Der ersehnte Gast

Über Goethe hat uns neuerdings jemand belehren wollen, daß er mit seinen 82 Jahren sich ausgelebt habe: und doch würde ich gern ein paar Jahre des »ausgelebten« Goethe gegen ganze Wagen voll frischer hochmoderner Lebensläufte einhandeln, um noch einen Anteil an solchen Gesprächen zu haben, wie sie Goethe mit Eckermann führte, und um auf diese Weise vor allen zeitgemäßen Belehrungen durch die Legionäre des Augenblicks bewahrt zu bleiben. Wie wenige Lebende haben überhaupt, solchen Toten gegenüber, ein Recht zu leben! (Nietzsche)

Man hat, wenn unerwartet Gäste kommen, mitunter das Bedürfnis, Tür und Fenster weit zu öffnen, den Drang nach Luft und Weite.

Das kann verschiedene Ursachen haben. Manchmal ist es die überwältigende Präsenz des Gastes, die überlaute Stimme oder die ausladenden Gesten, die Unfähigkeit zuzuhören, die ganz sicher mit einer hohen Veranlagung des Viel- und Schnell- und vor allem Nichtssagens verbunden ist. Andermal ist es einfach die Körperfülle.

Auch kann es die negative Energie sein, die der Gast ausstrahlt, eine unverhohlene und meist reziproke Abneigung, ein unterdrückter Haß, der sich todsicher am falschen Lachen, an der gekünstelten Stimme verrät. Man hat quasi immer eine gegenteilige Meinung und muß ständig abwägen, ob man diese äußert oder mit der Hoffnung auf baldige Befreiung verschluckt. Beides schlägt auf den Magen und macht die Brust eng.

Manche Gäste – eigentlich recht viele, fast alle, wenn ich es recht bedenke – haben kein Gespür für Zeit, ab wann sich ein Gespräch – und sei es noch so interessant – vorerst erschöpft hat, wenn man beginnt, sich zu wiederholen oder ganz einfach wichtigere Gespräche – nämlich Lektüren! – locken, und machen einen bis dahin vielleicht gelungenen Besuch zur Qual, vor der man nur noch ausreißen will.

Unmöglich ist selbstredend der unangekündigte Besuch (bis auf eine Ausnahme, die hier mitliest)! Für viele mag die überraschende Gastvisite eine Art Lebenselixier sein, auch weil sie ihre Wichtigkeit und Beliebtheit, von der sie zehren, betont, aber für jemanden, der „zu tun hat“, der morgens die Augen mit klaren Vorstellungen öffnet, was aus eigenem Entschluß zu tun sei – und das ist in der Regel ohnehin schon viel zu viel und selbst an optimalen Tagen nicht zu schaffen –, ist das unerwartete Klingeln von Tür und Telefon ein Greuel.

Ganz allergisch reagiere ich auf künstliche Duftstoffe. Insbesondere parfümierte oder After geshavte Männer sind mir ein Graus.

Schließlich darf man auch die Ausdünstungen pubertierender Jünglinge nicht unterschätzen, die nach einem anstrengenden Sitztag in der Schule durch Transpiration den Dreck des Tages systemimmanent abzuwaschen versuchen.

In all diesen und ähnlichen Fällen verspüre ich das starke Bedürfnis nach frischer Luft und Weite und es bedarf einiger Erfindungsgabe, ohne den Zusammenhang zu sichtbar zu machen, also ohne verletzend zu sein, das Fenster unauffällig zu öffnen.

Und dann gibt es noch einen Fall. Von diesem berichtet Friederike von Mandelsloh am 16. September 1796 in einem – was soll man sagen? – ironischen oder doch schon beißend scharfzüngigen oder doch eher wohlmeinenden?, jedenfalls wunderbar hintergründigen Brief an Novalis.

„Vor einigen Tagen ist unsere kleine Stube so glücklich gewesen, den großen Geist Goethens“ – der zu diesem Zeitpunkt unsäglich fett geworden war – „in sich zu fassen. Er war scharmant, hielt sich aber nicht lange bei uns auf, machte uns aber die Hoffnung, daß wir bald wieder so glücklich sein würden, ihm von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Verwundert war ich sehr, daß unsere kleine Stube keinen Spalt bekam, ich hatte aber auch bei Goethens Ankunft die Vorsorge, sogleich die Fenster zu öffnen.“

So einen Gast hatte ich freilich noch nie.

7 Gedanken zu “Der ersehnte Gast

  1. Zorn Dieter schreibt:

    Wer hat schon Umgang mit einem Genie? Wir Normalsterblichen müssen leider mit Normalsterblichen vorlieb nehmen. Und den „Legionären des Augenblicks“ lauschen, die jedes Wort beschmutzen. Oder einfach deren Ton leiser drehen.

    Übrigens, zu ihrem vorgestrigen Traktat: Perlen des Denkens finde ich aktuell fast ausschließlich in den Alternativen Medien. (Nicht bei Twitter & Konsorten, sondern bei den vielen unabhängigen Denkern im Netz.)

    Dennoch können wir den Vielsprechern, Blendern, Fallenstellern und Gauklern, denen man im Leben begegnet, ausweichen, indem wir mit ihnen keinen Umgang pflegen. Versteckt sich diese Haltung hinter einer freundlichen Art, ist das Leben schön. In der weiten Natur. Und mit den Enkeln, wie gestern sowieso. Sie sind ein wahres Geschenk, weil unverdorben. Hier sieht man, was der Mensch sein könnte. Solange er durch die Zivilisation noch nicht verdorben ist.

    Was auch hilft in wirren Zeiten wie den unsrigen, sind Perlen wie Senecas „Handbuch des glücklichen Lebens“. Seine Zeit war auch keine einfache und seine Position sowieso nicht. Der zweitreichste Mann Roms, Lehrer des Nero und Philosoph. Oder zumindest scharfer Beobachter der Zeitläufe.

    Ein wunderschönes Wochenende!

    Seidwalk: Seneca sollte sowieso zur alljährlichen Lektüre gehören! Das mit den Enkeln verstehe ich sehr gut und kenne es aus eigener Erfahrung. Aber in trüben Stunden komme ich nicht umhin, zu ahnen, daß diese Frische und Natürlichkeit bald an den Realität scheitern, daß der Zug des Diabolischen bald zu stark sein wird und daß aus diesen kleinen Menschen auch nur große werden, mit all ihren Unannehmlichkeiten. Man kann nur versuchen, seinen Beitrag zu leisten, um dies zu verhindern, aber man sollte seine Einflußmöglichkeiten im Angesicht des Molochs auch realistisch einschätzen.

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  2. Pérégrinateur schreibt:

    Nur keinen Neid, denn eines Tages werden Sie Besuch von Bengt Ekerot bekommen. Vielleicht können Sie ihn zum Schachspiel am windreichen Ufer überreden?

    Seidwalk: Mein Schach ist in letzter Zeit so lausig, daß dies keine Option mehr ist. Stattdessen übe ich daran, ihm zu sagen – mit Márai (wird demnächst verständlich) – „Itt van.” Und mit viel Übung schafft man es vielleicht auch zum „Végre“. Aber vielleicht spricht er ja Skandinavisch. Also: „Da er han.“ und „Endelig“.

    siehe auch:

    Der Großmeister der Melancholie

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    • Péréginateur schreibt:

      Nein, bitte doch nicht wie diese erlösungssüchtige Göre reagieren. Halten Sie sich besser an Jöns. Ecce homo.

      Vor wenigen Wochen kam ich zufällig ins Gespräch mit einem Bergwaldbewohner. Er hat sich schon vor Längerem ein Notstromaggregat angeschafft und bunkert 6000 l Diesel. Ich war versucht ihn zu fragen, ob er auch ein Gewehr hat, unterließ es aber dann, denn er war ohnehin schon zu offenherzig.

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      • Nordlicht schreibt:

        Bunkern: Wenn das Wort stimmt, könnte der Vorrat auch ohne Waffe gegen unbefugten Zugriff geschützt sein.-

        Andernorts hatte ich – es ist ein altes Haus – 4.500-Liter-Heiztanks, deren Inhalt für den Pkw-Diesel-Betrieb im Krisenfall sehr hilreich sein können. Die Qualitäten sind weitgehend identisch.

        Aber, ja: Das Problem dieser Art von Vorratswirtschaft ist, dass man die Schätze notfalls verteidigen können muss. Viele Bauern sind auch Jäger. Wem der Weg zum Jagdschein zu teuer ist, kann Sportschütze werden; es gibt etliche Vereine, die auch Großkaliber schiessen.

        Allerdings hat der Ausbilder für den Sachkunde-Schein dringend darauf hingewiesen, bei einer Verteidigen des Eigentums mit der Schusswaffe sehr, sehr zurückhaltend zu sein. Selbst wenn man den Räuber nur angreiffsunfähig schiessen würde, könnte man an Richter geraten, welche die Angemessenheit nicht gegeben sehen. Das Rechtsgut Eigentum hat bei manchen Richtern keinen so hohen Stellenwert, wie ursprünglich in §32 StGB gedacht.

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        • Pérégrinateur schreibt:

          Ich hatte am meisten an Verteidigung – vor allem auch durch völlige Verheimlichung, denn wer kann gegen ihn bestehen? – gegen den großen Leviathan gedacht, der sich, nachdem er heute gegen Prepper hetzt, schon morgen „aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit“ selbstverständlich an ihren Früchten wird laben wollen, wenn er sie denn findet.

          Ihre Bedenklichkeit hinsichtlich von Privatsozialgerechtmachern ist allerdings ebenfalls gegründet. In meiner Region bemerkt man seit zehn bis zwanzig Jahren immer mehr ungewöhnliche Weidetiere in der Landschaft – Lamas und Alpakas, Schweine mit teilweiser Wildschweineinkreuzung, regionsfremde Pferderassen, wollige Highland-Rinder, weiß Gott welche verschiedenen kleinen und zierlichen Rinderrassen. Eine tierliebe Verwandte von mir parkte vor wenigen Jahren am Straßenrand, um sich eine Herde der letzteren Sorte wonnevoll zu beschauen, woraufhin prompt ein Bauer vorbeikam und fragte, was sie denn da eigentlich wolle? Nachdem er ihren dörflichen Akzent hörte, schwand sein Misstrauen und er erzählte ihr, dass erst kürzlich einem Nachbarn ein ganze Herde Rinder nachts von der Weide gestohlen worden sei, weshalb er stets ein Auge auf mögliche Kundschafter habe.

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  3. Nordlicht schreibt:

    „… Unfähigkeit zuzuhören …“

    Das halte ich für eine schlimme Sünde.

    Unser Gast, eine ferne Verwandte, die recht überraschend bei uns, wohl vom Reiz unseres neuen Wohnorts veranlasst, eine Woche Urlaub machte, war freilich das Gegenteil, sprach sehr wenig.

    Das viele Schweigen hätte klemmig sein können, war aber doch entspannend schön. Ein stiller Gast, der durch Anwesenheit etwas gab und, so glaube ich, sich hier wohl fühlte.

    Keine Debatten führen zu müssen, das empfinde ich heutzutage zudem als Glück.

    Seidwalk: Good point. Vielleicht liegt es an der nordischen Mentalität? Wenn das Schweigen kein belastendes ist, dann Glückwunsch zu Ihrer Tante. Vielleicht sollte man sich tatsächlich mehr nach Norden orientieren?

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    • Nordlicht schreibt:

      Danke für die Antwort. Für mich erstaunlich jedoch: Die so angenehm schweigsame Verwandte ist deutlich jünger als wir, so um 45.

      Menschen dieses Alters aus dem Westen sind durch die seit ca 1970 fiundamental veränderten Erziehungsgewohnheiten (- ich möchte sie nicht Konzepte nennen) veranlasst, ohne Rücksicht auf laufende Gespräche Erwachsener verbal hinein zu grätschen.
      Dazu kommt, wie man an der jungen Politiker- und „Aktivisten“-Generation sieht, ein hohes Sendungsbewusstsein. Ich kenne das von meinen Kindern.

      Die Besucherin erlebte ihre wichtigen ersten 15 Lebensjahre in der DDR und war daher nicht durch die antiautoritäre Erziehung verdorben.

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