Das Neue des Alten

„Ja, so geht es in der Welt. Kaum sieht es hell aus, da wird es wieder dunkel. Wir müssen nur dem Unseren treu bleiben, so wird es zu guter Letzt doch alles gut.“ Pastor Castbierg

Um Niemandes Zeit zu verschwenden, sage ich gleich vorweg: nachfolgend werde ich einen Roman, einen bedeutenden und hochaktuellen Klassiker besprechen, den es weder auf Deutsch noch auf Englisch zu lesen gibt – bisher!

Die Rede ist von Jakob Knudsens „Den gamle præst“ (Der alte Priester), ein Buch, das 1899 erschien und Knudsens Durchbruch in der dänischen Literatur brachte. Allerdings fast gänzlich aus Mißverständnis. Skandal schrien die Klerikalen und Jubel bekam Knudsen aus freidenkerischer und progressistischer Ecke. Gemeint war alles umgekehrt.

Diese Verdrehung mußte ich an mir selber erfahren. Als ich das Buch vor 10 Jahren zum ersten Mal las, da hatte es einen bleibenden Eindruck hinterlassen, ohne daß ich hätte sagen können, weshalb, denn es blieb wesentlich rätselhaft. Damals war ich noch nicht reif, um die Tiefenschichten der Knudsenschen Gedanken zu erfassen. Erst heute, inmitten des neu entbrannten Kulturkampfes in Deutschland und in ganz Europa wird die Brisanz und Aktualität des Werkes vollständig verständlich. Die Parallelen sind nun auch deutlicher sichtbar, als das noch vor einem Jahrzehnt der Fall war. Viele – ich auch – schliefen noch und nur wenige Denker und Autoren hatten damals bereits den Mut und die Weitsicht, die Grundkonflikte zu sehen und zu beschreiben. Heute werden diese Leute nach allen Regeln der Schweinerei in Politik und Medien unisono bekämpft, stigmatisiert und verleumdet, aber man muß sie für Ihre Aufrichtigkeit schätzen und wer das nicht kann – sei  er nun Gegner oder nicht – der ist aller Verachtung wert.

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Knudsen gehört nun – ohne daß man sich dessen wohl bewußt ist – zu den Urvätern dieses widerständigen Denkens, dieses „Etiam si omnes, ego non“, und ganz ausdrücklich in im vorliegenden Roman.

Der Skandal lag in Folgendem: Pastor Castbierg überredete Graf Trolle, den von ihm im Affekt begangenen Mord an Pastor Jensens Sohn zu verheimlichen, obwohl der Graf – der größte Grundbesitzer in der Gegend, aber ein sehr heißblütiger, cholerischer Mann – vor seiner eigenen Tat tief erschrocken war. Der junge Magnus hatte bei ihm gedient, aber er war ein Faulpelz und Weiberheld und seine ganze Art wiederstritt allen Werten, die der Graf vertrat: Ordnung und Disziplin und Pflicht. Als der freche Jüngling sich gewaltsam an des Grafen Tochter vergehen will, was nur ein schicksalsträchtiger Zufall verhindert, erschlägt er den Sünder in der Scheune. Da niemand direkter Zeuge war, hätte die Tat verheimlicht werden können … und Castbierg redet dem Grafen, dem Gesetzesbrecher zu, noch einmal das Gesetz zu brechen und zu schweigen.

Als es dann doch ans Tageslicht gelangt und der Graf es wiederum im Affekt auch gesteht, da bleibt ihm nur der Selbstmord als ehrenhafter Ausweg und nun greift Castbierg erneut skandalös ein: er segnet den Grafen zuvor und erläßt ihm alle Schuld.

Darüber echauffierte sich das damalige religiöse und kulturelle Dänemark, das war unerhört und sprengte heiliggehaltene Grenzen, und in ihrem Furor, der die Lesart dieses Buches lange bestimmte, hatten sie den eigentlichen Gehalt des Romans übersehen. Denn Knudsen wollte mit dem unerwarteten Verhalten des Pfarrers nur seinen ethischen Individualismus verdeutlichen, den er vehement vertrat, den er jedoch in straffe Ordnungsprinzipien und festen Glauben eingehegt wissen wollte, der ihm aber gestattete, freie individuelle Entscheidungen auch dann zu akzeptieren, wenn sie den Gesetzesrahmen sprengen, vorausgesetzt sie haben eine lebensgeschichtliche Kontinuität und richten sich gegen offensichtliches Unrecht. Und all das übersah man geflissentlich, seine natürlichen Gegner feierten ihn ob der Entgrenzung und seine eigentlichen Verbündeten griffen ihn deswegen an, obwohl dieses Motiv in vielen Varianten in fast allen Romanen des Autors vorkam – dies unter anderem macht die Geschichte heute wieder relevant.

Der eigentliche Konflikt ist ein theologischer. Die Gemeinde ist so gespalten wie die heutigen Gesellschaften, zwischen Progressisten und Traditionalisten. Seit einem Jahr predigt nämlich auch Pfarrer Jensen im Sprengel und mit seinem Tolstoischen humanitaristischen Gerede hat er der Hälfte der Leute den Kopf verdreht. Da wird viel von Liebe und Nächstenliebe, von Barmherzigkeit und Jesu Nachfolge geschwärmelt, da werden hehre Utopien einer ewig friedlichen Welt entworfen, da wird in höhere moralische Gefilde abgedriftet und der Stab über alle gebrochen, die anderer Ansicht oder einfach nur Menschen geblieben sind mit allen Ecken und Kanten und kleinen Verfehlungen. Ach, wie klingt das gut, das Geschwätz von einer besseren Welt – sogar Graf Trolle wird zum Tolstoianer.

Freilich weiß das dort niemand, denn Jensen behält es für sich, auch wenn seine Predigten nichts anderes sind als auswendig gelernter Tolstoi, konkret dessen „Worin besteht mein Glaube“. Castbierg kann ihn des Gedankenraubes öffentlich überführen, aber die Gefolgschaft ist bereits zu verblendet, um sich noch abwenden zu können. Lieber gaukelt man sich in scheinfriedlichen Versammlungen ein Idyll vor, tatsächlich sind diese religiösen Treffen unter der Oberfläche jedoch komplett vergiftet und grundfalsch. Schließlich geht es Jensen eigentlich nur ums Geld.

Castbierg hingegen ist Realist und erzkonservativ. Es nütze nichts, Vollkommenheitsgebote auszugeben, denn sie sind unerreichbar und daher schädlich. Man müsse zuerst den ersten Schritt gehen und nicht nur das unerreichbar ferne Ziel vor Augen haben. „Vernünftige Menschen besprechen und verhandeln und beratschlagen nur das, was sie auch ausführen können, und nicht das, was nun und auf lange Zeit hinaus als reine Unmöglichkeit angesehen werden muß.“ … „Und deshalb können wir in unseren Tagen die Gedanken um die Abschaffung des Krieges und des Eigentums, der Obrigkeit und der Strafe vernachlässigen, denn wenn wir das versuchten, so würden wir noch nicht mal die erste Meile des langen Weges schaffen.“ Wer hier und jetzt das Vollkommenheitsgebot Christi predige, ist ein Lügner und Täuscher, der „spielt Komödie als Halbengel und spricht Himmelssprache, um seine eigentliche Elendigkeit zu überdecken“. Die meisten seien heutzutage doch „Komödianten, Phantasten und Wirrköpfe, um nicht Lügenhals zu sagen, wobei unter diesen kaum ein redlicher Arbeiter sich befindet.“

Das ist des Pudels Kern! Castbiergs Anhänger sind ehrlich arbeitende Menschen, Bauern, Kleinhäusler, Knechte, meist arm, aber aufrichtig und vertrauenswürdig, getragen und zusammengehalten von ihrem Glauben, der Gemeinde, der Tradition; für sie kommt Mode etwa noch nicht von „modern“, sondern von Identität und Standesbewußtsein[1], von ihnen kann der alte Pfarrer noch sagen, daß sie sich noch nicht „von ihren seelischen jütländischen Bauernwurzeln losgerissen haben“, daß sie zu jener Hälfte des „dänischen Bauernstandes gehören, die hunderte und aberhunderte Jahre trotz Unterdrückung und Demütigung sich seelisch gesund und frisch gehalten haben wie die Natur selbst“, das seien Menschen, „die nach einer tausend Jahre alten Bildung – das, was wir althergebrachte dänische Bauern- und Volkssitten nennen“, leben,  „die noch nicht von ihren Seelenwurzeln losgerissen wurden und die in ihrem Wesen sicher auftreten, weswegen andere sich in ihrem Beisein auch sicher fühlen“ könnten …, wohingegen Jensen vornehmlich jene um sich versammelt, die den Kontakt zum realen Leben durch ihre von Erde und Volk entfremdeten Lebenssituation verloren haben: Kontoristen, Bürokraten, Städter, Händler, Gutsbesitzer.

Sie sind – Castbierg sieht das ganz deutlich – Resultat ihrer Zeit, der neuen Geschwindigkeit, der neuen Technik, der Befreiungsbewegungen, der Gleichstellungsfanatiker und all das, was die Seelen und ihre Moralen überfordert und überrennt und das langsam Gewachsene zerstört. „Tolstois Moral-Christentum, oder der Fanatismus der Inneren Mission, oder – Sozialismus oder andere Großpolitik, das alles besteht aus Phrasen; es ist eigentlich egal, wie man das alles nennt, denn wenn eine Sache erst einmal unwirklich ist, so ist es ja gleichgültig, was es letztlich ist. Ich bin konservativ … Ich wünsche mir keinen anderen oder keine besseren Reformen, ich wünsche überhaupt keine Reformen; ich wünsche, daß das Ganze für eine gewisse Zeit stillstehen sollte, damit die Menschen einen Moment Zeit haben, um auch ihre arme Seele mitzunehmen, von der wir uns längst entfernt haben. Alles in unseren Tagen hat das Überhastete an sich, was die Seelen nicht ertragen können.“

Nun, das ist starker Tobak. Aber Knudsens genialer Trick besteht nun darin, daß Worte und Handlungen sich in seltsamer Dialektik drehen, denn eigentlich ist es ja Castbierg, der mit seinem doppelt gefährlichen Rat an den Grafen die alten Spielregeln ganz situativ und aus Menschenliebe – denn es steht das Leben von Tochter und Ehefrau des Grafen auf dem Spiel –, vor allem aus seinem inneren Wesen heraus, verändert, wohingegen Jensen als falscher Prophet, als geldgieriger und menschlich unsensibler Utilitarist, der sogar den Tod seines Sohnes einmünzen will, der letztlich scheitert und abziehen muß, dasteht. Auch der Graf muß vor seinem selbstgewählten Tod im See erkennen, daß das schöne Gerede in seiner existentiellen Situation ihm nicht hilft und sich als Lüge entzaubert.

Knudsen, selbst konservativ, entpuppt sich als eigentlicher Visionär, denn er hat in diesem – und auch in seinen späteren – Roman ganz treffsicher die Grundkonflikte der Moderne beschrieben und sogar literarisch aufgelöst.

Leider hinken seine schriftstellerischen Gaben den denkerischen ein klein wenig hinterher. Dem Buch mangelt es gelegentlich an Flüssigkeit, es erinnert in der Komposition mitunter an Aufzüge und Abgänge im Theater und die Theoriebeiträge können gelegentlich etwas hölzern wirken.

Dennoch liegt hier ein ganz bedeutender Roman vor. Es gab 1910 eine deutsche Übersetzung[2] in einem kleinen Verlag, die heute kaum noch zu erwischen ist. Wem es gelingt, der sollte zugreifen! Oder – vielleicht – die Geduld aufbringen und auf eine Übersetzung zu hoffen. Gäbe es einen interessierten Verlag – der Wink mit dem Zaunpfahl! – dann wäre das in ein paar Monaten locker machbar!

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Zierde jeder gepflegten Hausbibliothek: Jakob Knudsens Gesammelte Werke
[1] Ein Beispiel: „Es dauerte nicht lange, da versammelten sich auf den Bänken um den Gemeindepfarrer eine Anzahl Bauern – Häusler, Kleinbauern mit ihren Frauen – die auch ganz mit den örtlichen Gepflogenheiten Unvertraute sofort vom Rest der Versammlung hätten unterscheiden können. Wodurch? Das war nicht einfach zu sagen, vor allem wohl an dem übereinstimmenden Gepräge in Kleidertracht und Auftreten, die so typisch sind für Menschen auf dem Dorf, wo alte Sitten und Gebräuche so große Macht haben. Namentlich an Tracht und Schmuck der Frauen konnte man ersehen, daß just dieser Schal und jene Haube, diese  Brustnadel und jene Spange nicht nach einer zufälligen Grille der Besitzerin gewählt worden war, weil sie sie vielleicht in einem Schaufenster in der Stadt gesehen hatte und also hingelaufen war, um sie gleich zu kaufen; nein – es war sozusagen ein gemeinsames Bewußtsein, die vergleichbare ökonomische Entwicklung in dieser kleinen Gemeinde, zu der man gehörte, die hatten es mit sich gebracht, daß sie – die einzelne – sich nun dieses, dieses besondere Stück hat anschaffen müssen .“
[2] Der alte Pfarrer. Deutsch von Hermann Kiy. Nordische Verlagsanstalt. R. Hieronymus. Neumünster 1910 – Kiy hatte auch Hamsun, Andersen-Nexø, Ewald und andere große nordische Autoren übersetzt.

Übersetzungen: © Seidwalk

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