Warum der Osten?

„Die Identität von Subjekten läßt sich also deswegen vollständig nur über deren Geschichten vergegenwärtigen, weil diese Identität in ihrer synchronen Präsenz stets mehr enthält als das, was aus gegenwärtigen Bedingungen verständlich gemacht werden könnte. Anders formuliert: das, was einer ist, verdankt sich nicht der Persistenz seines Willens, es zu sein. Identität ist kein Handlungsresultat. Sie ist das Resultat einer Geschichte, das heißt der Selbsterhaltung und Entwicklung eines Subjekts unter Bedingungen, die sich zur Raison seines jeweiligen Willens zufällig verhalten. Eben deswegen ist das Subjekt im Verhältnis zu der Geschichte, durch die es seine Identität hat, auch nicht deren Handlungssubjekt, sondern lediglich das Referenzsubjekt der Erzählung dieser Geschichte.“ Hermann Lübbe

Warum der Osten? – Das ist eine Frage jener Art, von der Hermann Lübbe nachwies, daß „sie sich nur historisch erklären” lasse. Weil sich in ihr ein Relikt verbirgt, ein scheinbar funktionsloses Überbleibsel, ein Rest aus einer vergangenen Zeit, den das Wort „Widerstand“ recht gut trifft. Denn ernsthafter politischer Widerstand ist eine Seltenheit und eine Sünde in Deutschland geworden.

Die Liste ist lang, es genügt, ein paar Namen der jüngeren Geschichte zu nennen, um die korrekten Assoziationen hervorzurufen: Plauen und Leipzig, später Clausnitz, Dresden, Einsiedel, Chemnitz. Das Erstarken der AfD, Pegida und auch die NPD im Landtag … all das sind Anzeichen, daß die Uhren in Sachsen etwas anders ticken. Dennoch ist Sachsen zuerst ein ostdeutsches Phänomen: die Differenz zwischen Ost und West ist größer als die zwischen Sachsen und seinen ostdeutschen Schicksalsgenossen.

Politik und Presse stehen ihm noch immer ratlos gegenüber. Ihre Erklärungsversuche sind repetitiv und voraussehbar. Man bringt – alles O-Ton – das „autoritäre Staatsverständnis aus der DDR“, die „mangelnde Aufarbeitung des Nationalsozialismus“, eine „fehlende interkulturelle Kompetenz“, „Defizite im Erlernen eines richtigen Demokratieverständnisses“ oder die „Enttäuschung nach der Wende“, den sozialen Abstieg, das „Fehlen positiver Erfahrungen mit Zuwanderern“ – mögliche negative Erfahrungen werden bereitwillig ausgeblendet –, „rassistische Ressentiments“, eine „substantielle Demokratiefeindlichkeit“, gar einen „Haß auf das Establishment“ und dergleichen immer wieder ins Spiel, und linke Parteien schlagen auch gern politisches Kapital daraus, indem man die CDU als Regierungspartei, den Abbau von Polizei und Justiz, „ungenügende Integration der Asylsuchenden“ oder gar „mangelnde politische Bildung“ verantwortlich macht. Nirgendwo wird die Legitimität des Protestes mitgedacht. Und auch wenn all diese Argumente einen Wahrheitskern enthalten, so zeugen sie doch von einer ideologieinduzierten selbstauferlegten Unmündigkeit und Denkfaulheit.

„Für den gewohnten Blick steht eine Gesellschaft wie die ostdeutsche in jeder Hinsicht für das glatte Gegenteil von Freiheit und ‚liberalen‘ Sitten: für die Abschottung der Menschen vom Weltverkehr; für eine die Initiative und Selbständigkeit fesselnde Staatskontrolle; für das Ausufern von Strafsanktionen sowie eigens dafür geschaffener Tatbestände; für die Überwachung der sozialen und privaten Beziehungen und selbstverständlich auch für eine Industriemoderne patriarchalen Zuschnitts, die die Leute sozialstaatlich versorgte und dafür politisch mundtot machte. Daß sich die Menschen dennoch von staatlichen Zwängen und Verhaltensdiktaten lösten, kulturell emanzipierten, mutet wie eine Legende an. Aber es ist keine.“ Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land

Der vielleicht markanteste Zug des Lebens in der DDR – mit mentalen Folgen – war seine Nivellierungstendenz. Die soziale Ungleichheit war auf ein heute kaum noch vorstellbares Maß geschrumpft. Das Lohnniveau war niedrig, aber gut und schlecht Verdienende blieben in Sichtweite. Lohnbescheinigungen waren keine Geheimnisse. Auch teilte man sich aus einem beschränkten Fundus die gleichen Konsumgüter. Die meisten Werktätigen rechneten sich selbst – relativ unabhängig von ihrer Funktion – der Arbeiterklasse zu, „zuletzt war alles Arbeit – Wissenschaft, Philosophie, Literatur, Kunst“ (Engler). Das „Du“ der Genossen war verbreitet, Arbeiter, Bauern, Handwerker duzten sich ohnehin. Ob Parteisekretär, Betriebsleiter, ob Polizist oder Hilfsarbeiter, man wohnte oft im selben Block. Die Inneneinrichtungen glichen sich, Individualität wurde bescheiden ausgedrückt.

Über zwei Millionen Menschen waren Mitglied der SED, mehr als 95% des FDGB und drei von vieren in der DSF. Niemand litt existentielle Not, kaum jemand schwelgte im Reichtum. Diejenigen, die deutlich über dem Durchschnitt verdienten, taten gut daran, ihr Vermögen im Stillen zu genießen. Es herrschte auch in der DDR eine Art Janteloven, dessen erstes Gesetz lautete: „Du sollst nicht glauben, daß du etwas Besonderes bist.“ Die Gleichheit schärfte das Sensorium für Unterschiede. Mit Neid mußten die Privilegierten, mit Mißgunst die Unabhängigen rechnen. Unverschuldete Differenz nach unten wurde oft helfend ausgeglichen. Kontrolle funktionierte in beide Richtungen: nicht nur wurden die Menschen vom Staatsapparat kontrolliert, sondern diese kontrollierten auch jene, die sich öffentliche Exzesse nicht leisten durften. Grundlegende Lebensbedingungen waren garantiert und meist staatlich subventioniert: Mieten und Grundnahrungsmittel waren günstig, Arbeitsplätze sicher, die ärztliche Versorgung über eine zentrale Krankenkasse abgesichert, öffentliche Verkehrsmittel lächerlich billig. Es bedurfte einiger Anstrengung, in der DDR sozial zu scheitern. Das normale Leben verlief risikoarm und gleichförmig.

Die Konsequenz war der weitflächige Rückzug ins Private. Das erzwang zudem die Mangelwirtschaft. Da häusliche Arbeit kaum an Dienstleistungen delegiert werden konnte, man immer auf der Suche nach Ersatzteilen war, mußte die Arbeit selbst geleistet oder mit Beziehungen organisiert werden. Mangel führt zu Kooperation, Kooperation führt zu einem Zusammengehörigkeitsgefühl, zur Erfahrung von Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Vor allem die Männer zogen ihre Daseinsberechtigung aus Auto, Haus und Garten. An den Wochenenden standen sie auf der Straße und pflegten den Trabi, arbeiteten im Schrebergarten – eine sächsische Innovation – oder bauten mit der Schubkarre ihr Einfamilienhaus. Sie waren Allrounder. Das Erleben von Mangel führt aber auch zu Sorge und vorausschauendem Denken, Überfluß hingegen animiert die Sorglosigkeit. Das äußert sich in einer stärker ausgebildeten Tendenz, aktuelle Vorgänge in die Zukunft zu projizieren und deren meist negative Folgen zu antizipieren.

Die weitgehende Freiheit von ökonomischen Zwängen ließ die Öffnung auf den Mitmenschen zu. Ehen wurden aus Liebe geschlossen und scheiterten daher oft. Man schaute auf „den Charakter“, nicht auf den Geldbeutel oder Karrieren. Soziale Beziehungen wurden weit weniger funktionalisiert und auf Nutzfaktoren ausgerichtet. Man begegnete sich auf Augenhöhe, von Mensch zu Mensch, nicht als Repräsentant eines Besitzes oder einer Funktion und ohne Konkurrenzängste. Die Beziehungen im Privaten waren echt, während in der Öffentlichkeit der Schein regierte. Eine schizophrene Situation: Authentizität im Eigenen, Fassade im Öffentlichen. Der gesamte öffentliche Diskurs wurde in Sprechblasen absolviert. Auf der Rückseite des Mißtrauens durch die staatliche Überwachung und Kontrolle hatte sich eine Vertrauensgesellschaft im Kleinen entwickelt, zumindest für all jene, die sich politisch nicht exponiert hatten. Die DDR hatte die Menschen entgegen ihrer Indoktrinationsabsicht zu eigenständig denkenden – freilich mit begrenztem Denkhorizont und Vokabular – und handelnden Menschen erzogen.

„Würde die deutsche Sprache eine solche Formulierung gestatten, dann müßte man sagen, daß die Ostdeutschen in ihrer Gesamtheit weniger gescheitert sind als vielmehr von den Verhältnissen ‚gescheitert wurden‘, die ihr eigenster kollektiver Entschluß zuvor ins Leben gerufen hatte.“ Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde.

Für diese Menschen kam „die Wende“, die sie selbst eingeleitet hatten, als Versprechen und als Angst. Neue Welten öffneten sich, aber scheinbar feststehende Lebensläufe verflüssigten sich im gleichen Augenblick. Für fast alle DDR-Bürger war sie ein gravierender biographischer Schnitt, für die meisten Westdeutschen änderte sich lebensweltlich hingegen nichts. Das neue Deutschland war zuerst eine Trennungs- und Schrumpfungserfahrung. Man schied von Stellen, Kollegen, Kollektiven, Gewohnheiten, Abläufen, Beziehungen und auch die Arbeit ging als Legitimationsbasis verloren. Nicht zu arbeiten galt bisher als asozial, plötzlich war das arbeitsfreie Einkommen – Kapital, Börse, Besitz, Stütze –, das „Geld für sich arbeiten lassen“, zum Ideal erkoren und Arbeitslosigkeit immerhin eine Möglichkeit. Betriebe, Genossenschaften, gigantische Kombinate schrumpften in rasantem Tempo oder verschwanden komplett. Mit ihnen waren Millionen Lebensleistungen pulverisiert worden. Die do-it-yourself-Gesellschaft wurde vom Dienstleistungs- und Fertigteildenken abgelöst, was vor allem für viele Männer bis in die Familien hinein einen enormen Statusverlust bedeutete.

Die Ostdeutschen, denen die progressive Konstanzerfahrung, das Gefühl, es würde auf ewig immer nur noch besser werden können, fehlt, wurden weniger von ihrem politischen und wirtschaftlichen System als von dem sich daraus ergebenden sozialen System geprägt. Nur so kann man die Ostalgie und den Kult um DDR-Erzeugnisse verstehen: den Produkten werden ideelle Werte übergestülpt, sie erzeugen eine Atmosphäre. Ostdeutsche Identität darf nicht mit Systemidentifikation verwechselt werden; auch ihre inneren politischen Gegner empfanden sie. Die Menschen waren schnell bereit, „den Sozialismus und seine Errungenschaften“ hinter sich zu lassen, aber sie wußten, was sie an der inneren Wärme hatten, die sich in diesem Brutkasten an intrinsischen Widersprüchen entwickelt hatte. Die DDR-Identität war nur für einen kleineren Teil eine politische, für die Mehrheit jedoch eine kulturelle und die beinhaltete auch das nationale Element. Ostdeutsche wurden sie erst durch die nun präsenten Westdeutschen – bis dato hatten sie sich als Bürger der DDR und als Deutsche begriffen.

Die ersten Kontakte mit den neuen alten Landsleuten liefen nicht immer erfreulich. Mit tief verinnerlichter Vertrauensseligkeit gingen sie in die deutsche Einheit und wurden plötzlich mit gewinnorientierten Menschen konfrontiert. Oft nahmen diese Leitungspositionen ein, ohne das Wesen der Menschen begriffen zu haben, fällten Entscheidungen und schlugen Töne an, die man im Osten nicht verstand. Gewinner der Geschichte standen als lebender Vorwurf vor den Verlierern. Selbstverständlich litt das Selbstwertgefühl vieler Menschen darunter, die nun ein eingeschränktes Selbstwirksamkeitserlebnis zu verarbeiten hatten.

Als der erste Bananen- und Reisehunger gestillt war, wurden die systemischen Mißtöne hörbar. So wurden etwa 40 Jahre lang Meinungsvielfalt, Pressefreiheit, Redefreiheit als Forderung von West gen Ost geschleudert – sich selbst dabei als Vorbild entwerfend –, aber die Erfahrung war dann eine andere. Sie erlebten zunehmend neue Redehindernisse in Form von Distanzierungs- und anderen Bekenntniszwängen, einer weniger meinungspluralen Presse als vermutet, später in Form von Diffamierungen, Belehrungen und zuletzt als nahezu erstickende Politische Korrektheit und einer Erinnerungskultur, die die antifaschistische DDR noch überbot. Das große Freiheitsversprechen wurde für viele enttäuscht. Die Erinnerungskultur wechselte dabei die Seiten. Der Kommunist konnte sich all die Jahre als Opfer des Nationalsozialismus begreifen, der ostdeutsche Antifaschismus hatte entlastet, und nun wurde man als Gesamtdeutscher wieder zum Tätervolk gezählt.

Überhaupt waren die jüngeren Generationen im Osten von der Geschichte weitgehend abgeschnitten worden. Die DDR-Geschichtsschreibung hatte die gesamte Realgeschichte nach einem „gemeinsamen Erbe“ durchforstet und sich alles Brauchbare als „humanistisches Erbe“ einverleibt. Das „Reaktionäre“ wurde ausgesiebt. Zurück blieb ein mageres historisches Gerüst – aber auch auf diesem kam man nur schwer über die zwölf Jahre hinweg. Alles davor hatte den Test der „Zerstörung der Vernunft“ abzuleisten. Die Fülle der Geschichte, ihre eigentliche Dialektik war der Geschichtsklitterung geopfert worden. Doch neue Geschichtsbücher aus dem Westen enttäuschten, denn auch sie blieben – wenn auch anders – am Scharnier 33 stehen und verstellten den freien Blick auf historische Leistungen.

Die Ostdeutschen waren einer hohlen, wenn auch idealistischen Geisteswelt entkommen. Statt diesen Freiraum zu füllen, bekamen sie – und erstrebten es auch – materielle Sättigung, die sich geistig ebenfalls als hohl erwies.

Immerhin hatten die Ostdeutschen durch ihre Erfahrung sich ein feines Gehör für Mißtöne erhalten, die sie auch aus jeder Grundmelodie heraushören, und sie hatten überrascht erfahren, daß man ein politisches System durch Proteste ändern und verändern kann. Unter ihnen bilden die Sachsen eine besondere Kategorie.

„Menschliche Gemeinschaften größeren Umfangs erwachsen aus gleicher Landschaft, gleicher Herkunft, Sitte und Wesensart, verstehen sich oft auch als solche eines Standes, des Glaubens, der Gesinnung und des Willens, ergeben sich notgedrungen aber immer auch aus gleicher, nicht immer freiwilliger Staatsbürgerschaft und in der Folge gleichen Schicksalen.“ Heinrich Jordis von Lohausen: Denken in Völkern. Die Kraft von Sprache und Raum in der Kultur- und Weltgeschichte.

Fortsetzung folgt: Warum Sachsen?

zuerst erschienen in: Sezession Heft 90

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