Denkanstöße – Imre Kertész

11. Januar 2004 Morgendämmerung. Vorgestern abend ist M. nach Budapest geflogen; ich habe sie ungern gehen lassen, sie fehlt mir. Die Abendmaschine war voller ärmlicher Araber, die in Budapest in irgendeine Nahost-Maschine umsteigen. Eine sonderbare Art armer Familien, mit Frauen, großköpfigen, aggressiv brüllenden Kindern; anstatt mit ihnen Mitleid zu haben, assoziiere ich Bomben und Terror. Europa wird bald zugrunde gehen an seinem einseitigen Liberalismus, der sich als naiv und selbstmörderisch erwiesen hat. Europa hat Hitler hervorgebracht, und nach Hitler waren keine Argumente mehr geblieben: Dem Islam taten sich alle Tore auf, man wagte nicht mehr, über Rassen und Religion zu sprechen, während der Islam fremden Rassen und Religionen gegenüber keine andere Sprache kennt als die Sprache des Hasses. –

21. Januar 2004. Morgens halb sechs. … Zur Politik wäre noch das eine oder andere zu sagen, aber das wäre wirklich unnütze und langweilige Zeitverschwendung. Es ginge darum, wie die Muslime Europa überschwemmen und in Besitz nehmen, direkt gesagt, zerstören werden; darum, wie Europa das alles handhabt, um selbstmörderischen Liberalismus und die Dummheit der Demokratie. Das ist stets das Ende: Die Zivilisation erreicht einen überzüchteten Zustand, in dem sie nicht mehr nur nicht mehr fähig, vielmehr auch nicht mehr willens ist, sich zu verteidigen; in dem sie, unverständlicherweise, ihre eigenen Feinde verherrlicht. Und dazu kommt, daß man das alles nicht öffentlich sagen darf. Wieso nicht? Die Frage würde mich nicht beunruhigen, wenn ich nicht inzwischen zur „öffentlichen Person“ geworden wäre. Ich fange an, den Zwang zu begreifen, aus dem die allgemeine große Lüge sich speist: Es ist einfach unmöglich, gegen diesen Zwang anzukämpfen, für den Politiker deshalb, weil er seine Popularität verliert, und für den Schriftsteller ebendeshalb; die Lügen und die totale Selbstaufgabe gehören zu den guten Manieren.

19. November 2004 … Es bricht eine mörderische Welt an, Nationalismus, Rassismus; Europa beginnt zu erkennen, wohin seine liberale Einwanderungspolitik geführt hat. Plötzlich wird man gewahr, daß es Fabelwesen, die man multikulturelle Gesellschaft nennt, gar nicht gibt. Eine interessante, paradoxe Sackgasse: Während die Europäische Union erweitert wird, schnüren sich einige Unionsländer enger zu. Die zu erwartenden Gesetze stehen im Widerspruch zur Verfassung der Union, doch wer wollte ihre grundlegende Bedeutung leugnen. Das Problem ist, daß man nicht differenziert: indem etwa gesonderte Gesetze für die einheimischen Bürger gelten und sich andere auf die Muslime beziehen. Doch das wäre Ausgrenzungspolitik. Wiederum ist es unmöglich, sich vorzustellen, daß, sagen wir, Frankreich in zwei bis drei Generationen ein muslimisches Land sein wird. Politiker, die von den durch die allgemeine Angst und Hysterie entfesselten Emotionen aufgewühlt sind, werden die Situation eher zur Erhaltung ihrer eigenen Macht nutzen wollen, als sich die Köpfe über wirkliche Lösungen zu zerbrechen. Direkt gesagt: es tut sich die Möglichkeit neuer Diktaturen auf, die unter dem Vorwand drohender Gefahren in erster Linie die eigenen Staatsbürger in Gefahr bringen. Vor derartigen Problemen steht die zivilisierte Welt, und es ist nicht möglich, öffentlich zu ihrer Verteidigung aufzutreten, weil man dann auf der Straße erschossen wird (siehe den Fall Theo van Gogh). Andererseits ist es die große Frage, ob der gerade wiedergewählte amerikanische Präsident zur zivilisierten Welt gehört. Nun, mit solchen Fragen müsste man sich ernsthaft auseinandersetzen – allerdings nicht mehr ich, der ich gern noch auf Papier bringen möchte, was in meinem Ranzen zappelt.

Imre Kertész: Letzte Einkehr. Tagebücher 2001-2009. Frankfurt/M. 2013
Kertész erhielt 2002 für seinen „Roman eines Schicksallosen“ den Literaturnobelpreis. Er war jüdischer Abstammung und Auschwitz-Überlebender.

4 Gedanken zu “Denkanstöße – Imre Kertész

  1. Till Schneider schreibt:

    Off-topic: „Tichys Einblick“ schreibt heute über Sloterdijk, genauer gesagt über den „Rückzug eines ehemals unangepassten Denkers“. Dessen jüngste Interviews im Rahmen der Werbekampagne für sein neues Buch seien „ernüchternde Dokumente der Selbstverzwergung“.

    https://www.tichyseinblick.de/meinungen/peter-sloterdijk-ich-glaube-die-geschichte-ist-zu-ende-erzaehlt/

    Was meinen Sie dazu? Würde mich sehr interessieren.

    Seidwalk: Steht in der neuen „Sezession“ und kommt auch hier demnächst – zumindest, was das Buch betrifft.

    Er ist in den letzten Wochen in der Tat sehr rege in der Öffentlichkeit unterwegs, wird natürlich überall auch zu Corona befragt, verweigert dort aber „unangepaßtes Denken“ – vielleicht der Tatsache geschuldet, daß er meint, mit der Wissenschaft – soweit wir sie vermittelt bekommen – gehen zu sollen. Die „Unangepaßtheit“ zeigt sich aber noch immer in den Äußerungen zum Umgang mit der Krise.

    Habe TE aber noch nicht gelesen …

    https://youtu.be/rUTG7yJui1g?t=234

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    • Nun gut, habe den Artikel auf TE soeben gelesen und empfinde ihn in großen Teilen als ziemlich anmaßendes Ding. Er ist von der Sorte: „Dann schreibe halt ich deine Bücher“. Es mag an meiner Sloterdijk-Verehrung liegen, daß ich es mir abgewöhnt habe, seine Gedanken an der Übereinstimmung zu den meinen zu messen – stattdessen frage ich mich: was ist dran? Was hat ihn dazu gebracht, dieses oder jenes zu sagen?

      Der einzige valide Punkt, den Fritsch hier anbringt, ist die irreführende Aussage zu den Corona-Toten und schwer Erkrankten, zu den Zahlen. Die Aussage ist so verdreht, daß man einen Sprach- oder Erinnerungsfehler annehmen sollte – wenn sie so gefallen ist. Kenne das Spiegel-Interview, ist mir nicht aufgefallen (Zusatz: hier ist die Aussage). Auch die Äußerungen zu den Querdenkern scheint darauf hinzuweisen, daß Sloterdijk seine Informationen dazu aus dem Mainstream bezieht. Ich kann aber auch keine Pflicht erkennen, sich durch den Wust an alternativen Medien durchzuarbeiten, vor allem, wenn man – wie er – die Corona-Pause nutzen will, durch intensive Lektüren zu füllen: das war sein Ansinnen im Tagesspiegel, wenn ich mich recht entsinne.

      Das Ziel des Artikels scheint mir zu sein, eine Art Druck auszuüben – man erwartet auf der Rechten offenbar immer wieder Bekenntnisse, weil man verstreute Äußerungen der Kritik als Zugehörigskeitsangebote mißverstanden hat. Der Mann ist aber SPD-nah – und darin sollte man kein Problem sehen. Seine gesammelten Kritiken an der Verengung der diskursiven Räume in der BRD seit Jahrzehnten sind doch nicht obsolet, nur weil er jetzt nicht über dieses Stöckchen springt.

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    • Zur Ergänzung: Fritschs Kritik an der Terror-Definition ist für einen „Schüler“ Sloterdijks unter dem erlaubten Niveau. Wie ich hier in verschiedenen Artikeln dargestellt habe, definiert Sloterdijk den Terror von der Botschafts- und nicht von der Tatseite her. Daher kann es auch einen „Naturterror“ geben. Ein Paradebeispiel hat gerade erneut Drosten gegeben, der für den Sommer trotz Impfung und Herdenimmunität „große Infektionszahlen neuer Patientengruppen“, insbesondere unter den Nicht-Risikopatienten prognostiziert. Nichts anderes sagt Sloterdijk im Interview und das ist noch immer „unangepaßt“.

      Überschrift wurde geändert: https://www.welt.de/politik/deutschland/plus220288972/Janosch-Dahmen-Rechne-mit-Zehntausenden-Corona-Toten-bis-Weihnachten.html

      hier der Screenshot

      oder das hier: https://www.focus.de/gesundheit/news/covid-19-in-den-usa-sterben-taeglich-mehr-menschen-als-bei-pearl-harbor_id_12359900.html

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