1. Weltbürgertum und Globalisierung

Heute fragte mich ein ungarischer Freund, ob ich nicht auch Weltbürger sei? Sein Sohn war zu Gast, nebst Familie. Die lebt nun in Spanien, hatte zuvor lange Jahre in der Schweiz gewohnt. Die Enkeltochter, um die 12 Jahre, mit der ich ein paar Worte sprechen konnte – auf Deutsch – nannte Englisch ihre bevorzugte Sprache. Die Muttersprache beider Eltern ist freilich Ungarisch, in Zürich lernte sie Deutsch als Umgangssprache und Schweizerisch als Lebensgefühl, und nun erlernt sie an einer englischen Schule in Spanien auch Französisch. Und Spanisch nebenbei auf der Straße.

Ihr Großvater ist begeistert. Er lebt seit acht Jahrzehnten am Ort und hat sich hier als Unternehmer einen Namen gemacht. Seine Kinder – immerhin im Herzen noch Ungarn –  sind heute hier und morgen dort und seine Enkelkinder werden nun vollkommen ohne Wurzel auskommen müssen – und sie vermissen sie bis auf weiteres nicht. Sein Lebenswerk mußte der alte Mann jedoch verkaufen, weil keiner der weltoffenen Söhne es fortsetzen wollte …

Dieses Kind repräsentiert eine neue, eine vollkommen heimatlose Generation, die noch nicht mal sagen können wird, was sie sei. Sie werden stattdessen sagen: Weltbürger.

Auch sie werden einmal Kinder haben, vielleicht, und diese Kinder werden ohne nationale, möglicherweise sogar ohne kulturelle Identifikation aufwachsen. Sie werden in mehreren Zungen sprechen, aber in allen in etwa so, wie die kleine Enkelin meines Freundes. In einem zögerlichen Deutsch oder Englisch oder Französisch oder auch Chinesisch werden die meisten von ihnen palavern, in vielen verschiedenen, aber jeweils stark vereinfachten Idiomen, oft in Wortgruppen, die mit Füllvokabeln like „like“ verbunden werden. Sie werden akkurat in mehreren Fremdsprachen reden, aber keine Muttersprache mehr haben, sie werden keiner Sprache Seele jemals erfühlen.

Das Deutsch Goethes, das Englisch Shakespeares, vom Italienisch Dantes ganz zu schweigen, wird ihnen vollkommen unerreichbar sein, es wird ihnen wie eine andere Sprache vorkommen und selbst Thomas Mann-Lektüre wird zur Qual werden. Das ist der Grund, weshalb Goethe nun tatsächlich stirbt oder aber nur in „Light“-Versionen, in kindgerechter Sprache oder als Fack ju Göhte überleben wird – und also trotzdem sterben muß; weil die Fülle der Sprache das Wesen seiner Gedanken ausmacht und erst dann die Gedanken selbst. Für Goethe mag man hundert andere Namen einfügen, sogar den Marxens.

Aber als der alte Mann mich heute fragte – er überschätzt mich immer ein wenig, bewundert mich fast, weil ich ihm fast jedes Mal etwas bislang Unerhörtes sage –, als er ausforschte, ob ich nicht auch Weltbürger sei, da habe ich ohne Zögern mit „Ja“ geantwortet. Was sonst?

Und sogleich hinzugefügt: Aber nur im Goetheschen Sinne. Denn erstens hatte Goethe, als er diese Worte schrieb, „die Welt“ noch wesenhaft mit Europa oder dem Abendland oder – wenn man unbedingt auf dem „Divan“ herumhacken will – mit der Hochkultur gleichgesetzt, er war im Grunde also Europäer, Abendländer, Kulturbürger, er meinte Weltkultur[1] und zweitens hat er, der Frankfurter, den Begriff ganz typisch ironisch und paradox angelegt, das Provinzelle und das Große vereinend, die Nation aber übergehend; der Vers aus den „Zahmen Xenien“ lautet:

Gott grüß euch, Brüder,
Sämtliche Oner und Aner!
Ich bin Weltbewohner[2],
Bin Weimaraner,
Ich habe diesem edlen Kreis
Durch Bildung mich empfohlen,
Und wer es etwa besser weiß,
Der mag’s woanders holen.[3]

Goethe war in vielerlei Hinsicht gerade das Gegenteil jener modernen „Kosmopoliten“ und Globalisten. Sieht man von seiner Italienischen Reise ab – einer wirklichen Reise zu Pferd und zu Fuß – und ein paar frühen Abenteuern in der Schweiz, in Polen und in Frankreich, so war Goethe eher ein Stubenhocker. Mehr reiste er in Deutschland umher, je näher, desto öfter. Das, was ihn unmittelbar umgab, interessierte ihn viel stärker als das Exotische und Ferne. Das Nahe versuchte er mit seinem ganz besonders scharfen, „hologrammatischen“[4] Blick zu durchdringen. Das Fremde faszinierte ihn in der Theorie und als Sammler, als Objekt der Imagination, als Traumwelt, als Projektionsfläche – das trifft auch auf sein Interesse am Islam, dem Koran und an Mohammed zu.

Dort war sein Hunger enorm und umfassend – er stillte ihn sitzend und stehend, lesend und betrachtend. Die Welt war bei ihm zu Hause, er mußte sie nicht erobern. „Ich habe diesem edlen Kreis durch Bildung mich empfohlen“.

Goethe war auch ein Pionier des ergonomischen Sitzens: sein Sitzbock im Gartenhaus © Klassik Stiftung Weimar

Dem Besucher des Goethehauses in Weimar ist leider nur ein kleiner Abschnitt seiner Bibliothek einsehbar, aber der genügt, um uns zu vergewissern, daß Goethe mehrere Sprachen las. Französisch war die Mode, Italienisch hatte er gut im „Land wo die Zitronen blühn“ gelernt, die alten Sprachen gehörten zum Bildungskanon und Englisch war ihm zumindest als Schrift zugänglich. Dem Arabischen widmete er eine gewisse Aufmerksamkeit, aber bei weitem nicht genug, um damit wirklich etwas anfangen zu können. Die Schrift faszinierte ihn aus ästhetischen Gründen.

Größer war Goethes Welt nicht. Und trotzdem war er mehr Weltbürger als all die Anywheres der heutigen Tage. Und eines war ihm wohl ebenso bewußt:

Wenn es darum geht, sich auszudrücken, sich wirklich darzutun, die innersten Gedanken und Empfindungen in adäquate Worte zu fassen – sofern das überhaupt möglich ist – dann nur in Deutsch, der Muttersprache. Nicht zufällig wählte der Weimaraner, der gerade noch ironisch  die „Oner und Aner“ ansprach, ein urdeutsches Wort: Weltbewohner, Weltbürger.

Davon wird das kleine Mädchen, wenn es mal groß ist und wohl die halbe Welt aus eigener Erfahrung „kennt“, kaum noch etwas verstehen und noch weniger weitergeben können.

Fortsetzung folgt

[1] Vgl. Wolfgang Schad: Goethes Weltkultur. Stuttgart 2007
[2] Manchmal auch als „Weltbürger“ wiedergegeben.
[3] Zahme Xenien V, 1826, in: Goethe Sämtliche Werke Münchner Ausgabe, Band 13.1., S. 205
[4] Henri Bortoft: The Wholeness of Nature. Goethe’s Way of Science. New York 1996: Das Ganze sei demnach bei Goethe im Teil des Textes immer enthalten oder, naturwissenschaftlich gewendet, „the primal phenomenon („Urphänomen“) is an example of the whole which is present in the part“ (22).

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