Der falsche Verzicht

Sparen ist der neue Luxus. Um sich gewisse Idiotien bewußt zu machen, hilft es manchmal, sich des Erstimpulses zu erinnern. Jeder kennt das: wenn man in eine neue Arbeitsstelle kommt, dann fallen einem schnell die Unsinnigkeiten im System auf, man wagt aber als Neuling und Machtloser nicht das kritische Wort, will es sich für später aufheben, hat sich dann aber schnell eingelebt und sich an die Schwachstellen gewöhnt, partizipiert möglicherweise an ihnen oder profitiert gar.

Ich entsinne mich an einen überwältigenden Eindruck, als ich das erste Mal in das System BRD eintrat. Das war in Westberlin. Ich war übermannt von so viel Licht in der Nacht. Überall flackerte und flunkerte es und mein erster Impuls war: wozu? Es erschien mir abartig, Energie dafür zu verwenden, um etwa einen Firmennamen in die Welt zu posaunen. Und überhaupt: welche „Stimmung“ erzeugte das Geflacker und Gezucke? Sicher, es war bunt und das Bunte spricht uns an wie das Süße, aber es war auch nervös und einfach nur zu viel, es verleitete zur Hektik und zum Überall-Nur-Hinschauen. Auch wenn es in gewissem Sinne „schön“ war, so empfand ich es doch als falsch. Es war leerer Luxus.

Man muß den Unterschied zwischen einer sinnvollen Straßenbeleuchtung und einer Anstrahlung eines Hauses etwa verstehen. Das eine ist sinnvoll und hilfreich, das andere Schwelgerei. Aber Luxus – falscher Luxus –  hat seinen Preis – er verschlingt Ressourcen und er verändert den Menschen. Er kann weg – das war mein instinktiver Impuls.

Vermutlich liebe ich es deswegen, alte Photographien zu sehen: die Straßen noch leer, kaum ein Auto, die Flächen weit, die Menschen wirken ruhiger und würdevoller. Der Ethnologe David Graeber hatte den Begriff des Bullshit-Jobs geprägt. Ein salopper Begriff, den ich damals als Wort nicht kannte, aber instinktiv als Konzept schon. Diese Lichter waren Bullshit.

Und überhaupt war der Westen voller Bullshit! Voller Dinge, die kein Mensch braucht, die es nur gibt, weil jemand damit Geld verdienen konnte, minderwertige Produkte, überflüssiger Tand, Myriaden nutzloser Dinge, perverse Verschwendung überall und sogar falsche und verlogene Konventionen. Nicht, daß es so etwas im Osten nicht gegeben hätte – ich will nicht romantisieren – aber das hier war eine komplett neue Dimension, um den Faktor 100 vielleicht multipliziert. Der Westen war zum Großteil Bullshit, Fassade, Falsch, Überfluß, zu viel Oberfläche, zu wenig Gehalt, zu wenig Wesentliches in der Masse des Nebensächlichen … ich mochte ihn nicht sonderlich.

Wie immer jedoch gewöhnt man sich ein, läßt sich bestechen – zum Bsp. durch den freien Zugang zu allen Lektüren, die man freilich unter einem Wust an Müll hervorsuchen mußte –, findet man seine Nische … der erste Impuls schwächt sich ab, man beginnt selbst, Schund und Müll zu konsumieren, anfangs noch mit schlechtem Gewissen, später, ohne es oftmals zu bemerken.

Eigentlich müßte ich also froh sein, wenn jetzt die karge Zeit anbricht, wenn wir sparen müssen, wenn wir etwa beginnen, sinnlose Beleuchtungen auszuschalten, wenn wir wieder reale Preise zahlen müssen, wenn wir uns drei Mal überlegen, ob wir dieses oder jenes wirklich haben müssen, wenn wir wieder zu reparieren und zu pflegen beginnen, wenn die Beziehungen zum Nachbar wieder essentiell werden, weil er über andere Ressourcen verfügt, wenn die Verhältnisse wieder wechselseitig werden, wir alle etwas geben und nehmen, ein wahrer Austausch … An sich wäre das alles richtig! An sich könnten wir unseren Verbrauch vielleicht um den Faktor 100 minimieren, ohne wirklichen Verlust an Lebensqualität zu erleiden.

Es gibt dieses Element, diese Erleichterung: endlich! Endlich Schluß mit dem Wahnsinn. Und doch stellt sie sich nicht ein, doch ist es falsch. Es kommt aus den falschen Voraussetzungen im falschen Gesamtgefüge. Es kommt nicht aus der Einsicht, aus dem rationalen Rückbau, es kommt nicht aus dem Geist des Konservatismus, der Demut und der Freiheit, des Gewinns an Qualität durch Verlust an Quantität, es kommt nicht mal aus einer verständlichen Not,  und es wird vorgeschrieben und zwar von einer gescheiterten Elite, die in ideologischen und selbst angelegten Zügeln agiert.

Dieses Sparen muß man sich leisten können. Dieses Sparen ist ein Luxus, ein leerer Luxus.

4 Gedanken zu “Der falsche Verzicht

  1. otto schreibt:

    Der Kolonialismus moduliert alle 30 Jahre sein Grundthema. Sein Ziel, den trismegalen Pandoulismus, d. h. die Versklavung des Menschen über den Geist (falsche Lehre), um die Seele zu verformen (falsche Wünsche), bis zum falschen körperlichen Sein (ewige Krankheit), bleibt immer dasselbe. Die Kulisse, Steinzeitkommunismus a la Pol Pot oder demokratischer Konsumrausch, ändert sich, das Ziel nicht, den Menschen daran zu hindern, zu sich selbst zu kommen.

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  2. Pérégrinateur schreibt:

    Zu den alten Photographien: Vermutlich haben sich die damaligen Photographen zu sehr früher Stunde aufgemacht, nämlich just eben nachdem die früh aufstehenden Knechte der Stadtreinigung die Pferdeäpfel entsorgt hatten, die sonst das Bild verunziert hätten.

    Zu den Stoßzeiten dagegen war das Menschengewimmel wenigstens so groß wie heute, da nun ein großer Teil derMenschen, von den Plätzen und Straßen aus weniger sichtbar, von ÖPNV und Privatfahrzeugen transportiert wird und nicht mehr im aufrechten eigenen Gang wandelt.

    Unlängst bin ich einem Link, ich meine bei Danisch, zu einem Filmclip gefolgt, der Straßenszenen mit dem cable car in San Francisco zeigte. Die Fußgänger gingen wild über die Fahrstraße und über den Schlitz mit dem Kabel in der Straßenmitte, gerade noch eben vor einer nahenden Kabine; rücksichtslos und unachtsam wie heute, aber mit schickem Kreissägenhut bzw. mit voluminösen Kleidern.

    Nihil novum sub sole.

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    • Sicherlich war der Lärm in den Metropolen oft unerträglich, allein schon durch das Trappeln der Pferde und Rattern der Kutschen auf Kopfsteinpflaster. In Charlie Chaplins „City Lights“ gibt es so eine Szene, wo er als „Street Sweeper“ Pferdeäpfel einsammelt; das Unternehmen beschäftigte eine ganze Armee solcher Leute: https://youtu.be/TkF1we_DeCQ?t=2750

      Mittlerweile ist das Netz ja voll mit derartigen historischen Straßenrundgängen. Was bei aller Hektik dennoch auffällt, ist die würdevollere Haltung der Menschen. Ich rechne das dem Hut zu, der in der Haltung immer zieht, und den Kleidern und Anzügen. Korsetts mögen auch eine Rolle gespielt haben ebenso wie Spazierstöcke. All das verleiht Haltung. Und natürlich Konventionen wie das Hütlüften bei der Begrüßung.

      Ich dachte dennoch eher an ein Bild wie dieses: https://www.facebook.com/photo/?fbid=604509317846515&set=gm.6237212762961133&idorvanity=5240948239254262

      Es zeigt Marosvasárhely in den 60er Jahren, jene Stadt also, die wir aufgrund des Lärms und des Gestanks geflohen sind. Der Hauptplatz, heute ein Inferno aus Krach, pestilenzialischem Gestank und Hektik. Verursacher ist das Auto. In Rumänien war die relative Armut ursächlich, so wie in der DDR auch. Wir konnten als Kinder noch stundenlang auf der Straße spielen, ohne das ein Auto gestört hätte.
      Böll hatte das für Italien irgendwo beschrieben, daß der Wechsel von der Eselskarre zur Vespa das Land ruiniert hätte. Und so ist. Auch Italien ist ein unangenehmes Land geworden – andere Gründe kommen hinzu.

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      • Pérégrinateur schreibt:

        Die Usurpation von Flächen für den Autoverkehr ist in der Tat oft ärgerlich. Im Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gab es manchen Straßen entlang eine dort so genannte Kantel – ein Wort übrigens aus der Familie von Kanal, dessen Etymologie bis zu einer sumerischen Wurzel der Bedeutung ‚Rohr‘ zurückreicht – also eine flache Betonschalenrinne, in der das Regenwasser abfloss. Ich erinnere mich angenehm an einen Wolkenbruch im Sommer, der feinen Lehm von den Feldern über Hunderte von Metern herangeführt hatte. Wir Kinder liefen in der Rinne barfuß durchs inzwischen ruhiger fließende warme Wasser und die fein sortiert sedimentierten Bröcklein und spürten dabei, wie der Lehm zwischen den Zehen zäh nach oben quoll wie Paste aus der Tube.

        Alles vorbei, die Straße wurde inzwischen so weit verbreitert, dass die Kantel verschwunden ist und ein gepflasterter Gehweg angelegt wurde, der auf Höhe der Häuser teilweise nur 40 Zentimeter breit ist; man kann, ohne auf die Fahrbahn zu treten, also nicht einmal einen Trolleykoffer hinter sich herziehen.

        Jetzt kommen mir auch Bilder wieder vom Schulweg im Winter. Arbeitsbeginn der allermeisten war damals um sechs Uhr. Zuweilen lag nach frühmorgendlichen Niederschlägen dann zwischen sieben und acht Uhr noch eine makellose Schneefläche auf der Landesstraße, deren Unberührtheit durch meine Tapfen zu stören mir Unbehagen bereitete. Allein das Knarzen des verdichteten Schnees unter den Schuhsohlen oder selbst das Auffliegen von Vögeln von Ästen, durch das Schneebrocken herabpratzten, war schon eine Störung des schallgedämpften Knabenmorgenfriedens.

        Aber man sieht ja ohnehin kaum Kinder mehr draußen spielen; vermutlich tun diese besser daran, die Deklination von „divers“ durch siebenundachtzig Genus hindurch zu lernen.

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