Maß und Takt in der Erziehung

Denkanstöße – Herman Nohl

Schiller ist der erste gewesen, der diese polare Erfahrung formulierte: Leben und Form, Neigung und Gesetz, Hingabe an die freie Mannigfaltigkeit und Gestaltwillen – sie sind untrennbar voneinander und jede einseitige Entscheidung bedeutet eine Abstraktion. …

Das souveräne Wissen um die Polarität aller unserer Aufgaben, insbesondere aller pädagogischen Aufgaben und die Freiheit, die daraus entsteht, das ist das erste Geheimnis aller Bildung des Erziehers. Eine solche Grundantinomie unseres pädagogischen Lebens ist, daß wir uns selbst leben, jede Seele für sich, und zugleich den objektiven Werten und Gemeinschaften verbunden sind, daß wir unsere Gegenwart genießen wollen und doch zugleich für die Zukunft arbeiten, daß wir Gehorsam verlangen, zugleich aber zur Freiheit erziehen, daß wir die Vergangenheit tradieren und zugleich an einer neuen Welt bauen, daß wir in dieser Welt und ihren säkularen Aufgaben leben und doch immer um eine Transzendenz wissen, aus der uns die Ehrfurcht für unser ganzes Dasein kommt. …

… jede Einseitigkeit ist ungebildet, weil sie nicht über dem psychologischen Zwang steht und immer in einem Extrem endet, das die Lebendigkeit verloren hat. Neben diesem ersten Grundzug der Bildung des Erziehers, dem klaren freien Wissen um die Polarität, tritt aber gleich als zweiter die Einsicht, daß jede Formung, Anspannung oder Festigung immer erst beginnen kann, wenn die Bewegung, das freie Erleben und Spielen, die lebendige Erfahrung vorangegangen ist, und daß der Prozeß der Gestaltung sich immer offen halten muß für ein neues Sichhingeben. Das gilt schon für die körperliche Haltung und Bewegungsform. Sie setzen genügende Bewegungserfahrungen der Kinder voraus. Es muß Leben der Bewegung da sein, ehe ich anfangen kann, an seiner Form zu bessern, und jede Festigung muß immer wieder dem freien Spiel der Bewegung ausgesetzt werden, wenn sie nicht starr werden soll. Was so vom Körperlichen gesagt wird, reicht nun auch in alle Geistigkeit hinein: Abstraktion und Stil, Dogma und Gesetz sind pädagogisch angesehen immer das zweite und setzen das Leben voraus. Unsere abstrakte Kunst heute ist ein gutes Beispiel. Es war ein notwendiger Schritt, der die Gesetzlichkeit von Form und Farbe aus der Erscheinung heraushob, aber wenn das Verhältnis zur Natur darüber aufgegeben wird, aus dem allein alles Leben kommt, dann ist das eigentliche Geheimnis der Kunst verloren und nur ein abstraktes Formenspiel übriggeblieben. Der Instinkt für das Leben im Kind als der Quelle seiner Kraft und der Bedingung seiner Form ist also der zweite Grundzug in der Bildung des Erziehers. Wer diesen Instinkt für das Leben nicht hat, wird nie ein guter Pädagoge, nur ein Dresseur oder ein Pauker sein. …

Alle Wirkung des Erziehers setzt aber voraus, daß in ihm selbst lebendig ist, was er in seinen Zöglingen wecken soll, das Leben und seine Gestalt. Die Wirklichkeit seiner eigenen Existenz und Bildung ist wichtiger als alles Reden und alle Theorie, sie inspiriert und formt schweigsam ohne alle Worte durch ihr bloßes Dasein mit einer wunderbaren Gewalt. …

Es fehlt aber immer noch ein letzter Zug in der Bildung des Erziehers, vielleicht der feinste, nämlich sein Takt für das richtige Maß. Das Ideal des Maßes ist bei uns verlorengegangen. Unsere Schulethik hat uns seit der Reformation und vor allem seit Kant vor allem die Pflicht verkündet. Ihre Notwendigkeit und Größe soll wahrhaftig nicht verkannt werden, aber darüber ist ein anderes Ideal, wie es die Antike und noch der Humanismus kannte, das Ideal des Maßes vergessen worden. Wegen des Vergessens dieses Ideals ist unser Volk und seine Führung immer schneller bergab gegangen und schließlich grausam gestürzt. …

Und so überall: es gilt das reine Maß zu finden, das nicht bloß Grenze der Kraft ist, sondern wie Schiller sagt, ,der Kelch, worin uns Freiheit rinnt‘, nicht bloß Mangel, sondern das positive Gewissen der schöpferischen Kraft. Jede Meisterschaft gelingt nur, wo das Maß streng gewahrt bleibt. Das gilt vor allem für die Kunst und ist recht eigentlich ihr ethisches Gesetz, Proportion, Harmonie, Rhythmus – ist darüber hinaus aber das Geheimnis jeder klassischen Erscheinung und jeder klassischen Leistung.

Das gilt nun auch vor allem für das pädagogische Sein und Handeln. Jede pädagogische Maßnahme steht vor dieser Gefahr des Zuviel oder Zuwenig. …

Jeder erzieherischen Handlung stehen die beiden falschen Wege offen, und in der pädagogischen Theorie werden sie auch immer wieder besprochen, ohne daß doch die Lehre von der Mitte als dem allgemeinen Grundgesetz des erzieherischen Denkens und Tuns erkannt ist. Das beginnt beim Säugling, wo Rousseau und Pestalozzi schon die Gefahr der Verwöhnung oder der Vernachlässigung, des Schonens oder Abhärtens sahen. Behüten und Wagen, Freiheit und Disziplin, Zärtlichkeit und Lieblosigkeit, Überanstrengung und Faulheit, Pedanterie und Sorglosigkeit, Anspannen und Laufenlassen, Hemmen oder Lösen, Initiative wecken oder Üben, freie Bewegung oder Präzision – das sind solche dauernden Möglichkeiten. Wenn ich strafe, soll ich es mit Kälte tun oder mit Zorn? Die Jugend verlangt heute Nüchternheit und will doch die Wärme nicht vermissen usw. Und darüber hinaus gehen die großen polaren Antinomien … , daß wir uns selbst leben und doch der Gemeinschaft verpflichtet sind, daß wir heute leben wollen und zugleich doch für die Zukunft arbeiten, daß wir Gehorsam verlangen und doch zur Freiheit erziehen, der Vergangenheit verpflichtet sind und doch an einer neuen Welt bauen, in der Welt leben und doch von der Transzendenz wissen. Überall steht das Maß in Frage, und es gibt kein objektives Kriterium, um hier rational zu entscheiden, sondern der Erzieher ist überall angewiesen auf den Takt als sein feinstes Werkzeug. In ihm vollendet sich die Bildung des Erziehers. …

Der Takt steht zwischen Theorie und Praxis als das entscheidende Mittelglied, als das kluge Gefühl für das Richtige des Augenblicks, für die fremde Lebendigkeit und das ihr gemäße. Er transformiert die erzieherischen Absichten unter dem Eindruck der Persönlichkeit des Kindes, seines augenblicklichen Zustandes mit allen Unwägbarkeiten, und ist der eigentliche Ort der Produktivität des Erziehers. Der gute Erzieher weiß ohne viel zu überlegen, was zu tun ist und wie es zu tun ist. Wie solche Taktbildung des Erziehers erreicht werden kann, ist ein Problem für sich.

Herman Nohl: Die Bildung des Erziehers. In: Die Sammlung. Zeitschrift für Kultur und Erziehung. 5. Jahrgang. 1950 Seiten 705 – 712; wieder abgedruckt in: Nohl: Erziehergestalten. Göttingen 1958

siehe auch: Wahre Inklusion

Ein Gedanke zu “Maß und Takt in der Erziehung

  1. Zorn Dieter schreibt:

    In der Generation der um 1880 herum Geborenen war das Verständnis für das „rechte Mass“ im Leben noch vorhanden. Der Wahlspruch meiner Großmutter war deshalb: „Lebe mäßig, aber regelmäßig“. Sie hatte ihn sicher in der Schule von einem begabten Pädagogen gelernt. Auch die Sache mit „dem Takt“, dem klugen Gefühl für den richtigen Augenblick, war den meisten Menschen noch klar. Im Übergang von der wertorientierten zur systemischen Gesellschaft (Sieferle) und zur Massengesellschaft, ging das Bewusstsein für diese bürgerlichen Tugenden total verloren. Bürgerliche Endzeit halt. Ob diese Werte je wieder eine Rolle spielen werden, steht in den Sternen. Sie wurden mit der Revolution der Achtundsechziger über Bord gespült und durch das „Anything Goes“, der amerikanischen Pioniere ersetzt.

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