Sándor Márai: Das Kräuterbuch XXXIX
Über die Schande und den Schmerz der anderen
Der Mann, der sich gepanzert und des Menschen Stand entsprechend im grausamen Lebenskampf behaupten will, handelt richtig, wenn er sich selbst nicht nur zur Unparteilichkeit und vollkommenen Gerechtigkeit, sondern zum Stolz ohne Angst, zur Verachtung aller Arten menschlicher Kabalen und Gefahren, zu einem überlegenen Blick auf jederart menschlicher Lagen erzieht.
Unter Überlegenheit verstehe ich nicht die anmaßende Gleichgültigkeit, sondern die Kaltblütigkeit eines Mannes mit Verstand und Charakter, der allen Angriffen des Lebens trotzt.
Die menschliche Niederträchtigkeit, das Elend, das Gewebe aus Unglücken und Tragödien, die Eventualitäten, die jeden Augenblick um uns herum lauern, um das umzustürzen, was wir in uns selbst oder in der Welt – mit den Werkzeugen unserer Kunst – aufgebaut haben, um den Frieden unserer Seelen zu stören, um unsere relative Zufriedenheit in unserem Leben zu verseuchen, um uns dessen zu berauben, was wir zu Recht erworben haben: all dies kann nicht genug von oben herab, gleichgültig, kalt und überlegen betrachtet werden.
Nur dann haben wir kein Recht, kalt und überlegen zu bleiben, wenn wir sehen, daß Unschuldige gequält und gefoltert werden. In einer solchen Zeit, Mensch, versuche nicht, von oben herab aus irgendeiner Philosophie, Weisheit oder irgendeinem Verhalten heraus, bewegungslos und kühl das menschliche Schicksal zu betrachten.
In deinen eigenen Angelegenheiten bleibe edel, kühl, unbewegt und hochmütig. In der Not anderer fühle mit, sei eifrig, handle – zögere nicht, den Mächtigen zur Last zu fallen, bettle, bestich, wenn es notwendig ist, tue alles, um zu helfen.
In Angelegenheiten anderer kannst du nicht unparteiisch und kühl weise sein, auch nicht stolz oder überlegen. Der Schmerz und die Demütigung der Unschuldigen zwingen dich, den Fels deiner Ruhe zu verlassen. Dann und nur dann hast du kein Recht, einsam und stolz zu bleiben. Merke dir das gut!