Märchenland für alle?

Wie weit Ungarn Deutschland geistig hinterherhinkt, wie es seelisch ganz anders verfaßt ist, kann man exemplarisch an einem kleineren, gerade ablaufenden Skandal anläßlich eines Kinderbuches erkennen.

Während man hier – geht es um Kinderbuchempfehlungen – in den Leitmedien fast nur noch „Geschichten aus dem Anderssein“ erhält – so umwirbt der ungarische Verlag sein Produkt und so nannte auch Olivia Jones das ihre – und der Kanon konzertiert gereinigt und gecancelt wird, schlägt das Erscheinen eines einzigen „bunten“ Kinderbuches, das erste seiner Art, im Magyarenland hohe Wellen. Es war wohl als eine Breche gedacht, stößt aber auf geballte Ablehnung.

Im Buch bearbeiten 17 Autoren – namhafte darunter, aber auch literarische Anfänger, die sich in einem Ausscheid durchgesetzt haben – klassische Märchen oder bekannte Sujets, stellen die Konstellationen aber auf den Kopf. Ihre Helden sind die Benachteiligten und Beladenen dieser Welt, darunter Behinderte, Alte, Mißbrauchsopfer, Cigányok, Adoptierte, Lesben und Schwule und andere nicht-heterosexuelle Formen, Transgender, sie leben in polyamoren, Regenbogen- oder geschiedenen Beziehungen, mehrmals wird das Happy-End-Konzept zu einem open-end umgewandelt, nicht die Heirat, sondern die Scheidung wird als Erlösung gefeiert usw.[1]

Illustration aus „Meseország mindenkié “ © Labrisz Egyesület

Herausgeber ist eine „Lesbische Gesellschaft“, die das Buch in einem fast konspirativen Treffen vorgestellt hat und auch nicht die Hoffnung verhehlt, damit in Schulen und Kindergärten arbeiten zu können. Zeitgleich zur Vorstellung wurde ein 40-seitiges pädagogisches Konzept zur Einführung in Bildungseinrichtungen erstellt. „Der Mensch ist eine zauberhafte göttliche Schöpfung, die mit der Vielfalt der Regenbogenfarben und der Verantwortung für die Freiheit beschenkt ist. Unsere wichtigste Aufgabe ist, zu lernen, uns gegenseitig zu akzeptieren. Das einzuüben, damit kann man nicht früh genug beginnen. Dafür sind diese Märchen da, für Kinder und für Erwachsene.[2]“, faßt  Kriszta Bódis, Autorin und Psychologin, das Ziel des Buches zusammen.

Die meisten Reaktionen darauf sind freilich alles andere als positiv. Vor allem der sexuelle Inhalt wirkt offenbar wie ein rotes Tuch. Teile der Presse – meist rechts oder Orbán-nah – läuft Amok, eine Politikerin der ultrarechten Partei „Mi Hazánk“ (Unsere Heimat) – einer Rechtsabspaltung der Jobbik, nachdem diese sich nach der letzten Wahlniederlage vollkommen neu orientierte – schiebt das Buch symbolträchtig vor laufenden Kameras durch den Shredder – wie stets, eine gelungene unfreiwillige Werbeaktion – und auch eine Petition gibt es bereits, in der die Unterzeichner fordern, das Buch aus den Schaufenstern und Portalen zu nehmen; innerhalb weniger Tage haben 70 000 Menschen unterschrieben. Und natürlich ist – wenn es um linke Subversivität geht – auch Soros nicht weit, dessen „Open Society“ die Finanzierung des Buches unterstützt haben soll.

Umgekehrt gibt es auch Gegenstimmen, die – frei nach Heine – Bücherverbrennungen oder gar Scheiterhaufen am Horizont lodern sehen. „Das ganze Land“, sagt der Rapper Fluor, „steckt voller Frustration und Haß, die Spaltung wird immer deutlicher, so laßt wenigstens dieses verfickte Märchenland allen gehören, wenn die Parteien uns schon vorschreiben, wer Ungar ist und wer nicht.[3]

Aus deutscher Sicht wirken diese Reaktionen hysterisch, denn was in Ungarn noch ein Tabubruch ist, ist hier längst seit Jahrzehnten Alltag. Während die einen – der AfD in Deutschland vergleichbar – kaum einen öffentlichen Raum für eine Vorstellungsveranstaltung finden, werden die Petitionisten – nach eigenen Aussagen – von linksradikalen Kräften physisch und psychisch bedroht.

Die Situation scheint aufgeheizt. Persönlich kann ich diesen Eindruck nicht bestätigen. Zwar lehnen die meisten Ungarn im privaten Gespräch – zumindest in der Provinz – die Ziele der  LMBTQ-Bewegung ab, andererseits werden tatsächliche Geschlechtsumwandlungen oder sexuelle Idiosynkrasien eher stillschweigend akzeptiert.

[1] Da ich das Buch selbst nicht gelesen habe, beziehe ich mich auf Sekundärquellen und Angaben der Herausgeber bzw. der Kritik.
[2] „Az ember varázslatos isteni kreatúra, a szivárvány színeinek sokféleségével és a szabadság felelősségével megajándékozva. A legfőbb feladatunk, hogy megtanuljuk elfogadni egymást. Nem lehet elég korán kezdeni a gyakorlását. Erre valók a mesék, gyerekeknek és felnőtteknek.”
[3] Tele van az egész ország frusztrációval, gyűlölettel, egyre nagyobbak a szakadékok, legalább az a kibaszott meseország hadd legyen mindenkié, ha már úgyis pártok mondják meg, hogy ki a magyar meg ki nem.

2 Gedanken zu “Märchenland für alle?

  1. otto schreibt:

    Mindenkinek és mindenkié: Die Überschrift „Märchenland für alle“ führt in diesem Zusammenhang in eine andere Richtung. „Jedermanns Märchenland“, wie das Buch auch heißt, lässt den Gedanken zu, daß jeder auch sein eigenes Märchenland haben könnte, während Märchenland für alle impliziert, daß es nur ein Märchenland für alle gibt.

    Seidwalk: Good point. Eigentlich müßte man „mindenkié“ wohl mit „von allen“ oder „gehört allen“ übersetzen. Es wird also im Titel der Anspruch gemacht, daß es das Land aller sei und also niemand ausgeschlossen wird. Die Frage wäre dann, ob das tatsächlich der Fall war, auch wenn es keine Erwähnungen gab. So könnten sich auch Maschinenschlosser ausgeschlossen fühlen, weil die jungen Helden eher Müllersburschen oder Holzfäller waren.

    Gehört also etwas jemandem nicht, wenn er keine Erwähnung findet? Umgekehrt gibt es jede Menge Menschen mit Behinderungen: Blinde, Handlose, Lahme, Einfältige und Arme die Menge etc. Insofern war die Inklusion schon präsent.

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    • Michael B. schreibt:

      Gibts denn Maerchen fuer heterosexuelle, behinderungslose CiS-Jungs und -Maedchen in dem Buch? Wenn nicht, waeren beide Interpretationen des Titels hinfaellig. Im Gegenteil kaeme wieder der heute uebliche Alleinvertretungsanspruch der „ganzen Anderen“ zum Vorschein, der im Westen mittlerweile gang und gaebe ist. Da gehts nicht mehr um 10% Schwule gewichtet zum Rest (und das ist schon ein hoher euphemistischer Prozentsatz, der von interessierten Kreisen kolportiert wird). Nein, da gibt es nicht anderes mehr, bzw. dieses selbst wird als irgendwie minderwertig und krank heruntergeschrieben.

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