Der Aufmarsch – Das Buch zum Krieg

Daß der russische Angriff auf die Ukraine nicht aus dem Nichts kam, sondern eine lange Vorgeschichte hat und also Verantwortlichkeiten verteilt, ist in unseren Lesezirkeln Konsens. Gemeinhin wird dann das eine oder andere Ereignis, die eine oder andere Konferenz oder Konvention angeführt, um beispielhaft zu beweisen. Dabei hat Jörg Kronauer den gesamten Vorlauf akribisch aufgearbeitet und in ein Buch gepreßt. Er kann sich dabei auf jahrelange Vorstudien beziehen, denn mit seinen Arbeiten  „Ukraine über alles“ (2014) und „Meinst Du, die Russen wollen Krieg?“ (2018) hatte er das komplexe Terrain bereits abgeschritten.

Doppelt interessant wird das Ganze, wenn man sich vor Augen führt, daß Kronauer ganz weit links steht, für die „Junge Welt“ etwa schreibt. Vielleicht erklärt das eine gewisse Nähe zur russischen Seite, aber sicher nicht seine Akribie und Objektivität. Denn er versucht den Konflikt zwar aus einer östlicheren Perspektive zu verstehen, enthält sich aber im Großen und Ganzen wertender Urteile und wird nur ganz selten ein bißchen polemisch.

Die Arbeit besticht durch ihre Materialfülle. Sie ist – was Rußland betrifft – in zwei Abschnitte geteilt. Im ersten rekapituliert sie die zahlreichen politischen Volten seit dem Untergang der Sowjetunion und verknüpft diese mit den wirtschaftlichen Ursachen und Konsequenzen. Im zweiten gerät die militärische Entwicklung in den Fokus. In beiden wird deutlich: Rußland, das sich in der frühen Phase intensiv um eine Annäherung an den Westen bemüht hatte, wurde von diesem immer öfter brüskiert, bis alles Vertrauen verbraucht war, änderte dann seine Militärstrategie und wurde durch die konsequente Einkreisungs- und Aufrüstungspolitik des Westens, der NATO unter Federführung der USA, in diesem Urteil sukzessive bestätigt. Akribisch werden die Konfliktlinien herausgearbeitet und mit ihnen die erhöhte Wahrscheinlichkeit eines kommenden Krieges – wir erleben ihn nun. Kronauer konnte in dem vor wenigen Wochen erschienenen Buch noch die Frühjahrsereignisse einbauen.

Er bietet aber mehr, denn im zweiten und sogar gewichtigeren Teil wird der Konflikt mit China thematisiert. Auch hier die Zweiteilung und das Fazit, daß entscheidende historische Möglichkeiten einer Annäherung nicht genutzt worden sind oder sich in ihr intendiertes Gegenteil verwandelt haben. Ein Gemisch aus „Wirtschaftskrieg, Sanktionen und Propaganda“ hat zur sukzessiven Entfremdung geführt. Im Ergebnis hat diese Strategie aber wenig Vorzeigenswertes zu bieten. Man hat sich dem kommenden global player komplett entfremdet und eine Allianz zwischen Rußland und China nahezu erzwungen. Dabei sind die Differenzen zwischen diesen beiden Großmächten enorm – sie stehen für komplett diverse historische Ströme. Während Rußland ins 20. Jahrhundert zurück will und die alten Positionen anstrebt, will China aus dem 20. Jahrhundert heraus und eine Zukunftsmacht werden.

Der selbstgerechte Westen ist bis heute und trotz enormen technischen und logistischen Aufwands nicht in der Lage, die inneren Befindlichkeiten und demnach also die Denkwelt der östlichen Giganten zu verstehen – es fehlt ihm am Willen, am Wissen und an der notwendigen selbstkritischen Widerspiegelung.

Wieder wird die Entwicklung akribisch nachgezeichnet und der Westen als Hauptverantwortlicher der Deterioration kenntlich gemacht. Man sollte daher – um einen unabhängigen Draufblick zu erlangen – auch die westlichen Sichtweisen beachten, da diese aber allgegenwärtig sind, schließt dieses Buch eine schmerzliche Lücke. Großartig, augenöffnend auch die geostrategischen und schier geographischen Zusammenhänge, die Kronauer in beiden Fällen deutlich macht.

In einem abschließenden Kapitel widmet sich der Autor der Frage nach der Wahrscheinlichkeit eines kommenden Krieges mit China, mithin eines Weltkrieges. Wir hatten uns mit dem Gedanken der Unmöglichkeit einer solchen Eskalation abgefunden und sind durch den russischen Einmarsch eines Besseren belehrt worden. Der strategische Versuch, Europa und Rußland, insbesondere Deutschland und Rußland zu entzweien, spricht sich nun in Kanonendonner aus.

Der jetzige Versuch, einen Keil zwischen China und Rußland zu treiben, scheint nicht zu wirken und könnte in der Stärkung dieses Bündnisses enden. In der Folge dürfte eine weitere militärische Fokussierung der USA auf den Pazifik stattfinden. Werden die USA die Strategie des Zweifrontenkrieges aufgeben? Kronauer jedenfalls endet sein Buch mit potenten Stimmen, die von einem baldigen militärischen Konflikt mit China ausgehen. Die Masse der Fakten könnte ihm recht geben; und dennoch gilt: Geschichte ist unverfügbar. Erst im Nachhinein werden wir wissen, wo die Fehler lagen. Die Politik des Westens erwies sich bis dato als schwer fehlerbehaftet – vorausgesetzt, die Verhinderung eines Krieges war und ist das wahre Ziel.

Dieses Buch sollte man kennen, wenn man mehr als Überzeugungen und Meinungen anbieten will.

Jörg Kronauer: Der Aufmarsch – Vorgeschichte zum Krieg. Russland, China und der Westen. PapyRossa, Köln 2022, 207 Seiten, 14,90 Euro

3 Gedanken zu “Der Aufmarsch – Das Buch zum Krieg

  1. Zorn Dieter schreibt:

    Sehr interessantes Buch.

    Der Konflikt um die Ukraine zeigt, dass der Zweite Weltkrieg und der Zerfall der UDSSR noch nicht das Ende der Geschichte waren.

    Nun stehen sich drei Blöcke gegenüber: der alte Westen unter Führung der USA, das neue China und das neue Russland.

    Russland mit dem Eurasischen-Angebot an Europa zunächst gescheitert. Weil dieses für die USA eine tödliche Bedrohung wäre. Und diese dagegen nun den Krieg in der Ukraine inszeniert haben. Was die NATO zunächst neu zusammengeschweißt hat. Russland mit unendlichen Bodenschätzen und guter Führung.

    China, tausendjähriges Reich, mit dem langen Atem der Asiaten und dem besten Menschenpotential. Autoritärer Staat, der Staatskapitalismus erfolgreich interpretiert hat. Der wahrscheinliche Sieger im 21. Jahrhundert.

    Der alte Westen. Die USA, Imperium im Niedergang. Das verzweifelt den inneren Zerfall bekämpft und außenpolitisch irre Kriege anzettelt, um seine Potenz zu beweisen. Bis über die Halskrause verschuldet. Dabei Europa, noch im Westen gefangen. Nicht eigenständig handlungsfähig, weil keine Atommacht und damit keine Weltmacht.

    Sollten die USA (und die EU im Schlepptau) so irre sein, tatsächlich den Krieg mit China (und Russland) zu versuchen, wäre das das Ende der Menschheit. Das gilt es zu verhindern!

    „Geschichte ist unverfügbar.“ Aber hier liegen die Konfliktlinien.

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  2. Konservativer schreibt:

    Vielen Dank für den Hinweis.

    Ich habe mir bereits einige der von Ihnen empfohlenen Bücher besorgt und gelesen. Diese Bücher (bzw. deren Inhalt) haben mir etwas gegeben, die „Advent im Hochgebirge“ Geschichte z.B. hat mich sehr berührt.

    Doch zurück zum Ukraine Konflikt. Wenn Sie es gestatten, verlinke ich nachfolgend ein interessantes Gespräch von US Amerikanern (derartige Gespräche würde ich mir auch in Deutschland wünschen) …

    Zum Ausklang Ein Lied von DRAGO MLINAREC aus dem Jahr 1975 …

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    • Borsalino schreibt:

      Großen Dank für den Link zum Interview Garland – MacGovern – Ritter! Das sollte um 20 Uhr im Fernsehen laufen, um Grund in die Diskussion zu bekommen.

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