Argumentum ad lapidem

Eine schöne Legende berichtet, daß Samuel Johnson den Solipsismus Berkeleys, sein esse est percipi – Sein ist Wahrgenommenwerden –, also den Gedanken, es gebe keine materiellen Dinge, sondern immer nur Ideen und Vorstellungen von ihnen, mit einem beherzten Tritt gegen einen Stein widerlegte oder zu widerlegen glaubte.

Sofern das Argument stimmig scheint – es ist in Wahrheit eine problematische logische Figur; Berkeleys Solipsismus ist selbstimmunisierend –, kann man es auch spiegelverkehrt anwenden.

In Wien war ich am Wochenende zufälligerweise Zeuge der „Vienna Pride“-Demonstration, der „Regenbogenparade“, die mehrfach laut hupend um den Ring fuhr. Wichtige Gebäude der Stadt waren in überdimensionierte Pride-Flaggen gehüllt. Vor dem Burgtheater hielt der Troß, es wurden ein paar Reden geschwungen, in denen man sich der unsäglichen, unerträglichen und tagtäglichen Diskriminierung versicherte, zugleich aber stolz darauf bestand, weltweit massenhaft vertreten und lautstark zu sein. Und im Übrigen könne jeder sein, was er wolle.

Eine junge Mutter etwa war zu sehen. Ihre Hautfarbe schwarz, die Haare blau gefärbt, die Lippen im Versuch, nicht nur weiblich zu erscheinen, knallblau übermalt, lief sie gestelzt auf 20 cm hohen Plateauschuhen. Freizügig ließ sie ihre prallen Brüste sehen. Im Park sah ich sie dann – das ist der Stein – das Kind stillen.

Nachdem die Reden gehalten wurden, bat ein junger Mann um Stille. Man trauere nun mit einem kurzen Gedenken um jene, „die uns verlassen haben, die der Krankheit Aids zum Opfer gefallen sind“. Das ist noch so ein Stein.

Es gab deren die Menge. Ein Samuel Johnson wäre dort mächtig ins Stolpern gekommen.

2 Gedanken zu “Argumentum ad lapidem

  1. Mt 7,3: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“ Das Pharisäertum wird vermutlich nie aussterben.

    Ergänzung: Für den Fall, dass Sie sich über meinen ersten Kommentar wieder einmal ärgern sollten, hier ein Bekenntnis: ich bin ein echter Fan und treuer Leser Ihres Blogs. Und im Affekt kommt es womöglich sogar vor, dass ich bei manchen Einlassungen zunächst zustimmend nicke, die Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels sind doch gelegentlich nahezu überfordernd. Dann fange ich das nachdenken an, besinne mich meiner tiefreichenden kulturellen Wurzeln und komme zum Ergebnis: nein, wrong way. Aber ich brauche diesen irreführenden Input, um den geraden Weg zu erkennen. Oder anders: es ist wie eine Lebendimpfung. Ein Mikromenge an Erregern wirkt immunisierend, wie bei der Pockenimpfung. Und für die stetige Verabreichung dieser Impfdosen bin ich durchaus dankbar, also weiter so.

    Seidwalk:

    Geh, gehorche meinen Winken,
    Nutze deine jungen Tage,
    Lerne zeitig klüger sein:
    Auf des Glückes großer Waage
    Steht die Zunge selten ein;
    Du musst steigen oder sinken,
    Du musst herrschen und gewinnen,
    Oder dienen und verlieren,
    Leiden oder triumphieren,
    Erreger oder Impfung sein

    Immerhin haben wir einen kleinen Einblick in Ihre Besessenheit erlangt.

    Lynx: Oh, danke für dieses Zeugnis aus dem Manichäismus.

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