Warum erzählt Helmut Lethen von jenem Werbeplakat aus den 70er Jahren im Utrechter Busbahnhof, das eine Kaffeewerbung mit dem Tod verbindet? Weil es ein Beispiel der Vagheit der eigenen Erinnerung ist, denn eine heute mögliche Internetrecherche belehrte ihn, daß die jahrzehntealte Reminiszenz in fast allen Details falsch war. Das ist ein Vorbehalt. Und noch so ein Satz: „Es ist nicht immer leicht, den Gedankengängen der Rechtsintellektuellen zu folgen.“ Nun, das gilt auch spiegelbildlich.
Monat: Dezember 2020
Homöopathie als Weisheitslehre
Gleich der erste Satz eine Wucht: „Dieses Buch ist keine Chronik einer Entwicklung. Alles, was vom Werden … Hahnemanns erzählt wird, wird mit Hinblick auf seine Vollendung erzählt.“ Tatsächlich wird das Buch in weiten Teilen nicht getrieben, sondern gezogen, nicht die Frage „warum“, sondern „wozu“ gestellt, und das eröffnet ganz andere Möglichkeiten, bringt aber auch Probleme mit sich. Zuvorderst entspricht diese Herangehensweise Hahnemanns Philosophie der reinen Phänomenalität, ist also genuine, komplementäre Aussage, und erlaubt ein intensives Sich-Einfühlen. Ja, Hahnemann wird nicht nur besprochen, er wird sogar direkt an-gesprochen, als wäre er noch immer präsent, immer schon und immer noch da. Und wirklich, die Homöopathie, die Fritsche uns vorstellt, ist plötzlich da und in gewisser Weise ewig und sie beginnt mit ihrem Höhepunkt, kennt also keine eigentliche Entwicklung, nur Varianten, meist Dekadenzen. Nur die tiefsten Weisheitslehren des Taoismus, des Buddhismus und des Kynismus können da mithalten, nur diese beginnen auch mit ihrem Höhepunkt (Laotse, Buddha, Diogenes). Damit, als letztes Ergebnis dieser Herangehensweise, wird der Homöopathie von vornherein ein transzendentaler Charakter zugesprochen.
Denken und Sagen
Das deutlichste Kennzeichen von Dekadenz ist immer die Ausbreitung der Auffassung vom Nur-Leben als höchstem Wert; die letzten Menschen blinzeln und sagen „wir sind doch gleich, wir sind doch glücklich“. Alles andere – die Hochschätzung von Schlauheit und Feigheit, die Urteilsschwäche, der Geburtenschwund, die Ausbreitung der Homosexualität, der Egalitarismus, der Aufstieg der Mediokren – das sind nur Folgen. Im Kern geht es um eine Lebensform, die nicht mehr an sich glaubt, und die deshalb ihren Untergang will. (Karlheinz Weißmann)
Das Märchen von der Prinzessin und dem Edelstein
Es war einmal eine kleine Prinzessin, die fand auf einem Spaziergang durch den Wald einen großen glänzenden Stein.
Der Stein war so schwarz wie ihr Haar, so schwarz, wie sie nie zuvor einen gesehen hatte. Er glitzerte und glänzte an einigen Ecken, war rauh und spitz an anderen. Als sie ihn aufheben wollte, riß sie sich an ihm die Hand und leise begann sie zu schimpfen. Doch im gleichen Moment fiel ein Sonnenstrahl auf den Stein und ließ ihn wie einen Spiegel erglänzen, in dem das schöne Gesicht der kleinen Prinzessin widerstrahlte. So griff sie noch einmal danach, überwand allen Schmerz und alle Anstrengung und schleppte den großen Stein nach Hause.
Der andere Blick
Eine kleine Beobachtung, wiederholt gemacht, dennoch nur hypothesentauglich.
Denkanstöße – Sloterdijk VI
Einige willkürliche und ganz subjektiv ausgewählte Beispiele von Sloterdijks aphoristischer, oft ironischer Prägnanz aus seinem neuesten Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“. Selbstverständlich aus dem Kontext gerissen.
Götter sind Vagheiten, die durch Kult präzisiert werden.
Zu seinen (Jesu) Dichtern wurden die Evangelisten, die seine Geschichte vom Ende her erzählten. Sie zögerten nicht, ihren Lehrer, dessen Worte vor den fatalen Ereignissen nach seinem Einzug in Jerusalem bei ihnen nachhallten, sagen zu lassen, was er gesagt haben müßte, sollte seine irdische Erscheinung den Sinn haben, ohne den sie nur der Stoff zum Bericht eines Scheiterns wäre.
Der Gottes-Draht
Ich empfehle – ungelesen – jedes neue Buch von Peter Sloterdijk – er ist die überragende Intelligenz unserer Zeit.
Geständnis und Aufklärung
Albert Wass: Die Landnahme der Ratten
Nun muß ich etwas gestehen – es handelte sich gestern nicht um eines meiner Märchen, der Text wurde von Albert Wass verfaßt. Daß ich diesem lange vergessenen und unterdrückten ungarischen Autor in Zukunft besondere Aufmerksamkeit widmen werde, hatte ich an anderer Stelle bekannt gegeben.
Die Ratten
Ein Märchen
Das Haus des Mannes stand auf dem Berg und herrschte. Es herrschte über den Garten, die Bäume, Büsche und über die Saat. Es herrschte über die Felder, Wiesen und Weiden, und herrschte auch über den Wald, der gleich hinter dem Hügel begann und bis in die Berge hineinragte. Die Bäume trugen Früchte, und der Mann, der in dem Haus lebte, pflückte die Früchte und lagerte sie für den Winter. Er sammelte die Saat zusammen und lagerte sie im Keller, daß sie nicht vom Frost vernichtet werde. Vom Feld holte er das Getreide, von den Wiesen das Heu und aus dem Wald das Feuerholz. Und alles lagerte er im Haus oder um das Haus herum, wie es am zweckmäßigsten war. Als der Winter kam, trieb er seine Tiere von der Weide, gab ihnen Unterschlupf in den warmen Ställen und sorgte sich um sie. So lebte der Mann.
Maos Spatzen in Berlin
Sicheres Anzeichen dafür, daß Politik durch Abkapselung vom realen Leben in die gefährlichen Sphären der selbstimmunisierenden Phantasie abwandert, ist es, wenn die Protagonisten damit beginnen, ihre eigenen, ganz persönlichen Wahrnehmungen, Erfahrungen, Empfindungen und die daraus gezogenen Schlüsse zu verallgemeinern, als Universallösung anzupreisen und die Öffentlichkeit dazu bringen wollen – durch Zwang, Überredung oder Propaganda – diese auch zu verwirklichen. Stalin und Mao gelten als klassische Beispiele.
Wie Gott in Ungarn
Man kann in Ungarn sehr gut schlecht essen!
Die magyarische Küche ist kompromißlos und direkt, sie lehnt alle komplizierte Verfeinerung à la française und alle Leichtigkeit der cucina italiana ab. Ihre Hauptingredienzien sind Fett, Salz, Zucker, Alkohol und Paprika. Die Ungarn zahlen dafür einen hohen Preis – ein deutlich niedrigeres durchschnittliches Lebensalter – aber sie heimsen dafür auch einen großen Gewinn ein: puren Genuß!
Denkanstöße – Imre Kertész
11. Januar 2004 Morgendämmerung. Vorgestern abend ist M. nach Budapest geflogen; ich habe sie ungern gehen lassen, sie fehlt mir. Die Abendmaschine war voller ärmlicher Araber, die in Budapest in irgendeine Nahost-Maschine umsteigen. Eine sonderbare Art armer Familien, mit Frauen, großköpfigen, aggressiv brüllenden Kindern; anstatt mit ihnen Mitleid zu haben, assoziiere ich Bomben und Terror. Europa wird bald zugrunde gehen an seinem einseitigen Liberalismus, der sich als naiv und selbstmörderisch erwiesen hat. Europa hat Hitler hervorgebracht, und nach Hitler waren keine Argumente mehr geblieben: Dem Islam taten sich alle Tore auf, man wagte nicht mehr, über Rassen und Religion zu sprechen, während der Islam fremden Rassen und Religionen gegenüber keine andere Sprache kennt als die Sprache des Hasses. –
Gespräch mit einem Lehrer
Während der Ferien traf ich mich mit einem Lehrer aus Nordsachsen – wir kennen uns aus Studienzeiten. Er lehrt dort am Gymnasium, ist seit Jahren Beratungslehrer. Darüber unterhielten wir uns vor fünf oder sechs Jahren, als wir uns zum letzten Mal trafen und darüber sprachen wir auch diesmal. In dieser kurzen Zeit hat sich sehr viel verändert.
Kennt noch jemand Herbert Fritsche?
Nein? Seltsam eigentlich! In den Nachkriegsjahrzehnten erreichten seine bedeutendsten Bücher hohe Auflagen bei renommierten Verlagen. Sein riesiges feuilletonistisches Werk strahlte bis in „Die Zeit“, „Die Welt“ oder den „Spiegel“ hinein.
Fritsche führte eine intensive Korrespondenz mit Martin Buber, Ernst Jünger, Ernst Klett und vielen anderen, war mit Gottfried Benn und Gerhard Nebel befreundet, verstand sich als Schüler Gustav Meyrinks und Alfred Kubins …, kurz, war eine Größe, eine Schnittstelle im intellektuellen Leben Deutschlands der 30er bis 60er Jahre.