Da ich in freundschaftlicher Beziehung zu Ungarn des linken und des rechten Spektrums stehe, kommen auf meiner Facebook-Seite, die ansonsten ruht, immer wieder entsprechende Propagandawerke an. Dies hier ist von einem rechten Freund gepostet.
Es besagt in etwa: „Heule nur. Ungarns Wirtschaftswachstum steht an dritter Stelle in der EU.“ Das ist wohl eine ironische Erwiderung an alle Orbán-Kritiker. Im ungarischen Netz gehen solche Liebesbriefe hin und her, sie scheinen beliebt zu sein, ohne den Gegner vermutlich je zu erreichen; ihre Funktion ist die Selbststärkung der jeweiligen Blase.
Dieses Banner hat in der Sache aber etwas für sich. Während man die deutsche Öffentlichkeit darauf vorbereitet, den Gürtel enger zu schnallen, könnte Ungarn vom Krieg und der Sanktionspolitik langfristig profitieren. Relativ, denn auch in Ungarn ist man insgesamt skeptisch und bereitet sich auf schwere Zeiten vor, der Geschäftsklimaindex sinkt, einen europäischen Kollaps könnte auch das kleine Ungarn nicht überstehen.
Aber während Scholz und Habeck hektisch um die Welt jetten, um in Kanada oder Katar betteln und bitteln zu gehen, hat Ungarn soeben den Vertrag mit einem russischen Hersteller festgezurrt, der den Ausbau der Atomkraftanlage in Paks sicherstellt. Zwei neue Reaktoren sollen her und laut Außenminister könnte es nun sehr schnell gehen und schon in einem Jahr neuer Strom fließen.
Zuvor schon hatte man sich russisches Gas langfristig und günstig bis 2036 gesichert und läßt dieses auch nicht mehr durch die Ukraine, sondern über die TurkStream fließen. Die einen mögen das moralisch bewerten und zynisch nennen, die anderen ökonomisch und pragmatisch. Fakt ist: Moral kann man nicht essen.
Deutschland, Deutschland über alles wird im Gegenzug ein immer unsicherer Wirtschaftsstandort. Das Hin und Her der Regierung, die ad-hoc-Entscheidungen, die zunehmenden planwirtschaftlichen Eingriffe, der moralische Imperativ, die unsichere Energielage etc. lassen Planungssicherheit kaum noch zu. Wer weiß schon, wie die Situation in einem Jahr sein wird? Sicher nicht besser. Die schon jetzt exorbitanten Energiepreise, zu denen sich die Materialpreise und die Personalkosten summieren, werden viele Unternehmen in die Knie zwingen, schon gibt es erste Konkurse, Kurzarbeit, temporäre Stillegung von Anlagen, einige Städte und Regionen – denken wir an Schwedt – wird es besonders hart treffen. Die logische Konsequenz ist die Abwanderung, die Suche nach neuen sicheren Standorten. In Europa bietet sich dafür wohl kein Land besser an als Ungarn. Energie ist relativ preiswert und langfristig gesichert, die Lohnkosten sind deutlich niedriger als in Deutschland, der Ausbildungs- und Qualifikationsstand hoch …
Schon haben sich namhafte deutsche Firmen in Ungarn angesiedelt, Rheinmetall etwa in Zalaegerszeg, Mercedes in Kecskemét, BMW in Debrecen und Audi in Györ. Dort hat man sogar eine deutsch-ungarische Schule gegründet, um den Standort abzusichern.
Wir waren erst vor wenigen Tagen in Györ. Die Stadt blüht, sie nimmt in der Liste der lebenswertesten Städte in Ungarn den zweiten Platz ein (nach Stuhlweißenburg). Auch im Umland haben sich zahlreiche deutsche, österreichische oder europäische Firmen angesiedelt. Ein eigenes gasbetriebenes Kraftwerk ist nicht zu übersehen. Von Metallverarbeitung bis zur Lebensmittelindustrie ist alles dabei. Man erkennt diese Firmen sofort an der Sauberkeit und Akkuratesse, sie werden auch einen Lerneffekt mit sich bringen.
Freilich bringt das auch Folgeprobleme. Wir übernachten in einem idyllischen Dorf an der Donau. Die erste Hausreihe am Ufer besteht aus pittoresken renovierten ehemaligen Fischerhäusern. Von dort hat man einen grandiosen Blick über Fluß und Landschaft, weit in das slowakische Gebiet hinein. Der Ort strahlt mediterranes Flair aus, eine Strandpromenade mit Spielplätzen, Sitzgelegenheiten, Palmen, alles ist da, alles neu und sauber. Am Abend sitzen wir in einem „Bistro“ am Wasser. Das Publikum ist rein ungarisch, aber sichtbar gehobene Mittelschicht. Dort trinke ich den besten Pálinka meines bisherigen Lebens – ein Vilmos Körte. Wir erfahren, daß die gesamte erste Hausreihe von einem österreichischen Wurstfabrikanten aufgekauft wurde, wozu, das wußte man nicht zu sagen.
Auch leidet Ungarn trotz allem Gesagten derzeit unter Öl- und Treibstoffmangel. Wir selbst mußten einmal mehrere Tankstellen anfahren, weil den anderen der Sprit ausgegangen war. Ursache dafür ist eine größere Havarie in der großen Raffinerie in Százhalombatta, der Unfall in Schwechat tat ein Übriges. Dies ist der Grund – und weniger der Krieg –, weshalb Ungarn Benzin teilweise rationiert und die Preise staatlich regelt, weswegen Ausländer fast doppelt so viel bezahlen wie Besitzer ungarischer Kennzeichen. Auch hier werden die Menschen freilich durch politische ad-hoc-Entscheidungen verunsichert, etwa wenn über Nacht die Gruppe der Begünstigten neu definiert und der Literpreis für die meisten von 480 auf 699 Forint erhöht wird. Es gibt selbst hier Unwägbarkeiten.
Dennoch, Ungarn könnte noch von einem weiteren Effekt profitieren. Wenn nämlich im Lande neue zukunftssichere und gutbezahlte Arbeitsplätze durch den Zuzug ausländischer Firmen entstehen und zugleich in Deutschland die Lichter ausgehen, dann dürften viele der ungarischen Arbeitnehmer, die jetzt in Europa ihre Brötchen verdienen, ins Heimatland zurückkehren. Die Sehnsucht ist ohnehin bei vielen da. Ich kenne selbst mehrere Leute, die zurück wollten, nachdem sie sich ein bißchen Geld zusammengespart haben. Dabei handelt es sich oft um die bestqualifizierten Kräfte, die der europäische Markt dem ungarischen entzogen hatte – ein hoher, oft vergessener Preis für vier Milliarden Euro EU-Fördermittel[1]. Sie würden die deutsche Misere vergrößern und die ungarische Position zusätzlich stärken.