Graue Eminenzen

Der Begriff „Graue Eminenz“ läßt an Strippenzieher im Schatten politischer Galionsfiguren denken, an „Netzwerker“ im Halbdunkeln ohne feste Kontur und auffallende Farben, aber Peter Sloterdijks soeben erschienene Langmeditation über die Farbe Grau in Kunst, Denken und Politik[1], bringt uns in Erinnerung, daß der Terminus auf Pére Joseph zurückgeht, jenen Kapuzinermönch in grauer Tracht, der den im öffentlichen Bewußtsein stets grellrot gekleideten Kardinal Richelieu „beriet“ und also führte. Da er seinen offiziell Vorgesetzten dennoch stets mit „Eminenz“ ansprach, bekam er am Hof bald den heimlichen Titel der „Grauen Eminenz“ verliehen, womit die neidischen Schranzen mit ironischem Augenzwinkern die wahren Machtverhältnisse benannten, ohne sie explizit auszusprechen.

Daß ausgerechnet Aldous Huxley – Autor der heute wieder vielfach und aktualisiert gelesenen „Brave new World“ – dieser erstrangigen historischen Figur aus der zweiten Reihe ein biographisches Denkmal setzte, kann zu denken geben. Unter den vielen hellen Einsichten findet sich auch eine Passage, die das Zeug dazu hat, heutige Politik in Absetzung der traditionellen besser zu verstehen – weshalb sie hier zitiert werden soll. Die konkreten historischen Hintergründe zu klären, wäre eine zu große Mühe, denn der Kern der Aussage erschließt sich auch jenen Lesern, die das geschichtliche Ensemble nicht vor dem geistigen Auge haben.

Grey Eminence: a Study of Religion and Politics von Huxley, Aldous: Good  Hardcover (1941) | Minotavros Books, ABAC/ILAB

As a kind of consolation prize and to reinforce their loyalty, Marie de Medicis gave orders that her infantry should be permitted to sack the town of Angers before retiring further south. Father Joseph, who was in the neighbourhood, heard of this and immediately demanded an audience of the Queen. This time the friar’s infinite dexterity with the nobility gave place to prophetic eloquence.  Standing before the Queen, he told her unequivocally that, if she suffered Angers to be sacked, the blood of its people would be upon her head, and that God would damn her everlastingly.

The doctrine of hell fire was not entirely mischievous in its effects. On occasions like the present, for example, it could do excellent service. A stupid, obstinate, heartless creature, like Marie de Medicis, would have been deaf to any appeal to the higher feelings she did not possess, or possessed only in condition so latent that it would have taken the greatest saint a very long time to bring them into actuality. But the Queen cared intensely for herself, and she believed without doubt or question in the physical reality of hell. Thunderously harping on the portentous theme, Ezéchiely was able to put the fear of God into her. She had recalled the order she had given; Angers was saved.

Thanks to a certain kind of intellectual “progress”, the rulers of the modern world no longer believe that they will be tortured everlastingly, if they are wicked. The eschatological sanction, which was one of the principal weapons in the hands of the prophets of past times, has disappeared. This would not matter, if moral had kept pace with intellectual “progress”. But it has not. Twentieth-century rulers behave just as vilely and ruthlessly as did rulers in the seventeenth or any other century. But unlike their predecessors they do not lie awake at nights wondering whether they are damned. If Marie de Medicis had enjoyed the advantages of a modern education, Father Joseph would have thundered in vain, and Angers would have been sacked.[2]

Huxleys Essay erschien 1941 ganz sicher mit einem Auftrag und bestimmten Adressaten versehen. Freilich hatten diese die Angewohnheit angenommen, weder auf Donnerpredigten zu hören, noch die Belehrungen ihrer Kritiker zu lesen, sondern diese – die Bücher und die Autoren, sofern sie in Reichweite waren – zu verbrennen. Man darf nach genügend historischer Erfahrung sogar vermuten, daß nicht nur die Angst vor der ewigen Verdammnis verschwunden ist, sondern die regelnde Instanz des Gewissens überhaupt. Wenn es überhaupt noch ein Regulativ gibt, dann dürften das die Meinungsumfragen sein und auch die nur dann, wenn sie die Wahrscheinlichkeiten eines Wahlergebnisses andeuten – sofern dieses noch mehr oder weniger frei zu erreichen ist.

Die logische Konsequenz ist offensichtlich. Der „Ruler“ – oder die „Rulerin“ – braucht sich nicht mit Höllenängsten oder auch nur Gewissensbissen herumschlagen, es genügt, die Meinung der Massen mittels Manipulation, Propaganda und Korruption so weit in Einklang mit den eigenen bösen Gedanken zu bringen, daß Widerstand dagegen zwecklos und die eigene Malignität zur Staatsräson und zum Volkswille wird. Dort, wo die Macht sich noch pro forma und pro camera an eine höhere Instanz bindet, hat man den Klerus längst in die Propagandaspirale integriert, so daß es diesem leicht fällt, selbst das fünfte Gebot – diesen kategorischen Imperativ aller christlicher Observanz – situationsbedingt und taktisch bis zu seiner Pervertierung auszulegen und eventuelle Restskrupel auszuräumen.

Graue Eminenzen gibt es freilich noch immer, aber außer im Vatikan wird man sie sich nicht mehr als gut bedeckte Kuttenmönche vorstellen dürfen. Sie treten heutzutage in zweierlei Gestalt auf. Zum einen – auf der inneren Seite – als Think Tanks, Lobby-Gruppen, NGOs, Experten-Gremien, Ratgeber und Meinungsmacher zum anderen als Institutionengewirr von Staaten- und Strategieverbünden, allen voran der Europäischen Union, die beide, nur von verschiedenen Richtungen her – aber konvergierend –, die nationalen Parlamente und Rechtsapparate schleichend entmachten.

Bei aller inhaltlichen Differenz haben Autoren wie Horst Dreier, Herfried Münkler, Egon Flaig, Peter Sloterdijk, Dietrich Murswiek und andere diese Bedenken in dem eminent wichtigen Sammelband „Die Zukunft der Demokratie“ kenntlich gemacht. Wer darüber mehr wissen will, der sollte hier gleich weiterlesen: Demokratiedefizite.

siehe auch:

Demokratiedefizite

Sloterdijk Backstage

[1] Peter Sloterdijk: Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre. Frankfurt 2022, S. 69 ff.
[2] Aldous Huxley: Grey Eminence. A Study in Religion and Politics. (1941), Granada 1982, S. 137 f.

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