maßhaltende Kraft, so wird der Mensch zum Opfer des technischen Fortschritts, und es kommt zu jenem gefährlichen Mißverhältnis, das der Physiker Born kürzlich dahin ausgesprochen hat: „Die Raumfahrt ist ein Triumph des Verstandes, aber ein tragisches Versagen der Vernunft.“