Neueste ungarische Vignetten

Ein paar nebensächliche Beobachtungen aus dem Ungarnlande, wahllos zusammengestellt, zu klein, um Geschichten daraus zu machen.

Beim Gartennachbar dudelt den ganzen Tag das Radio. Aber kein Pop ist zu hören, kein Rap oder Rock und überhaupt kein einziges englisches Wort. Er hört ungarische Volksmusik von früh bis spät. Die hat mit den deutschen Schenkelklopfern nichts gemein. Ihr tragendes Element ist fast immer eine weinende Geige, die auch dann noch ächzt und stöhnt, wenn es bei Wein und Pálinka vielleicht zum Tanz geht oder die Angebetete verherrlicht wird. Es ist die Zigeunerfidel. Auf Volksfesten – oder in Budapester Edelrestaurants – kann man sie noch sehen, die kleinen, buckligen Männer mit braungebrannten, runzligen Gesichtern und lachenden, manchmal zahnlosen Mündern. In das Holz ihrer Geigen ist die Schwere der Welt eingewachsen. Nichts charakterisiert die Ungarn besser als diese Musik.

Im Gespräch mit einem jungen Mann. Er arbeitet in einem größeren Lebensmittelbetrieb, hat einen guten Job, verdient eine Menge Geld – das sind hier 1200 Euro. Dennoch bereitet er sich auf den Umzug nach Deutschland vor, will sein Deutsch mit mir üben. Die Angst, den Job zu verlieren, treibt ihn um. Wie kommt es aber, daß Deutschland so reich und Ungarn so arm sei? Er spricht von der Geschichte und der Mentalität, der Seelenschwere und einer tief verinnerlichten Negativität. Initiative und Eigenständigkeit sind hier seltene Gaben. Wer sie hat, kann schnell zum Krösus werden. Sein Arbeitgeber ist so einer. Wir treffen ihn zufällig, ein paar Sekunden small talk, dann ist er wieder weg. Er gilt als steinreich, je älter er wird, umso jünger werden seine Frauen. Eigentlich müßte er Sorgenfalten auf der Stirn haben, denn die Sanktionen der EU dürften sein Geschäft schwer beeinflussen. Aber mein Gesprächspartner sagt nur: Wir sind hier in Ungarn. Es gibt immer Wege. Und ich ahne, daß sie alle drin stecken: die großen und die kleinen Politiker, die Unternehmer und sogar mein junger Begleiter, der wohl auch die Augen zudrückt, wo es sein muß.

Ich frage ihn, ob er Orbán gewählt hat. Er umgeht die Antwort, sagt nur so viel, daß man die anderen Clowns nicht wählen könne – „Clown“ ist auch das oft genutzte Wort der Propaganda. Das deckt mit dem Gros meiner Erfahrungen. Schmallippig, spöttisch, resigniert äußert man sich zur Regierung, aber es gibt keine Alternative.

Er erzählt einen Witz. Drei Ungarn arbeiten zusammen beim Bäume pflanzen. Ein eingespieltes Team, die Arbeit flutscht. Der erste hebt die Grube aus, der zweite steckt den Sprößling hinein, der dritte schaufelt sie zu. Leider ist der zweite oft krank.

Daß das Haus, welches ich gerade nutze, nicht von Ungarn bewohnt wird, darauf weisen schon die umherliegenden Streichholzschachteln hin: die EU-Flagge schmückt sie. Ungarische Streichhölzer werden hingegen oft mit Bildern mittelalterlicher Könige oder berühmter Dichter geschmückt. Davon unabhängig sind sie meist von schrecklich schlechter Qualität.Több mint 20 ezer látogatót vonzott a 25. Bajai Halfőző Fesztivál –  KORONAfm100

unter 20000 Leuten © Bacska Napló

Ein Volksfest, eines der größten und bekanntesten im ganzen Land. Zehntausende Menschen strömen in das Städtchen und pendeln ununterbrochen zwischen den überall aufgestellten Bühnen. Von einem afroamerikanischen Rapper[1] abgesehen, dem es schwer fällt, Stimmung zu erzeugen und der sichtlich überrascht davon ist, sind alle Darsteller Ungarn, darunter namhafte Künstler. Ich lasse mich in der Menge treiben, bleibe hier und da mal stehen, studiere die Menschen, lausche den Stimmen. Am gesamten Wochenende höre ich nur ein Mal Deutsch sprechen – eine ältere Dame interessiert sich für Naturseife – und ein Mal Englisch – eine Gruppe britischer Jünglinge ist hier gelandet und enjoyed das billige Bier. Ansonsten nur Ungarisch und alle, wirklich alle – der Rapsänger und seine Tänzerinnen ausgenommen – sind weiß. Alkohol wird ausgeschenkt, aber ich sehe keine Betrunkenen. Sogar eine Gruppe Punker hat es hierher verschlagen – aber selbst die gehen alle artig mit einer Freundin an der Hand und in Reihe.

Nun läßt sich das Gespräch mit Deutschen doch nicht gänzlich umgehen. Ich rede mit einem, der schon 15 Jahre hier lebt und das Erlernen der Sprache nie ernsthaft erwogen hat. Man hat sein Überlebensrepertoire, hin und wieder kommt was Neues hinzu, das reicht. Als ich über meine Versuche, die Sprache zu meistern, klage, sagt er: das hätte ich nicht gedacht, daß du jetzt nach fünf, sechs Jahren Lernens noch immer nicht perfekt Ungarisch sprichst.

412 Forint bekommt man nun für einen Euro, der selbst dem Dollar gegenüber schrumpft. Vor drei Jahren waren wir froh, wenn wir an der Wechselstube knapp über 300 kamen. Die Menschen stöhnen, aber das Leben geht scheinbar normal weiter. Nur in Budapest gab es die ersten Demonstrationen. Die Regierung versucht mit Preisstopps gegenzusteuern. Am sichtbarsten am Benzinpreis. Dort ist die Tafel für Benzin und Diesel seit Wochen bei 480 Forint eingefroren. Er gilt nur für Wagen mit ungarischer Zulassung – Ausländer bezahlen Marktpreis.

Erst wenn man das staatliche Kossuth-Radio länger und regelmäßig hört, werden Strukturen hörbar. Orbán gibt dort jeden Freitag sein wöchentliches Interview. Neben den qualitativ hochwertigen Beiträgen viel Wiederholung: alte Sendungen aber auch Regierungspropaganda, viel Sport und Live-Beiträge von Volksfesten oder Jugendcamps. Eine besorgte Stimme klagt vor beängstigender Musik den Krieg und die daraus folgende Inflation. Dann hellt sie sich auf und verkündet, daß die Regierung sich kümmert und für die Sicherheit sorgen wird … was sie in Wirklichkeit natürlich nur bedingt garantieren kann.

Regierungsbotschaften werden in den Nachrichten immer wieder wiederholt. Der Verteidigungsminister meint, es müsse nun die Armee modernisiert werden; der Innenminister kündigt höhere Energiepreise an, kinderreiche Familien sollen aber unterstützt werden; der Außenminister warnt vor neuen Bevölkerungsströmen, will aber zwischen Flucht (Ukraine) und Migration unterschieden wissen; seit Tagen wird eine Schießerei an der Grenze besprochen, wo es in einem serbischen Grenzdorf wohl ein oder zwei Tote gegeben habe – die Botschaft: sie werden immer aggressiver, kommen jetzt auch mit Waffen; „Fachleute“ empfehlen auch weiterhin die Impfung gegen Covid, auch in der Omikron-Variante …

Auffällig viel wird über Gesundheit gesprochen. Im Nachmittagsprogramm gern über Kinder mit seltenen Beschwerden, Autoimmunerkrankungen, Krebs, Allergien, Deformationen und wie ihnen geholfen wird. Das zeigt die nicht zu übersehende Liebe der Ungarn zu ihren Kindern, sendet aber auch die Botschaft, daß intakte, traditionelle Familien und die Gesellschaft – also die Politik – Probleme gemeinsam besiegen können. Und das ist auch der erklärte Auftrag solcher Sendungen.

[1] Die Internetrecherche korrigiert mich: der Mann ist schwedisch-nigerianisch, von Beruf Zahnarzt und hat mehrere Millionen Platten verkauft.
siehe auch: Ungarische Vignetten
Neue ungarische Vignetten

4 Gedanken zu “Neueste ungarische Vignetten

  1. Renz schreibt:

    Eine nebensächliche Bemerkung zu ihrer Bemerkung, dass nur Weiße auf dem Volksfest zu sehen sind. In meiner Jugend und in meiner Familie über 4 Generationen hinweg, sind Südslaven, Ungarn, Rumänen dunkle Menschen. Schwarze Haare , schwarze Augen, braune Haut. Dieser Menschentyp war für meine Reichsdeutschen Familienangehörigen der letzten Generationen als Ehepartner nicht akzeptabel. Meine Großmutter mütterlicher Seite durfte in Bulgarien lebend keinen Bulgaren heiraten. Das galt auch nach dem 2. Weltkrieg für Gastarbeiter. Rassistische Sprüche, oder Benachteiligungen dieser Menschen gab es nicht – aber vermischt hat man sich nicht.

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    • Der cigane und südeuropäische Typ ist hier natürlich weit verbreitet und mitunter tatsächlich sehr dunkel. Die Gegend hier ist historisch zudem stark von Serben, Kroaten, Deutschen geprägt. Es gibt auch mitunter noch altungarisches Blut zu sehen. Vorhin erst an zwei „Migranten“ vorbei gekommen, die ich in D auf Syrer oder Libyer geschätzt hätte, aber doch Ungarn sind. Zur Typologie der Cigányok, zu phänotypischen, kulturellen und Verhaltensdifferenzen, gäbe es eine Menge zu sagen – kommt vielleicht später.
      Die Deutschen hier entstammen zwei Stämmen, den Schwaben und den Franken – auch da gab es lange Zeit kaum Vermischung obgleich die Dörfer in Laufdistanz waren. Darauf wurde aus allen Richtungen geachtet. Nach dem Krieg wurden Felvidéker (Ungarn aus der Slowakei) hier angesiedelt … immer die gleiche Geschichte. Heute freilich spielt das kaum noch eine Rolle. Die häufigsten Nachnamen wie Horváth, Kovács, Németh, Lengyel, Erdélyi usw. deuten das noch immer an. Nach dem Krieg haben sich viele Deutsche etwa magyarisiert.

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  2. Pérégrinateur schreibt:

    Kennen Sie einen Grund für die auffällige Häufigkeit dieser Tonfolge [betonter Hochton kurz] – [unbetonter Tiefton lang] in der ungarischen Volksmusik, der den Eindruck einer beständigen Synkopisierung macht? Rührt das vielleicht aus einer bestimmten Gedichtmetrik? Oder passt das besser zu bestimmten Tanzfiguren? Erbgut aus asiatischer Steppenmusik?

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