Wie im Reagenzglas ließ sich dieser Tage der Prozeß der Realitätserschaffung durch Medien verfolgen. Der Fall ist besonders instruktiv, da er das Werk nur eines Blattes, ja nur eines einzigen Journalisten ist. So konnte ein Nicht-Ereignis über mehrere Tage die Leser in Atem halten – es war die berühmte Wertschöpfung aus dem Nichts im medialen Bereich.
Der „Focus“ setzte nach Einführung des 9-Euro-Tickets einen seiner Männer in einen Personen-Zug nach Sylt – mehr braucht es nicht, um Geschichte zu machen. Das Ziel stand von vornherein fest: den Un- und Wahnsinn einer solchen Volksbefriedung aufzuzeigen und Klicks zu generieren. Daß der „Focus“ sich damit auf „Bild“-Niveau begibt, wird eingepreist.
Schon im ersten Beitrag vom 3.6. taucht dann der Skandal auf, in Form einer trinkenden und grölenden Punker-Gruppe, die in den bereits überfüllten Zug nach Sylt steigt. Der Ton wird gesetzt: „Mit lauter Musik, Gegröle und mehreren verkippten Bierflaschen hat die Gruppe die anderen Fahrgäste darauf eingestimmt, was sie auf Sylt an diesem Pfingstwochenende auch sehen könnten.“
Wenig später lautet die Schlagzeile in der Rubrik „Aus aller Welt“ bereits „Günstiger geht nicht: Punks erobern Sylt und feiern ihre eigene Poolparty“. Der investigative Journalist war der Gruppe Punks in Westerland gefolgt und stellte fest: „Zu Hauf haben sie sich hier versammelt. Zum Feiern, zum saufen, zum randalieren. (sic!)“ In einem zweieinhalbminütigen Film-Beitrag gibt er den fraglichen Personen zwei Minuten Zeit, immer wieder ihre Lebensphilosophie aus „Spaß“, „Randale“, „Saufen“ und „Egal“ vorzutragen und dabei zu filmen, wie sie einen örtlichen Brunnen zur Badeanlage machen.
Dann wird weiter an der Eskalationsspirale gedreht, zwei Tage später lautet die Schlagzeile schon: „Punks auf Sylt waren erst sympathisch, dann verspielten sie ihren Kredit“ und zwar durch Saufen, Grölen, Randalieren und Campen in den Dünen. Es werden Stimmen von Augenzeugen eingefangen und ein Sternekoch – „der bereits in zahlreichen TV-Shows aufgetreten ist“ – darf sich in die Kamera „Sorgen um Sylt machen“. Als Untermalung werden noch immer dieselben beiden Punks des ersten Tages präsentiert.
Dann wird recherchiert und es kommt ans Licht, daß die Punks sich billigen Alkohol über Amazon bestellen und direkt an die örtliche Paket-Abholstation senden lassen. So umgehen sie die Sylter Preise.
Noch immer ist die Zitrone nicht ausgelutscht. In einem weiteren Beitrag werden die Sylter „langsam nervös“, denn „Punks verunsichern mit Chaos Gelage“ die Insel. Diese Nachricht steht bereits stundenlang als Topmeldung im Großformat der Online-Zeitung. Wer in diesen Stunden „Focus“ klickt, der muß den Eindruck bekommen, daß die 150 Punks auf Sylt alle weltgeschichtlichen Problemlagen an Bedeutung überbieten. Die beiden Sprecher der Gruppe sind mittlerweile nationale Stars geworden, jeder kennt ihre „Gesichter“, andere Medien bespielen das gleiche Thema. Auch der „Focus“ hat noch nicht fertig, es folgt abschließend eine Polizeibilanz, und das, obwohl die Polizei „keine besonderen Auffälligkeiten“ zu vermelden hat. (Abgeschlossen schien das Ganze als ich diesen Beitrag schrieb; mittlerweile geht die Story auch nach einer Woche weiter: Die Punker wollen Sylt nicht verlassen.)
Der ganze mehrtägige Trubel ist eine Bagatelle von maximal klein-lokalem Interesse, wurde aber zur nationalen Angelegenheit aufgebauscht. Deutschlandweit sitzen Rentner vor den Apparaten und diskutieren die Punk-Seuche, in den Kneipen von Flensburg bis Friedrichshafen redet man sich die Köpfe heiß …
Wie die Affenpocken im Frühstadium – vielleicht wird hier wirklich an etwas Bedeutendem gebraut – wird Angst, Sorge, Stimmung aus dem quasi-Nichts geschaffen, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit werden gelenkt und natürlich auch abgelenkt. Es steckt auch eine Anmaßung dahinter, denn daß mir als Leser wertvolle Zeit und Aufnahmekapazität durch Skandalisierung eines überhaupt nicht berichtenswerten Vorfalls gestohlen wird, zeigt die Abgehobenheit und Selbstverliebtheit der medialen Kaste.
Wichtig ist dieses Ereignis nur aus medientheoretischer Sicht, denn es es läßt sich daran exemplarisch die manipulative Macht der Medien und mitunter auch nur einzelner an sich bedeutungsloser Journalisten aufzeigen. Denn was in Sylt geht, das geht auch andernorts und überall. Selten ist es so plump und primitiv und dennoch sollte jede mediale Botschaft auf derartige Verdachtsmomente hin untersucht werden und unter entsprechendem Vorbehalt stehen.
So völlig unsympathisch sind die Asis im Video ja gar nicht. Pröllern etwas rum, Altpunx eben.
Ich war ehedem gelegentlich auch bei solchen Treffen, war meist reichlich unhygienisch, aber tendenziell gewaltarm. Das mit dem Müllwegräumen gegen Ende des Gelages kenne ich auch noch.
Sicher gibt es da große Schnittmenge mit „Autonomen“, aber anders als diese verkniffenen nützlichen Idioten brachte die Punkerei dunnemals meist gehörige Portion Humor mit.
Allein schon, wenn ich deren Haarfarben, Tätowierungen und Gesichtsverblechung sehe – so ganz preiswert ist das nicht, für das Geld hätte man sich locker Jahreskarte ICE 1. Klasse leisten können…
Aber die Idee mit der Billigbieranlieferung per Packstation finde ich gut 😉
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Vielleicht ist die Aktion auch nur das gelungene Guerrillamarketing von den Ärzten.
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Man könnte ja auch die Sylter Seite der SHZ lesen oder örtliche Bekannte fragen, wenn man die tatsächlichen Situation erfahren wollte .–
Zum 9€-Ticket: Diese Spaßaktion der BuReg wird als Klimaschutz bzw Verkehrswende verkauft, was absoluter Quatsch ist. Der Bahn schadet es finanziell, die klassisch zahlenden Bahnfahrer werden verdängt und verärgert durch die Spaßtouristen, und die immer unzuverlässigere Deutsche Bahn hat eine neue Entschuldigung.
Es gibt seit Jahrzehnten die Erfahrungen, dass solche Aktionen vorübergehend die Bahnen voller machen, aber der versprochene ökologische Effekt, nämlich eine Reduzierung der Autonutzung, nicht eintritt. Das wissen natürlich auch die Erfahreneren in den ÖV-Abteilungen der Verkehrsministerien und die älteren Verkehrs-Professoren.
Aber wer hört schon auf die Erfahrungen alter weisser Männer. Heute hört man auf unerfahrene und unausgebildete Kinderpolitiker <55 JAhren, die auf der Medienklaviatur spielen können und ansonsten nix. (Das schreibe ich aus eigener jahrzehntelanger Berufs-Erfahrung.)
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Die „manipulative Kraft der Medien“ ist seit der Erfindung der Keilschrift, aber sicher des Buchdrucks, zu beobachten. Mit Flugblättern wurde schon im Dreissigjährigen Krieg Stimmung gemacht. Heine spricht im Wintermärchen über die Zeitungsschreiber, die im medialen Hinterhalt liegen und ihre Unwahrheiten verbreiten. Der erste Weltkrieg wurde durch ein mediales Trommelfeuer der Engländer in Bezug auf die blutgierigen Hunnen begleitet. Nitzsche prägte den Satz: Noch einhundertfünfzig Jahre Journalismus und jedes Wort ist beschmutzt. Bismark hasste die Zeitungsschreiber und benutzte sie gleichzeitig gnadenlos…
Die moderne Kriegsführung benutzt die Propaganda (die Stief-Schwester der Werbung) als wichtigste Waffe neben dem Militärischen, der Cyberkriegsführung und den biologischen Kampfstoffen. Der Krieg wird ganz offiziell um die Gehirne der Völker geführt. Am Ende haben sie den Kopf verloren.
Erstaunlich ist etwas ganz anderes, dass nämlich gerade von Intellektuellen diese Propagandafunktion der Medien als irgendwie überraschend und unnatürlich gesehen wird. Obwohl Macht, Propaganda und Medien doch eine naheliegende Symbiose eingehen: Die Herrschende Meinung ist immer die Meinung der Herrschenden. Wie sollte es anders sein?
Jedoch, gerade Intellektuelle, die ihr Geld mit dem Wort verdienen, sehen sich und ihren Berufsstand gern als unabhängig und überparteilich. Es gibt erstaunliche Parallelen in der Werbung: Die meist linksliberalen Texter sehen sich oft in der Rolle von Verbraucherschützern. Kein Witz! Die Schlimmeres verhindern.
Dass im Boulevardjournalismus die Kunst des Wortes den perfidesten Ausdruck findet, geschenkt. Viel verstörender ist es, dass das Wort (und heute natürlich das Bild) in Konflikten & Kriegen benutzt wird, um den ständigen Lügen der Kriegs-Parteien den Weg zu bereiten.
Für die Freunde der Wahrheit ein einfach ekelhafter Vorgang! Auch weil die Lügen so schlecht getarnt sind.
Das Volk jedoch, der Große Lümmel, wird durch Geschichten wie die von Ihnen erwähnte, mit dem perfiden Mechanismus der Lüge und Übertreibung ständig indoktriniert, weichgeklopft und damit Propaganda-tauglich gemacht. Ein Wunder, dass nicht alle durch diese Seuche infiziert sind!
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