Ist das Globalisierungssignum der Namensveränderung ein rein deutsches Phänomen? Wagen wir einen Blick nach Ungarn. Dieses Land ist in mancherlei Hinsicht besonders interessant.
Der Name Mohammed – oder seine türkisierte Form Mehmet – dürfte seit 1699 keine allzu große Verbreitung gefunden haben und auch heute eine Rarität sein. Das Selbstverständnis als genuines Volk ist noch stark ausgeprägt, der Stolz auf die eigene Geschichte und Identität trotz der zahlreichen Mißerfolge und Niederlagen deutlich spürbar. Die Grenzen sind vergleichsweise klar definiert und überhaupt lebt man in Ungarn nicht so internationalistisch wie in Zentraleuropa.
Das dürfte übrigens auch ein wesentlicher Grund sein, weshalb das Corona-Virus in Ungarn noch immer deutlich weniger Schaden angerichtet hat als selbst in Deutschland. An einem besseren Gesundheitssystem kann es wahrlich nicht liegen. Ähnlich wie in Ostdeutschland ist der Anteil der Anywheres hier jedoch deutlich geringer als im reicheren, westlicheren Teil Europas. Man reist hier nicht so viel, die internationalen Verbindungen sind geringer, den größten Außenkontakt dürften die hunderttausenden Arbeitskräfte haben, die die EU dem ungarischen Staat permanent entzieht, die Arbeits-Pendler zwischen Deutschland/Österreich und der Heimat. Die einzige Ausnahme ist die Weltstadt Budapest und es ist wohl kein Zufall, daß die Krankheit dort ihren (einen) Ursprung nahm – durch iranische Studenten ins Land gebracht – und dort auch die mit Abstand weiteste Verbreitung fand.
Die starke Identifizierung spiegelt sich auch in der Namensgebung wider. Es gibt eine große Anzahl rein typisch ungarischer Namen und viele der in der europäisch geprägten Kultur weltweit verbreiteten Namen werden in Ungarn magyarisiert. Oftmals klingen die Namen regelrecht fremd und exotisch, Frauennamen wie: Ildikó, Ibolya, Gyöngyi, Tünde, Virág, Piroska, Csilla, Hajnalka, Enikő, Ágota, Orsolya, Sarolta, Emese, Csenge, Gyöngyvér, Boglárka, Angyalka, Szidónia, Réka u.a., Männernamen wie: Bence, Máté, Balázs, Gergő, Csaba, Szabolcs, Levente, Szilárd, Zsombor, Botond, Kálmán, Tihamér, Rezső, Győző, Dezső, Bendegúz, Csongor, Gergely u.a. Man hört diese Namen – einige davon mit türkischen Wurzeln – überall, sie finden sich auch in den jüngeren Generationen noch stark vertreten, nicht immer zum Glück der Kinder: ein in Deutschland lebender ungarischer Schüler wurde aufgrund seines „unaussprechlichen“ Namens gehänselt und verwünschte seine Eltern ob der gutgemeinten Namensgebung.
Schaut man sich jedoch die neuesten Statistiken an, so fallen die Veränderungen sofort auf. Bei den Mädchen führte 2019 wie in Deutschland die Hanna, gefolgt von Anna, Zoé und Luca, bei den Jungen rangieren Dominik, Marcell und Noel auf den Plätzen vier bis sechs, Milan, Mark, Patrik oder Liza, Aliz, Noémi finden sich in den weiteren Rängen, vermutlich auf dem Vormarsch. Auch Kevin und Vivien haben es in die Rangliste geschafft.
Der Eindruck bestätigt sich beim Studium der wöchentlich veröffentlichten lokalen „anyakönyvi hírek“, der öffentlichen Bekanntmachung der Neugeborenen. Noch immer gebiert eine Evelyn einen Bende oder eine Adina eine Soma, eine Petra einen Márton, aber es häufen sich auch die Fälle, wo eine Szandra einen Dominik, eine Zsóka eine Luca, eine Emese einen Benett, eine Anikó einen Nolen oder eine Eszter einen Medox zur Welt bringt.
Und so zeigt ein klitzekleiner Ausschnitt – neben vielen anderen – die gesamtgesellschaftliche Veränderung an. In den Innenstädten machen sich die global players breit, an den Stadträndern etablieren sich die weltweit agierenden Supermarktketten, in den Regalen werden zwar die „magyar termék“, die ungarischen Produkte noch ausgezeichnet, müssen aber mit dem Weltmarkt konkurrieren, die jungen Leute essen lieber einen Burger als eine Kolbász, im Fernsehen laufen die weltweit bekannten amerikanischen Serien und Sitcoms – wenn auch meist noch komplett synchronisiert –, im Radio hört man die letzten Hits der Weltstars immer öfter unter der breit aufgefächerten ungarischen Musik, diese bedient sich zunehmend des Rap und Hip-Hop – wozu die Sprache ganz hervorragend geeignet ist –, die Künstler orientieren sich in Kleidung und Bewegung an den weltumspannend verbreiteten Codes und selbst den unzähligen Traditionsvereinen sieht man zunehmend die innere Müdigkeit an, ihre Vorstellungen wirken gekünstelt und ein bißchen verschämt …, kurz, die Globalisierung wird auch vor Ungarn nicht halt machen, sie hat hier nur zwei, drei Jahrzehnte Verspätung, auch die ungarische Kultur wird in Bälde verschwunden sein und nur noch in Museen, als Folklore oder als Szene überleben: die Welt wird durch ihren Reichtum ärmer geworden sein.
Warum sollte das ein Euphemismus sein? Es hat viele Aspekte (den sicher auch, aber das ist eher marginal). Das erinnert mich an Klimafetischisten fuer die Erwaermung ausschliesslich ueberflutete Kuesten und vertrocknetes Land darstellt. Dass es woanders wirtlicher wird ist ein Gedanke, der diesen Leuten gleichbedeutend mit Haeresie ist.
> Mir scheint, daß jeder, der wahre Vielfalt liebt, den Prozeß der Globalisierung – die im Übrigen schon 2500 Jahre im Gange ist – kritisch betrachten muß
Wenn Sie das zeitlich in einer solchen Dimension einbetten, muessten Sie aber nicht nur das Vergehen bedauern. Die bunten ungarischen Trachten sind ja in dieser Zeitspanne auch irgendwann erst in die Welt gekommen. Durch was meinen Sie ist das geschehen ? Wer hat also _dafuer_ wann geblutet und verschwand (*)? Vielfalt ist kein zeitlich statischer Zustand seiner spezifischen Komponenten. Schon in deren Entstehung, dann ihrer weiterer Ausbildung und letztlich ihrem Verschwindens. Und alle drei Phasen haben halt auch unangenehme Seiten, die erste eher fuer die anderen, die letzte bezahlt man selbst. Die mittlere kann man sowenig in Ewigkeit halten wie das eigene Leben.
(*) Gerade Arpad war wohl auch eine ziemliche Geissel der Menschheit, also eher einer der gewaltfreudigeren Bodenbereiter.
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@ Michael B.
Nun, Ihr „interessant“ kam bei mir wie eine gewisse Neugierde auf das, was komme, an, so als warteten Sie freudig erregt auf die kommenden globalen Verwerfungen. Ihre Untermalung mit „bleiern“ scheint das zu bestätigen und erinnerte mich ein wenig an Marxens heimliche Freude daran (Manifest), daß der Kapitalismus „alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige entweiht“.
Ihre jetzige Argumentation erinnert mich nun wiederum an jenen Professor, der 2015 nach meinem emotionalen Vortrag zu mir trat und mich fragte, wieso mich das alles so mitnähme. Nun gehe halt das christliche Zeitalter zu Ende und das islamische beginne – so what?
Ich kann mit dieser Denkfigur partout nichts anfangen, weil sie – zu Ende gedacht – in einen leeren Fatalismus gleitet (ich nehme an, Sie meinten es nicht so – füge ich vorsichtshalber an).
Die Einsicht in die Veränderung heißt nicht, daß man jegliches Engagement unterlassen müsse. Wir wissen, daß die Donau irgendwann über die Ufer treten wird – wozu Dämme bauen? Wir wissen, daß wir sterben, wozu leben? Wir wissen, daß Alles vergänglich ist, wozu überhaupt sein?
Die Ungarn gehen übrigens davon aus, daß das Karpatenbecken, als Árpád dort einwanderte, leer war und daß sich die paar slawischen Stämme, die dann doch dort waren, schnell und begeistert eingegliedert haben. Dabei hatten auch diese Slawen das Recht, sich zu wehren, auch wenn der Kampf über lange Zeit nicht zu gewinnen war – Parallelen zur Migrationsbewegung nicht zufällig!
So kommt immer etwas in die Welt und immer leidet jemand darunter – aber das ist nicht gleich. Es gibt auch Wertunterschiede: kommt etwas Besseres, etwas Höheres? Gerade die Globalisierung wird uns – neben manchem Erfreulichen – viel Niedriges, Graues bringen. Wären Globalisierung oder Islam wirklich Fortschritte, würde ich mit fliegenden Fahnen überlaufen.
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@seidwalk
Das ‚interessant‘ hatte eine eigentlich deutliche Relativierung im folgenden Halbsatz („in welchem Sinn auch immer“). Der ist allerdings keine Abschwaechung, sondern eben das, eine Relativierung im Sinn des Einschliessens mehrerer, auch gegensaetzlicher, Aspekte. Die kann jeder selbst fuellen, so war das gemeint. Allerdings geht die Moeglichkeiten dafuer wohl irgendwie ueber das hinaus, was Sie noch Pietaet nennen koennen 🙂
Tatsaechlich bin ich neugierig, aber das ist ja nicht gleichbedeutend mit Freude (und bitte, natuerlich nicht ‚heimlicher‘ – das habe ich ja nun nicht noetig). Aber explizit ja auch zu dieser, das hat ja auch positive Aspekte und uebrigens auch nicht wenige voellig ausserhalb einer dualistischen Betrachtungsweise.
Bleiern: Ich habe schon lange – weit vor 2015 ueber die sich damals schon andeutende Aera Merkel eine Meinung vertreten, die im Wesentlichen mit Formulierungen wie „sedierend“ oder – wie spaeter von anderen gebracht – „Mehltau“ charakterisiert ist. Das hatte kein Gestern und kein Morgen, und das Heute wurde immer beliebiger und sinnentleerter. In dieser Gesellschaft sind nicht einmal die Jungen richtig jung. Und damit komme ich noch einmal zurueck auf die Vergaenglichkeit.
Sie koennen mich ja durchaus auch so lesen wie: Die alten Ungarn interessieren weder ihn noch mich, vielleicht will er hier noch eine Gerechtigkeitsdiskussion lostreten ueber Bezahlen in der Gegenwart fuer die Schuld der Vergangenheit, was fuer Strohmaenner!
Das war aber nicht die Intention. Die alten Ungarn waren halt auch einmal Gegenwart, heute sind es andere. Und die sind hungrig, und sie wissen wo sie hin wollen. Wird sich auch einmal aendern aber das ist jetzt muessig zu diskutieren, das wird deren Diskussion in 20, 100 oder 500 Jahren. Und wenn eine Gesellschaft als Ganzes sich nicht mehr solche Ziele selbst stellen kann, ja dann… Und Rueckbesinnung reicht nicht. Von Christentum und Religion einmal abgesehen (denen ich recht fern stehe), aber auch die bisher in meiner Vorstellung eigentlich unkontaminierbaren Dinge von denen ich etwas verstehe wie Wissenschaft, sind derart von Ideologie und wirtschaftlichen Limitierungen des Kapitalismus gegenwaertiger Auspraegung verdreckt, dass ich kein Zurueck mehr sehe solange dieser Zeitgeist bestehen bleibt. Und desto tiefer diese Errungenschaften untergraben werden desto radikaler kann der Wandel nur sein, das ist zwingend. Ich meine, es gibt mittlerweile gendergerechte Mathematik. Ich kann gar nicht ausdruecken, wie pervers so etwas ist.
Seidwalk: Ich sag es immer schon: Sprache ist denkbar ungeeignet, um sich zu verständigen. Am schlechtesten eignet sich das geschriebene Wort.
Immerhin bilde ich mir jetzt ein, daß wir uns nun wieder besser verstehen.
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Sie klingen in den letzten Saetzen etwas bitter. Ich weiss nicht, ob es „die“ Globalisierung so selbstverstaendlich gibt. Zumindest geht m.E. ein Imperium gerade unter (oder sein Einfluss zurueck) und ein anderes kommt. Ob wir dann simpel chinesischen Kitsch statt amerikanischen Kitsch bekommen ist aber nicht ausgemacht, wie imperiale kulturelle Auspraegungen generell.
Ueberhaupt liegt die ganze Natur der Vernetzung der neuen Zeit noch im Dunkeln. Es gab und gibt hier viel Bleiernes. Jetzt wird es aber interessant, in welchem Sinn auch immer.
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„Interessant“ ist ein Euphemismus wofür?
Mir scheint, daß jeder, der wahre Vielfalt liebt, den Prozeß der Globalisierung – die im Übrigen schon 2500 Jahre im Gange ist – kritisch betrachten muß und – in der Tat – auch melancholisch.
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Sie haben eine Null vergessen.
Seidwalk: Nein, eine weitere Null würde den Gedanken in die Beliebigkeit entwerten – man könnte dann auch noch eine ranhängen.
Ihnen, als Sloterdijk-Experte und gefürchteter Kritiker, muß ich ja nicht erklären, daß die Argumentation für diese These ausführlich auf den ersten 650 Seiten seiner „Sphären“-Trilogie entfaltet wird.
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