Textkritisch übersetzen

Fortsetzung von: Sándor Márai und die Russen und: Meditationen über das Fremde

Man kann die Frage ganz prinzipiell stellen: ab wann darf man einen Klassiker überhaupt kritisieren in Form des Weglassens, Korrigierens oder Übersetzens? Ein systemisches Problem des Lektorats ist es, daß der Autor den Lektoren oder Übersetzer in der Regel überragen sollte. Dem Lektor obliegt es, stilistische, sprachliche, grammatische und auch sachliche Fehler eines Textes ausfindig zu machen, selbstverständlich kann er auch seine Sicht zur Konstruktion eines Kunstwerkes äußern, aber der Autor sollte dennoch die Hoheit über sein Werk nie abgeben müssen. Solange er lebt, kann er seine Interessen und Ansichten vertreten – nach seinem Tode ist sein Text wehrlos.

Freilich, heutiges Lektorat hat meist andere Aufgaben. Es muß aus einem Wust, aus einer tagtäglichen Flut an Texten zuerst einmal aussieben, welche Arbeit überhaupt des Drucks würdig ist, aber die Kommerzialisierung und auch die Ideologisierung haben dazu Kriterien geschaffen, die auf die eigentliche Qualität gar nicht achten …

Der Text eines weltbekannten Klassikers, eines Nationalschriftstellers sollte aus diesen Mechanismen herausfallen. Márai gehört – zumindest in Ungarn – zu jener Kategorie Künstler, von dem man auch künstlerisch Minderwertiges öffentlich machen sollte, weil es denn Blick auf das Gesamtwerk, den Gesamtmenschen, auf seine Denk- und Arbeitsweise verändern kann.

Márais Tagebücher und Erinnerungsbücher gehören nun zur Crème des Genres – weltweit. Sie sind in Ungarn in verschiedenen Ausgaben durch die Jahrzehnte stets komplett verfügbar gewesen.

MaraiNaplok

Sämtliche Tagebücher Márais

Sicher, man kann argumentieren, daß nicht alles, was in Ungarn bedeutsam ist, auch in Deutschland gelesen werden muß. Insofern sind Kürzungen vertretbar und notwendig – dennoch bleibt die Frage: Wo kürzen? Wer kürzt? Und Weshalb nun dieses oder jenes?

Eine „textkritische Ausgabe“ gibt ja bereits in der Selbstbeschreibung bekannt, daß man den Text kritisiert hat – wir befinden uns wieder bei obigem Paradox. Wer ist es, der einen Autor von Weltrang kritisiert und aus welcher Position heraus, mit welcher Legitimation tut er das? Ist er klüger, gewandter, besser als der Verfasser? Ob einer etwas mag oder leiden kann, ob es seiner Position entspricht … all das, kann kein Kriterium sein.

Etwas nicht zu übersetzten, ist auch eine Frage der Macht, denn Übersetzer und Lektor entscheiden darüber, was der Leser der Zielsprache erfährt und was nicht und zudem auch, wie er das erfährt, was er schließlich lesen kann. Das Ethos des Übersetzers sollte also im Idealfall darin bestehen – das zumindest ist mein Credo – den Text so inhaltsnah wie möglich – sprachliche Über-Setzungen sind zwangsläufig Verlustgeschäfte – zu übertragen und zwar so, daß dem Leser in der Zweitsprache ein Leseerlebnis gelingt, das dem des Lesers der Originalsprache entspricht, d.h. innere Logik, grammatische Aussagen, Abfolge der Ereignisse auch innerhalb eines Satzes etc. sollten dem Ursprungstext nahe kommen, soweit dies sprachlich und ästhetisch möglich ist.

Unterlassungen von Dopplungen und Wiederholungen etwa sind recht einfach zu rechtfertigen und bei einigen der dem Leser vorenthaltenen Passagen in „Land, Land …“ handelt es sich um solche. Zwar könnte man noch immer diskutieren, ob ein Autor vom Range Márais sich nicht auch der Wiederholungen bewußt gewesen sei und ob sie also nicht ein berechnetes Stilmittel sind, der Einfachheit halber verzichten wir auf diese Frage.

„Textkritische, leicht gekürzte Ausgabe“ – so lautet die vollständige Information. Was ist nun „leicht gekürzt“? Hier und da ein Satz? – auch das findet man in dem Buch. Hier und da eine vielleicht zu ungarnspezifische Stelle, die dem deutschen Leser schwer verständlich bleibt? Gibt es. Aber es fehlen hier ganze Abschnitte, ja sogar komplette Kapitel wurden eliminiert. Abschnitte und Kapitel – wie wir sehen werden – die ebenso gehaltvoll und aussagekräftig sind, wie jene, die man dem Leser darbietet.

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deutsche Erstausgabe des Oberbaum-Verlages

Márai beschreibt also im ersten Teil – „Első Rész“ – die Tage vor und die Wochen der Besetzung seines Fluchtortes nördlich von Budapest durch die Rote Armee. Er teilt seinen Text in 16 durchnumerierte Kapitel auf. Das deutsche Exemplar verzichtet auf die Numerierung und macht damit die Kapitel als solche unkenntlich. Stattdessen werden Abstände eingeführt, die sich aber nicht von den anderen Textabständen unterscheiden.

Die Ankunft der Russen war seit Tagen hör- und sichtbar. Man hatte bereits begonnen, freiwillig alle Waffen zu sammeln, um sie den Truppen als Zeichen des sich-Ergebens zu übergeben. Viele hielten es für angebracht, ihnen mit Kuchen und Pálinka entgegenzugehen – meist vergebens. Márai beschreibt den Ort, eine Art Sommerresidenz, ein Villenviertel wohlhabender Budapester und ein Potpourri aus Stilen und Vorlieben. Er erwähnt einen dicken Schuster, der Kommunist ist und voller Vorfreude den Truppen entgegenläuft, doch als diese ihn sehen, rufen sie „Bourgeois, Bourgeois“, weil jeder, der dick ist, in ihren Augen nur ein Ausbeuter sein kann und rauben ihn aus. Der Schuster berichtet ihm das Vorkommnis selbst und „zum ersten Mal“, notiert der Schriftsteller, „hörte ich diese enttäuschte Stimme“ und das bedeutet: er hörte sie in den kommenden Wochen oft. Dann notiert er den bedeutungsschweren Satz: „Ein Volk, das schon seit langen Zeiten im Sklavenschicksal lebte, sollte auch in diesem Augenblick gewußt haben, daß sich sein Schicksal nicht geändert hat: die alten Herren waren weg, die neuen Herren kamen, und es bleibt Sklave, wie zuvor.“[1]

Nun, all das fehlt in der „textkritischen, leicht gekürzten Übersetzung“.

Es fehlt auch folgende signifikante Stelle: Ein russischer Offizier besucht den Dichter und bittet ihn, in sein Tagebuch aufzunehmen, daß er – der Offizier – hier war, und ihm kein Haar gekrümmt habe, obwohl er in Jasnaja Poljana das Haus Tolstois gesehen habe, nachdem es von ungarischen Truppen verwüstet worden war – soweit die deutsche Version. Márai will darauf antworten – und diese Antwort fehlt –, wagt es aber nicht, weil es nicht die Zeit war, einem sowjetischen Offizier zu widersprechen, daß er vergangene Nacht das Gartenhaus von Zsigmond Móricz gesehen habe, welches von „schmutzigen russischen Stiefeln“ geplündert und niedergetrampelt worden war.

Abschnitt 5 – fünf ganze Seiten – hielt man für gänzlich entbehrlich. Darin berichtet Márai über den unersättlichen Weindurst der Soldaten und ihr Genie, auch das ausgefuchsteste Versteck ausfindig zu machen. Er zeigt die zwei Gesichter der Besatzer, die einerseits ihre Familienphotos unter Tränen vorzeigen, um dann im nächsten Moment  die Gastfamilie  auszurauben, er erwähnt die eigene Not, den Hunger und den erniedrigenden Gang zum Dorf-Shylock, einem schwäbischen Bäcker, er beschreibt, daß die Russen einen seltsamen Respekt vor guten Manieren haben und wie es ihm immer wieder gelingt, schwierige Situationen, die leicht ausarten hätten können, durch sichere Stimmführung und aufrechte Haltung – „wie ein Dompteur“ – entschärfen konnte, schließlich widmet er sich der ethnischen Zusammensetzung der Truppe und welche Probleme daraus entstanden und er widmet sich einmal mehr der Fremdheit dieser Menschen.

Auch dem achten Kapitel erging es so. Dort reflektiert er über die Mentalität des russischen Soldaten und beschreibt eine vielsagende Szene eines „Schiffbruchs mit Zuschauer“: auf der vereisten Donau trieb ein Boot mit sechs russischen Soldaten. Unbeweglich standen die Männer im Kahn und unternahmen keinen Versuch zur Rettung, zeigten nicht die geringste Regung und auch vom Ufer her sah man der Todesfahrt zu – alle warteten scheinbar nur ergeben „auf den Tod im eisigen Wasser“. Dann widmet er sich wieder den permanenten Plünderungen und führt die Beobachtungen zu einer dreiteiligen Kategorisierung der Bereicherung. Er beschreibt die angstgetrieben Verstellungskünste der Menschen und erwähnt die willkürlichen Verschleppungen. Auch der Sohn eines Bekannten verschwand in den Lagern. Der Vater setzte alle Hebel in Gang, ihn wieder frei zu bekommen und erfährt von einem NKWD-Offizier, daß man nun mal nichts dagegen machen könne: die Bürokratie frißt auch viele Unschuldige und Zufällige. Wie hoch er die Opferzahl an Unschuldigen halte? 25 Prozent aller ungarischen Opfer sind systemische Zufallsopfer, eine Zahl die Márai für zu niedrig hält. Dem Vater gelingt es, den Sohn zu befreien, doch der stirbt drei Wochen später an Erschöpfung.

Márai macht sich in diesem Kapitel auch Gedanken darüber, was die Erfahrung des Westens mit den Soldaten aus dem Osten macht und wie sie ihre Heimat mit anderen Augen sehen lernen müssen, nachdem sie die andere Welt kennengelernt haben und welche Schlußfolgerungen Stalin und das System daraus ziehen müßten.

Dann steht auch vor ihm ein Offizier und will ihn zur Deportation aufladen – aber Márai entkommt durch seine Entschlossenheit – er ist einer der wenigen aus der Nachbarschaft, die diesen Tag überstehen. Viele von den anderen kommen nie oder erst nach vielen Jahren wieder.

Auch die Bauern zeigen ihre uralten Instinkte. Noch immer stecke die Erinnerung an den türkische Schrecken in ihren Knochen, von daher wüßten sie noch, wie man Eigentum und Vieh am besten vor dem Feind versteckt: „Die Bauernschaft wußte vom ersten Moment an die Lektion, die ihr die Situation aufgegeben hatte. Als wäre die Erinnerung an die 150 Jahre türkischer Besatzung nach der Niederlage von Mohács im Selbstbewußtsein des Volkes aufgehoben geblieben. Der Bauer wußte, daß es nur einen Weg gab, sich gegen den Eroberer aus dem Osten zu Wehr zu setzen: mit Gewalt, mit Einkellerung, mit Verstecken. Vor dem brandschatzenden, raubenden, Frauen und Männer verunglimpfenden und verschleppenden Türken, hatte das verzweifelnd und anarchisch fliehende ungarische Volk aus dem 150 Jahre währenden Unglück, seine Nervenreflexe bewahrt, die sich auch nicht änderten, als das Unheil in neuer Form über sie kam. Die Deutschen hatten zuvor anders, institutioneller ausgeraubt; die Russen plünderten institutionell und individuell.“

An einer fast fabelhaften Geschichte eines erbeuteten, wohl gemästeten Schweins exemplifiziert Márai noch einmal die Hemmungslosigkeit der Raubzüge, die sich nicht um persönliche Schicksale oder die öffentliche Meinung kümmern.

All das ist so bedeutsam, wie sonst etwas in diesem Buch – ein Grund, dem Leser diese Szenen und Überlegungen vorzuenthalten, ist beim besten Willen nicht zu sehen. Oder doch? Vielleicht ist folgende Szene aufschlußreich – ich übergehe eine ganze Reihe anderer lesenswerter Passagen von nicht minderer Bedeutsamkeit, etwa über die Macht eines GPU-Offiziers, die Überlegungen über das Termitenwesen der Russen oder die Erfahrungen eines katholischen Intellektuellen, der sowohl in der Andrassy út als auch im Gulag saß, im ersteren stärker gefoltert, im zweiten sich aber seines Menschseins beraubt erlebte …

In jenem aufdeckenden Abschnitt schildert Márai eine Szene sexueller Not. Diesmal aber ist der Delinquent ein „Krüppel“ (nyomorék), ein Buckliger (púpos). Schon lange schlich er der Übersetzerin hinterher. Diesmal aber richtete er sich her, ging zum Friseur, war parfümiert, mit dem „für körperlich behinderte Menschen typischen Ehrgeiz“, trank sich Mut an und stand dann vor dem Haus, die Angebetete im Befehlston herauszulocken. Die Lage war brenzlig und potentiell gefährlich. Im Raum saßen andere russische Soldaten am Ofen und schauten gelangweilt zu. Márai trat vor die Tür und konfrontierte den Delinquenten, dessen „entstelltes Grinsen“ die Frau seit langem verfolgt hatte. Die Situation erinnerte ihn an einen Tierbändiger, der es mit aufsässigen Raubtieren zu tun hat. Nur die äußerste Konzentration und Ernsthaftigkeit konnte ihn retten – und die Frau. Márai begann mit ernster aber ruhiger Stimme auf den Buckligen einzureden, auf Ungarisch. Der verstand natürlich kein Wort: Stimme und Tonfall waren die Botschaft. Schließlich gab der Mann auf und verschwand. Die umsitzenden Soldaten klatschten Beifall für die Nummer – hätte Márai versagt, sie hätten dem Opfer nicht beigestanden.

Warum nun wird diese Szene entfernt? Sie ist dramatisch großartig entwickelt, sie ist aussagekräftig und enthält abstrakte Lehren, kurz und gut, sie ist bedeutsam. Dem Übersetzer kann das nicht entgangen sein. Die offensichtliche Schlußfolgerung kann nur lauten: Begriffe wie „Krüppel“ und „Buckliger“, mehrfach verwendet, waren auch vor 20 Jahren schon unmöglich geworden. Sie zu verwenden hieße etwa, die Gefahr eingehen, in der Presse schlechte Rezensionen zu bekommen. Lange vor den sozialen Medien, vor „shitsorm“ und „cancelling“ – so die These – hatte die Politische Korrektheit schon gesiegt, wurde schon längst „gecancelt“ und auch ein Klassiker war davor nicht gefeit.

Und dies dürfte auf die meisten der hier angedeuteten Fälle zutreffen – „textkritische, leicht gekürzte Übersetzung“ hieß auch vor 20 Jahren schon „Entschärfung“, ideologisch motivierte Eingriffe in einen Text. Fast allen Stellen, die entfernt wurden, sind deutliche Charakterisierungen „von anderen“. Käme der Text heute in ungekürzter Form heraus, das Márai-Bild des kultivierten, gutmütigen Humanisten würde umgeworfen werden, einige würden sich nicht entblöden, von „Haß und Hetze“ zu sprechen. Das Gift der Politischen Korrektheit kreist schon viele Jahrzehnte in unseren Adern, Tröpfchen für Tröpfchen verabreicht. Nun ist die Kulturwelt komplett kontaminiert und dies ist überhaupt erst die Grundlage, daß unsere Geschichte und Kultur zunehmend „gereinigt“ wird, daß Neuauflagen umgeschrieben, daß Denkmäler und Straßennamen fallen, daß jeder, der nicht aktiv gegen den Nationalsozialismus eintrat, ein Nazi gewesen sein muß, daß unsere Geschichte verschwindet, daß unsere Kultur verflacht, weil sie nur noch an der PC-Latte gemessenes durchlassen kann …

Es ist vielleicht nicht die wichtigste, aber dennoch eine lohnenswerte Konklusion: Lernt Sprachen! Fremdsprachenbeherrschung kann ein Akt von Widerstand sein – wer Originale lesen und verstehen kann, der hängt mit jeder Sprache an einem Tropf weniger! „Wir dürfen nur lesen, was sie uns in die Hand drücken … ich kann nicht lesen, was ich möchte, und das ist nicht gut“ – klagte ein Rotarmist heimlich dem Dichter … und ein bißchen ist es wieder so …

Quellen: Márai Sándor: Föld, Föld!…. Emlékezések. Akadémiai Kiadó. Ferencsy-Verlag Zürich. 1991
Sándor Márai: Land! Land!…Erinnerungen. Oberbaum Verlag. Berlin St. Petersburg 2001. 2 Bände

 

[1] „Egy nép, amély már nagyon régen élt szolgasorban, mintha e pillanatban is tudta volna, hogy sorsa nem változott: a régi urak elmentek, az új urak megérkeztek, és ő marad szolga, mint azelőtt.“

 

2 Gedanken zu “Textkritisch übersetzen

  1. Ayatollah Kuffari schreibt:

    Mit den hier dargebotenen Auszügen, die anscheinend vor der deutschen Leserschaft verborgen werden sollten (die ideologische Erziehungsabsicht ist unübersehbar), haben Sie mir unbändige Vorfreude auf das Lesen des ganzen, unzensierten Marai gemacht. Und gerade die völker- bzw. kulturpsychologischen Einblicke klingen vielversprechend. Was tut man aber als Slawist und Russland- Liebhaber, der mit seinem Ungarisch leider auf Anfängerniveau steckengeblieben ist: Englische, russische, französische Übersetzungen suchen, in denen keine heimlichen Zensoren gewütet haben? Ich erbitte Rat….

    Seidwalk: Welchen Rat? Ob ich entsprechende Übersetzungen kenne? Leider nicht.

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  2. Schaumamoi schreibt:

    Marai ist Dream of Dreams, Traum der Träume, ein Mozart der Worte und des Einblicks in die menschliche Seele…
    “Das Wunder des San Gennaro, Die jungen Rebellen, Die Schwester, Bekenntisse eines Bürgers, Schule der Armen, Das Vermächtnis der Eszter“ usw. und so fort; der Dostojewski Ungarns. LESEN, LESEN, LESEN, Rotwein trinken und eine italienische Oper hören…

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