Niemand, der über Luther schreibt – sei es in historischer Absicht, mit politischen Zielen oder theologischen Deutungen – wird heutzutage unwidersprochen bleiben. Zu komplex ist diese Figur und zu viele Interessen verbauen den objektiven Zugang. Und Luthers eigene eklatante Widersprüchlichkeit, vor allem seinen Charakter betreffend, tut ein Übriges.
Auch Karlheinz Weißmann – der als Vordenker der rechten Intelligenz in Deutschland gilt – kann diesem Schicksal nicht entgehen. Sein Buch „Martin Luther – Prophet der Deutschen“ richtet sich an junge Leser und ist von daher bereits zu Vereinfachungen gezwungen. Ziel Weißmanns ist es, diese gigantische Gestalt für junge Generationen aus dem Fegefeuer der Vergessenheit zu holen und zudem einen positiveren Blick auf die eigene nationale Geschichte zu werfen, die dann auch wieder identitätsstiftend sein kann. Daß er dabei katholischen wie protestantischen Vertretern der jeweils reinen Lehre auf die Füße tritt, ist unvermeidlich.
Man muß das Buch auch an anderen Maßstäben messen. Zuvörderst: Kann es junge Leser erreichen?
Weißmann ist nun – bei aller überragenden Intelligenz – nicht dafür bekannt, jugendlich zu wirken. Seine Bücher sind in der Regel sehr akkurat verfaßt. Auch dieses ist nun keine Ausnahme, auch wenn der Autor den Leser hin und wieder mit einem persönlichen „Du“ anspricht. Popkulturelles Lesen ist das nicht. Man ahnt, daß nur ein gewisser Teil der Jugend Zugang finden wird.
Denen allerdings wird ein stringentes Werk geboten, das mehr bietet als Einblicke in Luthers Denken, Handeln und Leben. Große historische Zusammenhänge werden gut verständlich – wenn auch nicht ohne Konzentrationsanstrengung – abgehandelt und historisches Verstehen als solches geschult.
Luther wird hier als Widerständiger porträtiert, als einer, der aus einer festen Überzeugung – und aus dem Glauben – heraus, den Gedanken, daß er allein gegen eine tausendjährige Tradition ankämpft, nicht aufkommen läßt und den Zweifel besiegt, die eigene Person dabei nicht schont. Weißmann bewundert diese Fähigkeit, warnt zugleich aber auch vor ihren Gefahren. Ob Luthers Werk primär ein kreatives oder destruktives war – aus der weiten historischen Perspektive gesehen – bleibt durchaus offen. Sein Versuch, die christliche Urintention wiederzuentdecken und wiederzuerwecken, hatte Berechtigung und war auch historisch notwendig, aber ohne Luther wären spätere Glaubenskriege so nicht möglich gewesen. Man meint, Weißmanns Vorstellung von gesellschaftlicher Veränderung durchzuhören, die eine sehr vorsichtige ist und nicht zufällig zur Trennung von einstigen entschlosseneren Weggenossen führte.
Überhaupt – und das ist eine Stärke des Buches – gelingt es Weißmann immer wieder, durch die Geschichtserzählung die heutigen Konflikte und Phänomene sichtbar werden zu lassen und weil das als Verweis unerwähnt bleibt, wirkt es als erhellender Aha-Effekt. Das ist ganz subtile Geschichtsschreibung.
Den tiefsten Eindruck hinterläßt Weißmanns Luther aber als Charakter, als Unbeugsamer, als von Ethos und Arbeitswille Besessener. Das ist die eine Facette des Deutschseins bei Luther, daß er das deutsche Wesen – wenn man noch so sagen darf – verkörpert, den Fleiß, die Zielstrebigkeit aber auch die Härte, die Unbarmherzigkeit, die Exzesse oder umgekehrt die Geselligkeit und Bodenständigkeit. „Das Entscheidende ist, daß Luthers Taten und Ideen nicht wie die der meisten Menschen aus den Umständen abgeleitet werden können.“ Seine Größe zeige sich darin, „daß er nicht darin aufging, was ihn umgab“ und damit eignet er sich zweifellos als pädagogisches Vorbild.
Die andere Seite ist, daß er das Schicksal und das Sein der Deutschen wie kein anderer beeinflußt hat – im Guten wie im Schrecklichen. Prophet der Deutschen ist er nicht nur, weil er kommende Schlachten um den rechten Glauben und das rechte Leben voraussah, sondern auch weil sich in ihm die urdeutschen Widersprüche vereinten.
Wenn der junge Leser Weißmanns davon eine Ahnung bekommt, dann hat sich die Lektüre gelohnt.
Karlheinz Weißmann: Martin Luther für junge Leser. Prophet der Deutschen. Großformat, ausgiebig farblich illustriert von Sascha Lunyakow. JF Edition. Berlin 2017. 170 Seiten. Sinnvolles Weihnachtsgeschenk
siehe auch: Luther der Deutsche
sowie weitere Artikel zu Luther
Danke, das Buch scheint ausgewogener zu sein, als der pathetische Titel und Weißmanns Protestantismus vermuten lassen (zumindest war das mein Vorurteil). Es stimmt, zu Luthers gibt es keinen unbelasteten Zugang. Sie können sich vielleicht denken, was meiner ist. „Die Ursünde der Deutschen ist, dass sie Luther geglaubt haben“ – naja, sehr oft ja auch aus handfesten Interessen heraus.
Unzweifelhaft verkörpert Luther jene „faustische Natur“, die Spengler den Deutschen attestiert, den Willen, die Kompromisslosigkeit, sicher auch den Mut zu einem neuen Gedanken. Aber er verkörpert darin aber genauso die fehlende Weite des Horizonts, die Selbstüberschätzung und die Zerstörungskraft eines solchen Willens. Es besteht kein Zweifel, dass Luthers Reformanliegen ihre Berechtigung hatten. Aber es ist genauso klar, dass die Potentiale dazu in der Kirche selbst vorhanden waren – zeitgenössisch durch die Humanisten, insb. in Erasmus von Rotterdam, aber auch durch durchaus reformwillige Päpste. In der Tradition liegend z.B. durch Thomas von Aquin. Otto Hermann Peschs (kath. Dogmatiker) großes Anliegen war es, die Konvergenz von lutherischer und thomanischer (meint den urspr. Thomas) zu zeigen, in ökumenischer Absicht. Zu Luthers Zeiten war die Schulbildung aber schon soweit vorangeschritten, dass die jeweiligen Klassiker schon völlig von ihrer Rezeption vereinnahmt waren. Es ist belegt, dass Luther Zugriff hatte z.B. auf die ‚Summa Theologiae‘, sie wohl auch benutzt hat, sie aber nie wirklich studiert hat, in der Absicht – entgegen der Intuitionen – die Antwort auf seine Frage nach dem gnädigen Gott schon bei Thomas zu finden. Seine ’sola‘-Theologie hingegen ist theologiegeschichtlich ein absolutes Novum (und das ist in der Theologie etwas schlechtes; die Verbindung zum Ursprung muss ja gehalten werden), sie ist hermeneutisch unsinnig (erkennbar auch an Luthers selektivem Umgang mit der Schrift – Stichwort Jakobusbrief – oder seinem Insistieren auf der Gültigkeit der frühen Konzilien gegenüber radikaleren Reformern) und durch die radikale Verinnerlichung (ist ein Bruch mit inkarnatorischer Theologie, meine ich) macht er das Christentum erst zu dem, worüber Nietzsche so eloquent lästert. Es ist kein Zufall, dass Nietzsche aus einem ev. Pfarrhaus stammt.
Und die Katharina… Nietzsche hielt viel von der menschlichen Fähigkeit zum Versprechen. Ganze Frauenklöster aufzulösen, aus sehr durchsichtigen Gründen, die zahlreichen Eidbrüche noch theologisch zu verbrämen – ich kann darin nichts Gutes sehen, schon gar keine charakterlichen Vorzüge.
Vielleicht also ein gutes Buch für mich, um das Gute in Luther zu suchen…
Seidwalk: Sie könnten vermutlich bei Horst G. Herrmann glücklich werden: „Im Moralapostolat – die Geburt der westlichen Moral aus dem Geist der Reformation“ – wurde unter Luther als Schicksal hier besprochen.
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@JJI
Ich bin nun ueberhaupt nicht im Thema belesen und nur schwach interessiert, aber zu einem generellen Punkt:
Potentiale sind immer da – aber: „Es gibt nichts Gutes, ausser …“. Sind sie gross genug, die noetige Schwelle zur Umsetzung zu ueberschreiten? Wenn nicht, fehlt ihnen ein (der?) wesentliche Aspekt. Auch Zugestaendnisse an Langlaeufereffekte nach dem Motto „Steter Tropfen“ sind keine Entschuldigung – manche Loesung muss jetzt und hier her, auch wenn unvollkommen.
Diese Argumentationen laufen oft in der Art: X fehlt dieses und jenes, welches Y doch hat. Potentiell. Das gilt zu allen Zeiten in vielen Gebieten: Politik, Technologie, auch Wissenschaft (und nicht nur wegen der spezifischen Zersetzung durch aktuellen Zeitgeist) – das meinetwegen inhaltlich Mediokre setzt sich meist durch, es hat also die Lebenskraft, es ist robust – nicht nur, weil die Umstaende reif sind, sondern oft auch dagegen. Das sollte man m.E. immer und als eigenstaendige und wesentliche Kategorie anerkennen.
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„Zuvörderst: Kann es junge Leser erreichen?“ Viel wichtiger wäre für mich die Frage: „Wird man dieses Buch in den Schulen vorstellen, es gar zur Pflichtlektüre machen?“ Man wird es nicht, denn es hat den völlig falschen Ansatz: Das Herausstellen solcher Tugenden wie „Ethos und Arbeitswille“ bei Luther oder sein „Fleiß“ und seine „Zielstrebigkeit“! Völlig antiquiert! In den Bildungskanon „Gute Jugendliteratur“ schaffen es nur Romane wie „Tschick“. (Die Enkelin ist zurzeit in der achten Klasse des Gymnasiums und wird mit diesem Roman im Deutschunterricht traktiert.)
Die Handlung dieses erbärmlichen Machwerks ist schlicht und schlecht. Zwei 14-jährige Klassenkameraden, Maik, aus reichem, aber problembeladenem Elternhaus, und der schwule Alkoholiker Tschick (mit Migrationshintergrund ) fahren mit einem geklauten Auto Richtung Walachei und treffen laufend Leute, die nicht alle Latten am Zaun haben. Schließlich brettern sie mit hoher Geschwindigkeit über die Autobahn, bauen einen Unfall und landen im Krankenhaus. Ach ja, und ein Nazi kommt auch drin vor.
In allen 16 Bundesländern wird „Tschick“ für den Deutschunterricht ( 8.-10. Schuljahr) empfohlen. 2010 erschien der Roman im Rowohlt Verlag zum ersten Mal. Der nur noch als brakiges Bächlein dahinrieselnde Mainstream schwamm geradezu über vor Begeisterung:
„…..wichtig für die deutsche Literatur“ Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
„Auch in fünfzig Jahren wird dies noch ein Roman sein, den wir lesen wollen.“ FAZ
„Ein Buch von der Sorte, das beglückte Leser an ihre Freunde und Bekannten so innig weiterempfehlen, als gelte es, ein Geheimnis zu bewahren.“ Der Spiegel
„Tschick ist ein Buch, das einen Erwachsenen rundum glücklich macht und das man den Altersgenossen seiner Helden jederzeit schenken kann“ Süddeutsche Zeitung
Das also gilt heute: Die Verklärung eines wohlstandsverwahrlosten Knaben und eines gleichaltrigen versoffenen Russen zu „Helden“! Das sind die Vorbilder für die Heranwachsenden, denen es nachzueifern gilt. Helden heute müssen „lost“ sein!
Schlimmer noch als der fragwürdige Inhalt ist die flapsige, flache Sprache dieser Lektüre. Da biedert sich ein alter, weißer Autor bei „coolen Jugendlichen“ an. Von wegen Verbesserung der Sprachkompetenz und Erweiterung des Wortschatzes: Zitate ? Bitte schön:
„Wahrscheinlich wollte ich, dass man sieht, dass ich mir Mühe gemacht hab. Weil wenn man das mit der Mühe sieht, kann man sich den Rest auch denken.“ S.59
„Eigentlich ist er in keinem Fach besonders gut, aber in Deutsch ist er besonders Scheiße“ (S.38)
Der Mathelehrer ist „endgestört“ und der Deutschlehrer ist „ungefähr so nett wie ein gefrorener Haufen Scheiße…“ (S.53)
In den sogenannten Qualitätsmedien liest man dazu:
„Herrndorfs Sprache ist präzise bis ins Detail“ FAZ
„Herrndorf ist ein großer Stilist“ Der Tagesspiegel
Das sind erfolgreiche Jugendbücher, meine Herren!
Aber in Wirklichkeit sind sie nur „cringe!“
Wenn dereinst die Historiker über den Niedergang der Bildungsnation Deutschland forschen werden, wird den Roman „Tschick“ für sie eine Fundgrube sein.
Vor etlichen Jahren habe ich in meiner beißenden Satire „Michel schlägt zurück“ bereits vor diesem Niedergang gewarnt. (Leseproben unter „Susi Wendehals’ Aufstieg zur Kultusministerin“ und „Ruin des Bildungssystem“ )
Dr.Jörg Hellmann, ehemaliger Deutschlehrer
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Als Nietzscheaner bin ich hier ganz anderer Meinung. Der Einwand gegen Luther ist doch gerade die „christliche Urintention wiederzuentdecken und wiederzuerwecken“. Wobei auch das noch nicht mal richtig ist, denn Luther bezog sich eher auf Paulus und der hatte schon den „wahren Christus“ in sein Gegenteil verfälscht. Paulus und Luther ging es doch darum. die Kirche eben wieder herzustellen und eben nicht eine christliche „Praktik“ zu leben.(Jesus griff die Kirche an, aber nicht wie Luther, um sie wiederherzustellen)
Wenn ich heute „wahrhaft christlich“ lebe (und z.B. selbstlos anderen beim Werben um einen Job oder einen Partner den Vortritt lasse), dann ernte ich sowohl von Katholiken als auch Protestanten eben nur Unverständnis. Man handelt immer vom Instinkt, redet allerdings nur vom Gauben…
Des weiteren kann es doch kein Einwand gegen Luther sein, dass er „verantwortlich“ war für nachfolgende Glaubenskriege, diese vorhersehend oder nicht. Wo kommen wir den da hin….
„Jede Philosophie, welche den Frieden höher stellt als den Krieg, jede Ethik mit einer negativen Fassung des Begriffs Glück, jede Metaphysik und Physik, welche ein Finale kennt, einen Endzustand irgend welcher Art, jedes vorwiegend aesthetische oder religiöse Verlangen nach einem Abseits, Jenseits, Ausserhalb, Oberhalb erlaubt zu fragen, ob nicht die Krankheit das gewesen ist, was den Philosophen inspirirt hat.“ (Friedrich Nietzsche)
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