Darf der Putin das?

Vermutlich wird es vielen Lesern so gehen – wenn man morgens erwacht und sich die Nachrichten anschaut, dann stets mit einem gewissen Erwarten oder einer Furcht vor dem nächsten großen Ereignis. Wir werden immer öfter befriedigt, die Einschläge von welthistorischer Dimension nehmen scheinbar zu. Das kann einerseits ein Wahrnehmungsproblem sein, geschaffen durch die komplette und globale Durchmedialisierung der Aufmerksamkeitssphäre – deshalb zählen auch größere Naturereignisse dazu – , zum anderen handelt es sich um „menschengemachte“ Katastrophen, also um Phänomene der allgemeinen historischen Akzeleration.

FireShot Capture 701 - Kiew unter Beschuss_ Was in der Nacht in der Ukraine passiert ist - F_ - www.focus.de

Die Mutter aller Schocks dürften die Terroranschläge des 11. 9. 2001 gewesen sein. Historisch gesehen – verglichen etwa mit einem ausgedehnten Krieg – eher ein marginales Ereignis, weshalb Sloterdijk es auch unter den Begriff des „Luftbebens“ und der „zunehmenden Explizitheit“ behandeln konnte. Groß wurde es – neben der Waghalsigkeit der Aktion, dem tiefen Planungsverdacht dahinter, dem exquisiten Ort des Geschehens etc. – vor allem durch seine unfaßbare Photogenität und Symbolträchtigkeit und die Tatsache, daß man den Geschehnissen auf der ganzen Welt live und dann in unzähligen Perspektiven und Details selbst noch in Zeitlupe folgen konnte.

Dieser globale Schock hat uns konditioniert; seither warten die Menschen im Westen – weil sie nichts anderes zu tun haben – auf die Wiederholung des Events. In regelmäßigen Abständen wurden wir befriedigt: Tsunami in Fernost, dann in Japan nebst Fukushima, endlose Flüchtlingsschlangen 2015 und nun, endlich, ein wenig verspätet, um den ungefähren Fünfjahresrhythmus zu halten, der Einmarsch Rußlands in die Ukraine. Eine historische Zäsur. Ein neuer Schock.

Etwas aus der Reihe fällt der Corona-Terror der letzten beiden Jahre, mit seinen täglichen Massensterbenszenarien, die zuletzt so abgenudelt klangen, daß sie niemanden mehr erschütterten. Vielleicht läßt sich damit – mit dieser Katastrophenmüdigkeit – diese gewisse Distanz erklären, die viele bei den heutigen Bildern aus Kiew oder Charkow empfinden.

Möglicherweise kann man auch die plötzliche Implosion Afghanistans noch dazu zählen, vielleicht sogar als eine Vorankündigung jetziger Geschehnisse, denn wie es ausschaut, wird der militärische Teil der Aktion bald beendet sein und erneut ein vom Westen hoch aufgerüsteter Militärapparat wie ein angepiekster Ballon in sich zerfallen. Schon sagen Brigadegeneräle, am Tag Zwei: „Militärisch ist die Sache gelaufen“, schon scheint die Ukraine militärisch verloren. Im schlimmsten Falle drohte dann den Russen noch ein Guerillakrieg, aber auch danach sieht es im Moment nicht aus.

Warum? Es gibt keine Kämpfer mehr, zumindest dort nicht, wo Wohlstand herrscht oder in Aussicht steht und wo Religionen als Fanatisierungstreibstoff nicht mehr zur Verfügung stehen. Daraus ergeben sich bedeutende militärische Schlußfolgerungen: wem es gelingt, mit einer halbwegs gut gedrillten und entschlossenen Armee (Russen) oder einer Truppe Haudegen (Taliban) einen raschen und entschiedenen Erstschlag zu führen, der hat gute Chancen, seine primären militärischen Ziele zu erreichen, denn auf der Gegenseite will niemand mehr sterben, gibt es weder Kampfesbegeisterung noch Opferwille, stattdessen Wohlstandserwartende, Muttersöhnchen, Einzelkinder und auch davon immer weniger.

Was uns als Westler bleibt, ist die moralische Empörung. Wir können großartig verurteilen, brandmarken und verdammen, uns auf höhere Werte berufen, die wir selbstverständlich selbst verkörpern, wir können schuldig sprechen und Sanktionen ausrufen, sofern sie uns nicht den eigenen Überfluß vermasseln. Und auch dafür stellen sich die Medien zur Verfügung.

Wir sind verweichlicht, von der „friedlichen Geschichte“ der letzten Jahrzehnte verwöhnt und haben uns in eine Sicherheitsillusion hineinbegeben. Die Geschichte, die uns das Gegenteil lehren könnte, haben wir nach hinten abgeschnitten: nach dem Ereignis, das keine Gedichte mehr zuläßt, kann es keine Gewalt mehr geben, denn die würde ja das Ereignis relativieren.

Elend? – das gibt es immer nur anderswo! Krieg? – Das gehört der Vergangenheit an! Ab und zu, so suggerieren uns Ereignisse und Medienereignisse, ab und zu kracht es mal irgendwo, als eine Art Erinnerung daran, daß unsere Zivilisation auf dünnem Eis gebaut ist, aber dann pendelt sich die Weltgeschichte in die natürliche Umlaufbahn des historischen Fortschritts zurück.

Nur einer hat bis gestern die Party gestört und das war – ich wage kaum, es zu sagen! – das war Götz Kubitschek. Im gestrigen Podcast auf „Ein Prozent“ stellte er selbst die Frage, die aller unterschwelliger Moralismus in sich trägt: Darf der das, der Putin? Natürlich nicht – sagen alle unisono. Aber nicht Kubitschek: Na klar darf der das und zwar weil er es kann!

Wir als Carl Schmitt-Leser wissen das, fuhr er fort. Der Gedanke ist also nicht originell – aber man muß ihn erstmal haben und die Chuzpe, ihn allen ins Gesicht zu sagen.

Der Gedanke ist sogar uralt. Wir finden ihn bei Sunzi, bei Machiavelli, bei Clausewitz und eben bei Carl Schmitt und wohl bei allen Macht- und Kriegstheoretikern, die ihre Materie kalt und klar betrachtet haben. Daß er heutzutage viele Menschen erschreckt und empört aufschreien läßt, zeigt nur, wie schwach und dekadent wir in allen Fasern geworden sind. Wir sind die Guten, ja, aber die anderen sind dann vielleicht die Erfolgreichen, weil wir die Guten sind und uns die Augen mit Sonntagsreden zukleistern.

Und so lange das so bleibt und wir uns selbst auf allen Fronten entwaffnen und schwach machen durch allerlei Entgrenzungen und Auflösungen aller Identitäten, so lange dürfen das die Putins dieser Welt.

Wir mögen Recht haben, aber sie nehmen es sich.

FireShot Capture 702 - (6) Robert Willacker on Twitter_ _Keine Ahnung, warum Europa keiner e_ - twitter.com

3 Gedanken zu “Darf der Putin das?

  1. „Es gibt keine Kämpfer mehr, zumindest dort nicht, wo Wohlstand herrscht oder in Aussicht steht und wo Religionen als Fanatisierungstreibstoff nicht mehr zur Verfügung stehen.“
    Der Allerwerteste Westen wiegt sich in der Illusion, dass wenn es dann endgültig keine Familien, Nationen mit ihren Grenzen und keine Religionen gibt (John Lennon „Imagine“) – alles Gründe bzw. Treibstoff für Kriege -, dann werden Kriege von alleine verschwinden. Es gäbe dann keinen Grund mehr dafür. Die Schöpfer und Verfechter dieser Ideologie gehen von der irrigen Annahme aus, dass die gesamte Menschheit sich so eine Welt sehnlichst wünscht und bereit ist, die Konsequenzen zu akzeptieren: Vereinheitlichung aller Lebensverhältnisse weltweit, die aber nur mittels Kontrolle zu erreichen ist. Es geht wohl nicht in ihre Köpfe rein, dass diese Welt von den meisten Menschen abgelehnt wird. Und sie sind geschockt über die Tatsache, dass es Menschen gibt, die bereit sind, gegen diese Utopie physisch zu kämpfen, ja sein Leben zu opfern.

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  2. Stefanie schreibt:

    Wer sollte denn in diesem Fall Erlaubnis oder Absolution erteilen? Der Weltgeist? Der liebe Gott? Den Haag? Kubitschek? Sloterdijk ? Ein Komiteebeschluß interessierter Forumsmitglieder? Wo liegt den die moraljuristische Instanz in solchen Angelegenheiten?

    Seidwalk: In der Moral und in der Justiz – in der Theorie.

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  3. Zorn Dieter schreibt:

    Wahrscheinlich besteht die Welt seit 2000 Jahren aus Propaganda und Gegenpropaganda. Natürlich früher mit anderen Mitteln. Es ist nie leicht, da einen klaren Kopf zu behalten. Auch nicht für Politiker, die ja nicht nur Verursacher von Propaganda sind, sondern auch das Ziel von Gegenpropaganda. Hinzu kommt der Gruppendruck in Redaktionen, Militärsystemen, Parteien, etc. Anscheinend können nur Leute wie Dohnany und Lahnstein aus der Alten SPD und Leute wie Götz Kubitschek und Gabor Steingart dem allem widerstehen. Der gemeine Massenmensch, vulgo „der Wähler“, ist dem allem hilflos ausgeliefert. Er glaubt, was in der Zeitung steht oder in Tagesschau und Heute gesendet wird. Er hat ja keine andere Chance. Es sind die Intelektuellen, die bestimmen was gedacht wird. Und sie sind auch die Hauptschuldigen, wenn’s wieder einmal schief geht. Dohnany sagte vorgestern auch mal wieder den zentralen Satz aller Realpolitiker: „Staaten haben keine Moral. Sie haben Interessen.“ Umgekehrt heißt das: Moral dient in diesem Fall nur zur Tarnung von Interessen. Mit Moral kann man zwar Interessen tarnen, aber keine Politik machen. Das erfährt „der Wertewesten“ (sic!) gerade nachhaltig. Und es verwundert sehr, dass die USA das anscheinend nicht kapieren wollen. Liegt doch darin der wahre Grund all ihrer Niederlagen in den letzten 70 Jahren. Und es waren nur Niederlagen. Vielleicht geht das in das Gehirn eines Cowboys nicht rein? Und weil das so ist, bekommen sie jetzt schon wieder, nach Syrien, eine Demonstration von kalkulierter Machtpolitik. Die das tut, was sie immer tut, ihren Vorteil suchen, wenn er sich bietet. Das moralisch zu beurteilen ist völlig verfehlt. Richtiger wäre es, sich im Stil eines Clausewitz, den sie natürlich nie gelesen haben, zu verhalten: (In Abwandlung) „Beginne nur einen Krieg, den Du auch gewinnen kannst.“ Wie Putin.

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