Ich ergreife den Blick des anderen im Innern meines Aktes als eine Verhärtung und Entfremdung meiner eigenen Möglichkeiten. (Sartre: Das Sein und das Nichts)
Im Sommer, d.h. von April bis Oktober, versuche ich, konsequent barfuß zu gehen[1]. Das bringt einige moralische, gesundheitliche und kulturelle Dilemmata mit sich – besonders in Ungarn.
Mittlerweile gibt es unzählige wissenschaftliche Studien darüber, was der gesunde Menschenverstand bereits weiß: Barfußlaufen ist gesund. Gerade erst habe ich eine Sendung im Kossuth-Radio gehört, in der man den Kindern mit Haltungsschäden das schuhlose Laufen empfiehlt: es stärke die Beinmuskulatur, zwinge zum Ausbalancieren, bringe die Gelenke wieder in die natürliche Position, straffe die Haltung usw. Das wohltuende Kribbeln der Durchblutung in den Fußsohlen nach einem langen Tag ohne Schuhe, einer Wanderung, einem Schotterweg … gibt mir als natürliches Signal recht. Unnatürlich am Barfußlaufen ist heutzutage eher der artifizielle Untergrund – ob es noch seine Berechtigung hat, müßte von dieser Perspektive aus diskutiert werden.
Wer barfuß läuft, weiß, daß die Vorteile – oder sagen wir besser: die Konsequenzen freilich noch viel weitgehender und existentieller sind. Barfußlaufen ändert die Weltsicht, denn es versorgt den Gehenden mit dem permanenten Bewußtsein einer gesunden Portion Zukunftsoffenheit und Aufmerksamkeit, nein, präziser: Achtsamkeit. Thích Nhất Hạnh, der große Verkünder der Achtsamkeit, hatte vermutlich seine Freude daran, er verkündete ein „Leben ohne Angst“. Das Paradox: Die Angst schwindet, indem man sich selber verletzbarer macht; zugleich steigt aber auch die Achtsamkeit, denn jeder Schritt könnte einen potentiellen Schmerz, eine Verletzung gar bedeuten, und die Schmerzresilienz nimmt zu, denn die Abhärtung führt zu höherer Verträglichkeit der Außenangriffe. Die urphilosophische Frage „Woher kommen wir? – Wohin gehen wir?“ erhält einen eigenen Sinn.
Die Gefahr der Verletzung nimmt zwangsläufig mit der Gewöhnung ab. Es gibt bei Gorki irgendwo eine Stelle, wo ein Junge, der in seinem Leben noch nie einen Schuh angehabt hatte, sommers wie winters, auf einen Igel tritt, ohne diesen auch nur zu bemerken. Andererseits weiß jeder, der größeren Haustieren gehört, daß ein Sporn in der Pfote schlimme Folgen haben kann. Der schlimmste natürliche Feind des Löwen ist der Dorn und nicht der Elefant, das Krokodil oder die Schlange – den Mensch aus der Rechnung heraus gekürzt.
Auch bei mir vergeht so kein Jahr ohne irgendein Wehweh. Ein, zwei Bienen- oder Wespenstiche sind obligatorisch – ein nettes Schmerztraining –, kleinere Stachel und Dorne sind kaum zu vermeiden, insbesondere wenn man im eigenen Garten Disteln und Schlehen pflegt. Aber auch ein einfacher Schotterweg kann schon weh tun.
Einmal trat ich mir auf dem Dachboden eines alten Hauses eine große Glasscherbe ein. Es blutete wie verrückt, ich rief nach meiner Frau, aber die hörte nicht und in diesem Zustand konnte ich schwerlich die Treppe hinunter und durchs ganze Gebäude laufen. Ich zog den großen Splitter selbst heraus. Fünf Jahre später bemerkte ich dort eine Beule, jemand empfahl eine Zugsalbe, dann drückte ich etwas und wie aus einem Vulkan schoß mit einem Male ein zwei Zentimeter langes Glasstück aus meiner Fersensohle heraus und mit ihm gallertartiges wild gewuchertes Fleisch, gänzlich ohne Blut. Fünf lange Jahre hatte der Körper gearbeitet, mit dem Fremdkörper umzugehen, ohne daß es mich großartig gestört hätte. Nun klaffte ein großes, sauberes, rundes Loch in meiner Ferse, in dem man fast bis zum Knochen blicken konnte.
Es ist also nicht ungefährlich, auf Schuhe zu verzichten. Man darf die Bedeutung der Kulturleistung Schuh auch nicht unterschätzen. Der Schuh war eine wesentliche Bedingung für die kulturelle Eroberung der Welt. Aber nichts kommt ohne Preis, weder der Schuh noch das Barfußlaufen. Wie viele Millionen Menschen der Schuh vor Schmerz, Verletzung und Tod im Laufe der Geschichte gerettet haben mag, kann man nur spekulieren, aber umgekehrt hat er das natürliche Gleichgewicht massiv beeinträchtigt und ohne Stiefel etwa, wären unzählige Soldaten wohl nie ins Verderben marschiert …
Es ist also auch nicht ungefährlich, Schuhe zu tragen. Ob Füßebinden oder Stöckelschuh, ob MBT– oder Zehenschuhe, die vielen hunderten Varianten bedeuten immer etwas, sie sagen etwas über den Zeitgeist und die Gesellschaft aus. Nur das Barfußlaufen ist bedeutungslos gewesen, zumindest solange es noch keine Moden und Vorschriften gab.
Heute aber gibt es die und in einigen Ländern sind sie stärker als in anderen. Dort, wo die Individualität nach unserem Verständnis eingeschränkt ist, wird das Abweichen von der Norm stärker sanktioniert. In Ungarn etwa trägt man Schuh und zwar möglichst gepflegt. Natürlich steht das nicht im Gesetz und jedermann kann so herumlaufen, wie er möchte, allein die Masse formt die Norm und wenn alle Menschen in Schuhen gehen und die meisten in ausgewählt sauberen, modernen, schönen, dann wird das Tragen quasi zum Zwang. Daß dem so ist, zeigen die Blicke, wenn man es nicht tut. Allerdings ist der Blick auch die einzige Form der „Kritik“. Das kann der interessierte Blick sein, sogar der wohlwollende, aber auch der skeptische oder abweisende, aber der Blick des anderen ist allgegenwärtig, man müßte die Augen schließen, wollte man sich seinem Eindruck entziehen. Es tut sich also die Frage auf, ob man diesen Blick ertragen möchte – aus der Eigenperspektive – und ob man die Einheimischen durch sein Anderssein verunsichern möchte – aus der Fremdperspektive.
Übrigens ist das kein rein ungarisches Phänomen, auch in anderen Ländern mag es so sein und selbst in der sächsischen Stadt erntet man mitunter schiefe Blicke oder Kommentare. In Ungarn aber ist man zu alledem auch noch Ausländer, Fremder, Gast. Noch ein Konflikt tut sich also auf. Es ist die Aufgabe des Fremden, sein Fremdsein nicht übermäßig zu betonen, so wie es auch sein Recht ist, es nicht gänzlich zu verleugnen. Eine Frage der Balance. Oft kann schon die fremde Sprache – umso mehr die deutsche Sprache, die vielerlei Reaktionen hervorrufen kann – eine ungewollte Distanz schaffen, weshalb ich es in der Regel vermeide, laut Deutsch sprechend durch ungarische Mengen zu gehen. Dieser Tage freilich ließ es sich nicht vermeiden, denn ich lief mit einem jungen Mann, der Deutsch lernen mochte. Und ich lief dazu barfuß. Zwar auf einem Spazierweg an einem Flußufer, aber dennoch als Einzelner, als derjenige, den die anderen wegen der nackten Füße ansehen.
Ähnlich der Effekt während eines großen Straßenfestes. Es war dunkel und die Menge stand eng an eng und nur wenige haben es überhaupt bemerkt – aber die hatten jenen Blick.
Ich kann dieses Dilemma nicht auflösen, das Dilemma zwischen dem an-sich-Guten, dem Natürlichen und den gesellschaftlichen Konventionen in einer Kultur, deren Gast ich bin. Also muß man operativ entscheiden. Dort, wo „man“ es nicht macht – direkt in der Stadt, auf Feierlichkeiten, in repräsentativen Gebäuden, in Geschäften etc. – trage ich mehr oder weniger gepflegtes Schuhwerk, bei anderen Gelegenheiten wage ich den „Affront“.
Das Privileg, in einem Land sein zu dürfen, in dem das gesellschaftlich Normale und Konventionelle noch Bestand hat, hat seinen Preis: die individuelle Freiheit. Es ist immer eine Frage der Mitte.
Kennen Sie Sockenschuhe? Z.B. Skinners oder Leguanos. Sind ein guter Kompromiss, wenn man sich so barfuß wie möglich bewegen und trotzdem Schutz vor Scherben etc. haben möchte.
Seidwalk: Kenne ich unter dem Namen „Barfußschuhe“. Habe ich bei längeren Wegen dabei, für den Fall der Fälle.
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Vergessen Sie nicht: Die meisten Menschen „müssen“ Arbeiten gehen. Das meint. Sie brauchen ihre Füsse noch am nächsten Tag. Bin selbst in diesem Jahr nolens-volens bei STRÖMENDEM Regen 25 km der ca. 30 km von Szécsény nach Mátraverebély mezdilábon gewandert, nachdem ich meine Römerlatschen in die Hand genommen hatte. Sie waren zu glitschig. Auf Asphalt war gut Gehen, im lehmigen Wiesengrund auch. Die steinigen und halbbefestigten Strecken waren eine Herausforderung. Hüpfen, in den Sandern der Rinnsale und in Schlamminseln nach Halt suchend, vor der Gewichtsverlagerung – eine ganz eigene Art der Welterfahrung und Fortbewegung. Die vielen Kilometer im feuchten Lehm wurden als ausgesprochen wohltuend empfunden. Im Nachhinein war es, als ob die Füsse intensiv durchmassiert worden waren. Die Blicke der Mitwandernden empfand Selbst, weil er das unpassenden Schuhwerk in der Hand hatte, eher als von Mitleid geprägt, sodass Zivilisationskritik oder andere, etwa medizinische Indikationen als Grund dieses Verhaltens nicht so nahe lagen. Trotzdem: Ein zweiter solcher Tag wäre wohl nicht gut gegangen. Die Erkenntnis: Die Zivilisation ruht auf den Caligulae.
Seidwalk: Ich gehöre zu den meisten – vielleicht ist das noch nicht zur Genüge deutlich geworden. Die Arbeit, die ich mache, könnten und wollten die meisten Menschen vermutlich nicht tun – sie wäre ihnen zu schmutzig und anstrengend.
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Ein sehr schöner Artikel.
Ich gehöre auch zur Barfußfraktion – aber nur in Wald und Park. In der Stadt liegt mir zu viel Müll herum.
Was die Blicke betrifft: Die kenne ich auch (hier in norddeutscher Heimat). Zwar sieht man nicht gar so selten andere Barfüßler, aber als reichlich komischer Vogel wird man wohl doch meist betrachtet. Aber es gibt auch viel anerkennenden Zuspruch.
Auf scherbenfreies Wandern, schönen Tag!
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Gehen Sie vor allem Wanderpredigern und fahrendem Volke aus dem Wege! Gehen Sie ungeimpft barfuß und genießen Sie Ihren Spaziergang mit allen Sinnen. War ja zu erwarten, daß sich der löwengleiche Sophist eines Tages verheddert, aber gerade zwischen Bloßfüßigkeit in der Natur und Giftspritzen aus der Hölle liegen derart phantastische Pointen, die auch erklären könnten, warum Sokrates lieber den Becher nahm, als sich den Quatsch seiner Zeitgenossen weiter anzuhören. Zum Abschied möchte ich Ihnen doch noch viaveto empfehlen. Dort finden sich glaubwürdige Hinweise auf die Geschichte vom Unsinn des Impfen sowie eine sogenannte Risiko-Nutzen-Analyse für die Wundstarrkrampfimpfung. Und zu den Zecken kann ich sagen, die sind schon seit der Mensch Antikörper hat mit allen möglichen Keimen wie Borrelien beladen und wirken doch eher putzig als angsteinflößend. Lassen Sie Ihre Frau am Abend die dicksten Viecher sanft absammeln und gut ist. 🤣
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Heil dem, der ein widerspruchsfreies Leben leben kann!
Es lohnt der Mühe nicht, Ihnen (romanfidel) zu antworten – das wollte ich eigentlich Pérégrinateur schreiben. Ihr Ton gefällt mir nicht, Sie scheinen „short fused“ zu sein, um es in Ihrer geliebten englischen Sprache zu sagen. Ihre Toleranzgrenze wirkt verbittert geschrumpft, auf alternative Modelle reagieren Sie mir zu schnell mit Invektiven – ich will Ihnen noch einen speziellen Sinn für Ironie zugute halten. Also mäßigen Sie sich bitte, wenn es hier zu einem Austausch kommen soll. Niemand wird verpflichtet, meine Ergüsse zu lesen – sagen Sie Ihnen nicht zu, dann lesen Sie doch andernorts.
Zur Sache: Borrelien kenne ich aus den unmittelbaren Umfeld und weiß sie zu respektieren. Deshalb nehme ich bei längeren Touren durch Wald und Wiese auch leichte und hoch abschließende Barfußschuhe mit und trage sie in diesen Situationen.
Impfungen prinzipiell zu verteufeln, halte ich für wenig sinnvoll. Tetanus ist eine bakterielle Erkrankung, die Impfung hat sich recht gut bewährt, Nebenwirkungen sind wohl gering – ich lasse mich gern belehren – und das Problem tritt häufiger auf, als man denkt. Ein mehr oder weniger offen ausgesprochener Vergleich zu Lauterbach-Elixieren verbietet sich.
Zu den Kannibalen: Ich habe nicht behauptet, daß diese große Kunst hervorgebracht hätten, sondern lediglich, daß ein hervorragendes Werk eines Menschen nicht apriorisch durch dessen Appetit auf Menschenfleisch berührt wäre. Das ist nicht zu verwechseln mit guter oder schlechter Literatur über Kannibalen, bei denen man sich ja nicht ums Feuer tanzende mit Knochen ins Kräuselhaar geflochtene Halbnackte vorstellen muß. Es gibt auch in Wohlstandgesellschaften vergleichbare Fälle, die in der Regel in die Psychiatrie eingeordnet werden – man kann das auch unter der Foucaultschen Brille sehen. Oder Hunger-Kannibalismus oder religiösen – vergessen wir nicht das: Dies ist mein Blut, dies ist mein Leib – oder tatsächlich tribalen. Das Problem dieser Leute könnte Stoff für große Literatur sein und umgekehrt könnten diese Leute große Literaten sein. Ich würde es lesen, wenn es denn so etwas gäbe und nach literarischen Kriterien bewerten … ohne zugleich in diesen Lüsten oder Zwängen zu schwelgen. Problem geklärt?
romanfidel: Wenn es nicht lohnte, mir die Frage von vor zwei! Tagen zu beantworten, ob Sie von Fermors nachrichtendienstlicher Tätigkeit wissen, wäre ein Ja oder ein Nein aus Ihrem Elfenbeinturm doch weit angebrachter gewesen als ihr Sermon dazu, was Sie von starkem und schwachem Denken oder schlechter und guter Literatur halten, denn das wollte ich gar nicht wissen. Auch meine zweite Krücke als Frage nach Ihren Skrupeln, Ihrer kuriosen Liste die Napalmpiloten von Dresden hinzuzufügen, haben Sie ausschweifend und großspurig ausgeschlagen. Und jetzt soll ich mich mit Ihnen tatsächlich über Borrelien, Wundstarrkrampf und Impfen streiten, weil Ihnen meine Art nicht paßt? Auf welchem Niveau denn? Denken Sie bei Spaziergängen in der Blaubeersaison mitunter auch an Tollwut? Ihren Impfausweis möcht‘ ich gern mal sehen. War das gemäßigt genug?
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Bitte Sorge für eine noch wirksame Wundstarrkrampfimpfung zu tragen, vor allem wenn Sie auch über Weiden oder auf Wildwechseln gehen.
Seidwalk: Ist gewährleistet. Größere Sorgen bereiten die Zecken, die hier leider oft positiv sind.
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