Vor kurzem habe ich meine Walter-Scott-Werkausgabe verkauft, 38 Bände. So lange werde ich nicht leben, um mich auch noch um Scott zu kümmern und überhaupt liest das niemand mehr und im Regal ist endlich ein Meter Platz.
Bei der Räumaktion fiel mir ein kleines blaues Buch in die Hand, von dessen Existenz ich nicht mal mehr wußte. „Oriental Encounters. Palestine and Syria (1894-96)“ lautet der Titel, sein Verfasser trägt den auffälligen Namen Marmaduke Pickthall. Pickthall? Der Name klang in meinem Ohr. Wikipedia lieferte die Erklärung: Pickthalls Koran-Übertragung ins Englische gilt noch heute als Standardübersetzung.
Aber auch was man sonst las, machte neugierig. Der Mann führte ein überaus abwechslungsreiches und kontroverses Leben, ein frühes, aber typisches Produkt moderner westlicher Zerrissenheit auf der Suche nach der verlorenen Identität und nach dem abhanden gekommenen Sinn. Ihn trieb das gen Osten.
Mit 18 Jahren verließ Pickthall, der in einem religiösen Hause aufgewachsen war, seine Heimat und verbrachte zwei Jahre im Nahen Osten. Dieses Fernweh scheint eine weit verbreitete Krankheit gewesen zu sein; man geht wohl nicht fehl, sie als Flucht zu diagnostizieren. In diesem Falle, dem späteren Tory, endete sie mit der Konversion zum Islam, der Verteidigung türkischer Großmachtpolitik und einer hohen Identifizierung mit orientalischen Sitten und Gebräuchen.
Dabei wurde der junge Mann, als er an Land ging und all die Jahre hindurch, von seinen Landsleuten vor allem mit Vorurteilen versorgt, wie hinterhältig und wenig verlässlich die Araber oder Türken doch seien und als er sich einen türkischen Hasardeur, einen ehemaligen Soldaten, zum Diener nimmt, da prophezeien sie ihm den baldigen Tod. Auch ein älterer weiser Mann schließt sich ihm an, eine unerschöpfliche Quelle der Weisheit und Gelassenheit. Man kann das Buch als Beweisführung lesen, daß Vorurteile überwindbar sind, wenn man sich auf das Fremde in Gänze einläßt. Ohne die beiden wäre sein zweijähriges Herumstreifen im Lande ganz sicher nicht gut gegangen.
So ähnelt das Buch, in dem mehr als dreißig Szenen im kurzen Kapiteln wiedergegeben werden, manchmal einem Märchen, manchmal einer Zivilisationskritik, dann wieder einer Reisebeschreibung und mitunter auch einer Schelmengeschichte. Es zu lesen, ist vor allem dann reizvoll, wenn man den Vergleich zum heutigen Syrien und just zu jenen Menschen zieht, die nun unter uns leben. Es läßt sich, trotz der 130 Jahre Differenz, vieles lernen und auch erkennen, daß Syrien und der Nahe Osten sich weit weniger – vor allem mental – entwickelt haben, als der schnelllebige Westen.
Pickthall entwirft eine Gesellschaft der Vielfalt und der Widersprüche. Es leben in diesem Land Muslime, Juden, Christen, Drusen, Minoriten, Tscherkessen, Europäer, Zigeuner (die stehlen), Armenier, Griechen, Türken … und kaum eine Gruppe ist geeint, es gibt fast immer religiöse, ethnische, kulturelle, sprachliche, historische oder soziale Unterschiede.
Sein Blick auf diese Gemengelage ist durchaus beschönigend. Pickthall liebt die Befreiung aus dem englischen Korsett, kleidet sich wie die Einheimischen, erlernt ihre Sprache, will sie verstehen und es ihnen gleichtun, will im Fremden unter- und aufgehen. Und kann es doch nicht.
Anfangs hindern ihn die zahlreichen Vorurteile, mit denen er von seinesgleichen bepackt wurde, aber nachdem er sich der fremden Kultur immer mehr öffnet, bemerkt er, daß er immer wieder an unüberwindbare Verstehenshindernisse stößt, die viel tiefer reichen. Hier ticken die Uhren anders, mehr noch, es gibt noch nicht mal Uhren. Dennoch oder vielleicht deswegen findet er hier „an immense relief. All my previous years I had not seen happy people. These were happy. Poor they might be, but they had no dream of wealth; the very thought of competition was unknown to them … Class distinctions, as we understand them, were not. Everybody talked to everybody”. Später betont er dann noch, daß er nie, in den vielen Jahren, je von einem Orientalen betrogen worden sei.
Solche Sätze sind ein wunderbares Beispiel für ideologieinduzierte Blindheit, denn die Geschichten erzählen uns – wenn man von der unmittelbaren Handlung abstrahiert – das komplette Gegenteil, bis hin zu ganz klassischen Betrugsversuchen und Räuberpistolen und ganz offensichtlichem Unglück unter diesen Menschen, die im Übrigen ausschließlich Männer sind – Frauen waren nahezu unsichtbar. Freilich, wenn man sich selbst so weit bringt, zu einem Mordversuch an einem Atheisten – weil er ein Atheist ist, sonst nichts – zu schreiben: „I could not but admire the simple piety which prompted them at once to kill a man whose speech betrayed him as an atheist“, dann ahnt man, wie tief die neue Liebe ist.
Mit „fremdenfeindlichen“ Augen liest man eine andere Geschichte. Die von unzähligen und undurchdringlichen Clankonflikten, von Christenverfolgungen, von Gewalt gegen Frauen, Grausamkeit gegen Tiere, von Rückständigkeit und Aberglauben, von Einfalt – die mitunter an Weisheit grenzt – und Unbildung, vor allem aber immer wieder von seinem Versuch, wie die anderen sein zu wollen und doch unfähig dazu zu sein.
Kaum ein Kapitel, in dem ihm sein türkischer Diener nicht belehrt, daß man dieses oder jenes nicht oder anders hätte tun müssen, und mitunter rettet ihn nur sein seltsamer Status, sein eigenes Fremdsein und die darin imaginierte Macht vor schlimmeren Schicksalen.
Andererseits gibt es natürlich diese berühmte Gastfreundschaft, für die man wirklich empfänglich sein muß, wenn man sie genießen will, und es gibt auch eine beeindruckende Offenheit. Der Schritt von einem zum andern, vom freizügigen Gastgeschenk bis hin zur lebensbedrohlichen Lage ist mitunter ganz kurz. Pickthall glaubt den Einheimischen, daß das am Temperament, am „heißen Blut“ liege: „Most of the killing in this country is done without a thought, in anger or mad jealousy“.
Aber auch Geschichten wie diese sind zu hören: „A deadly insult had been offered to a family in a young girl’s dishonour. Her father and her brothers killed her to wipe out the shame – as it is custom here among the fellȃhȋn – and then with all their relatives waylaid the men of the insulter’s house when these were cutting wood here in the forest. There was a furious battle, lasting many hours.”
Überhaupt spielt die Ehre, das Beleidigtsein eine große Rolle. Die größte Gefahr für den Europäer ist es, unbewußt die Ehre eines anderen Mannes zu verletzen und das kann selbst dann geschehen, wenn man meint, ihm Gutes zu tun. Selbst sein türkischer Diener möchte dann zu drastischen Mitteln greifen: „‘I know a person who would kill him for the sake of thirty English pounds.‘ It became, of course, incumbent on me to explain that, with us English, hatred is not absolute as with the children of Arabs – mine had already reached the laughing stage.“
Ganz zum Schluß etwa, möchte er sich ein Haus kaufen. Das gestaltet sich schwerer als gedacht: „Rashȋd replied: ‚The business has not yet begun. To-morrow and the next day we shall view the land again; and after that we shall arrange for the appointment of two valuers, one for us and one for him, who will inspect the land, first separately and then together; and after that we shall appoint an arbiter who will remonstrate with the owner of the land; and after that —‘ – ‘But the business will take months.’-‘That is the proper way, unless your Honour wishes to be cheated.”
Und als der Vertrag endlich unter Dach und Fach ist, gönnt er sich eine kleine Erholungspause, eine kleine Reise – doch die wiederum beleidigt den mächtigen Verkäufer so sehr, daß er nicht nur droht, tot vor Scham ins Grab zu sinken, sondern den Kauf auch annulliert.
Ein Vorteil, das Fremde kennenzulernen, ist ohne Zweifel die Spiegelfunktion, ganz unabhängig davon, ob der Spiegel die Wahrheit ist. Als Halter dient meist sein alter, weiser Begleiter; manches wird dem Ägypten-Urlauber bekannt vorkommen:
„‘And as for the custom of the merchants‘, added Suleymȃn, ‘in asking a much higher price than that which they at last accept, what would you have? Those merchants are rich men, who have enough for their needs. Their aim is not that of the Frankish traders: to increase their wealth by all means and outdistance rivals. Their object is to pass the time agreeably and, to that end, detain the customer as long as possible, the more so if he be a person like your Honour, who loves jokes and laughter. The greatest disappointment to our merchants is for the customer to pay the price first asked and so depart immediately. … That shows the difference between a trader in our cities and one in any city of the Franks, whose sole desire is to sell quickly and repeatedly.” (184)
Pickthall kann sich an diese Art des Handelns nicht gewöhnen und haßt es. Die Szene verrät eines der ökonomischen Geheimnisse – neben dem islamischen Zinsverbot etwa –, weshalb die Länder unter Mohammeds Sonne ökonomisch und wissenschaftlich-technisch zurückliegen.
Auch als er den weisen Suleymȃn englischen Freunden als Reiseführer empfiehlt, geht es nicht gut: „He hoped by visiting selected spots and people to give it sequence and significance. In a word, he was an artist in travel, wishing to provide them with delicious memories, while they were English and omnivorous of facts and scenes.” Die Engländer wollten etwas sehen und wissen, ihr arabischer guide versorgte sie mit stundenlangem Nichtstun und freundlichen aber inhaltsleeren Gesprächen.
Und manchmal werden auch die ganz großen Wahrheiten ausgesprochen (Pickthall hatte es unterlassen, einen Zigeuner, der ihm einen kleinen Beutel Linsen gestohlen hatte, zu erschießen und ließ den Mann stattdessen laufen):
“Why should I kill a man who offered me no violence?” I asked defiantly.
“Why should you not do so, when the man is evidently wicked?”
“Why do the Franks object to killing wicked people?” asked the coffee-seller with a laugh. “Why do they nourish good and bad in their society?”
“It is because they are without religion”, muttered one man in his beard.
An elder of superior rank, who overheard, agreed with him, pronouncing in a tone of pity:
“It is because they lose belief in Allah and the life to come. They deem this fleeting life the only one vouchsafed to man, and death the last and worst catastrophe that can befall him. When they have killed a man they think they have destroyed him quite; and as each one of them fears such destruction for himself if it became the mode, they condemn killing in their laws and high assemblies. We, when we kill a person, know that it is not the end. Both killed and killer will be judged by One who knows the secret of men’s breasts. The killed is not deprived of every hope. For us, death is an incident: for them, the end. Moreover, they have no idea of sacrifice. Killing, with them, is always the result of hate. … Here, among us, it is not an unheard-of thing for men to kill the creatures they love best on earth; nor do men blame them when, by so doing, they have served the cause of God, which is the welfare of mankind.”
Interessantes posting.
> In der Regel betrug die Amtszeit eines Richters zwei oder drei Jahre
Das erinnert mich an Marco Gallinas Artikel zum Raetesystem Venedigs und seiner Bemerkung zu durch deren Vertreter meist exklusiv beanspruchten Grundpfeilern der Demokratie, die in anderen Systemen wirksamer umgesetzt wurden. Hier Gewaltenteilung oder -beschneidung. Im osmanischen Reich nach meinem Wissen z.B. auch durch Massnahmen wie die Nichtvererbbarkeit von Land fuer bestimmende Bevoelkerungsgruppen unterstuetzt. Das ging jahrhundertelang bei Tod zurueck an die Pforte.
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An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass Buchbesprechungen hier zu meiner Lieblingsrubrik zählen, da sie schlicht glänzend analysiert und verfasst sind – völlig egal ob tendenziös, subjektiv oder den einen oder anderen Kontext auslassend. In dieser Hinsicht bin auch ein Sünder. Noch dazu ich sogar gelegentlich Dinge ausdenke, aber, dies sei versichert, nie in Sachthemen. Wir können dies offen zugeben oder versuchen, Plato nachzueifern und die eigene Voreingenommenheit möglichst geschickt zu verpacken. Aber das ist gar nicht der Punkt. Sofern man das betreffende Buch selbst kennt, ist es immer interessant zu sehen, was der Andere bemerkt oder übersehen oder interpretiert hat. Sofern man es nicht kennt, spricht es für die Qualität der Rezension, mich auf dieses aufmerksam gemacht zu haben. Mir fällt da spontan die Eis-Trilogie ein, die hier dermaßen stilistisch brillant besprochen wurde, dass ich a) diese Trilogie, die ich nicht kannte, auf meine to-read-liste setzte und b) ich dies nur erwähne, weil ich zu meiner Schande nicht auf das „Gefällt mir“ gedrückt habe.
Wie der Zufall es will, schwirrte mir vor kurzem der Gedanke durch den Kopf, eine Art biografisches Essay über Pickthall zu verfassen (einer spontanen und groben Schätzungen zofolge wäre dies wohl ein Zweiteiler. Meine Vorliebe berücksichtigend – Randthemen, die mir beim Erwähnen einfallen miteinzuflechten – vielleicht eine optimistische Schätzung.) Weniger um das Aufzeigen von Parallelen zwischen den Menschen der Levante damals und heute – eher, weil Pickthall in seinen zahlreichen Werken eine bedeutsame Übergangsphase begleitete, teilweise an vorderster Front (im wörtlichen Sinne, in den Balkankriegen 1912/1913), die in mehrerer Hinsicht aufschlussreich ist. Ich würde daher das Wesentliche für einen noch zu verfassenden Beitrag aufheben, der sicherlich noch eine Weile dauern dürfte aufgrund eines gerade laufenden Schreibprojekts (auch habe ich, außer einigen Notizen, gerade keine Vorarbeit in der Schublade liegen) hier nur zwei verschiedene Aspekte ansprechen – die eigentlich nicht thematisiert, allenfalls am Rande gestreift wurden
Da ich laut offiziellem Lebenslauf offensichtlich etwas von politischer Ökonomie verstehen sollte, sofern das Diplom das Papier wert ist, auf dem es geschrieben wurde, finde ich den obigen Hinweis auf die „ökonomische und technische Rückständigkeit der Länder unter Mohammes Sonne“ – das Zinsverbot und der Hang zur Feilscherei ob des bloßen Zeitvertreibs -, bemerkenswert. Auch hier gilt: Wäre die – nennen wir sie mal „islamische Wirtschaftsethik“ von einer ähnlichen Wirtschaftlichkeit wie der Sozialismus, wäre das Kalifatenreich wohl kaum über einen ziemlich langen Zeitraum eine weltweit dominante Handelszivilisation gewesen.
Die entsprechenden Arabismen in der Ökonomie – wovon „Scheck“ und „Tarif“ sicherlich die bekanntesten sind, aber auch weniger vermutete Begriffe wie „Risiko“ (aus dem arabischen „rizq“) – erinnern daran. Auch die öffentlichen Stiftungen (Wakf) spielten eine bedeutende Rolle und helfen bei der Erklärung, wieso es in jenem Teil der Welt nie zu hungersbedingten Revolutionen französischer Ausmaße kam. Jüngeren Studien zufolge bestand das osmanische Istanbul fast zu 40 Prozent aus öffentlichem Gut (darunter versteht man neben Moscheen auch Armenküchen, Krankenhäuser etc.). Die englische Institution des „Trust“ ist eine von diesen „Gaben des Morgenlandes“, offenbar ein Mitbringsel aus der Zeit der Kreuzzüge (vgl. Monica Gaudosi „The influence of the islamic law of waqf on the development of the trust in England“ oder Alastair Hudson „Equity and Trusts“). Auch die Vermögenssteuer mag ihren Teil zum sozialen Frieden beigetragen haben. Vor nicht allzulanger Zeit sorgte Thomas Pikkety in seinem lehrreichen „Capital in the Twenty-First Century“ (2014) mit eben dieser Forderung (und dem Vorteil einer Vermögens- im Gegensatz zu einer Einkommensteuer) für Aufsehen. Solange man das nicht „Zakat“ nennt, wird er jedenfalls nicht dem Verdacht ausgesetzt werden, eine schleichende Islamisierung voranzutreiben. Da wir in Zeiten der Amnesie leben, wie ich gerne zu wiederholen bereit bin -, heißt dies wohl, dass die Arabismen des Alltags eine Verbannung aus dem Wortschatz nicht zu fürchten haben – die Furcht einiger, eine Rückbesinnung auf die Ursprünge der europäischen Identität könnte zur Folge haben, dass römische Zahlen wiedereingeführt werden, ist offenbar unbegründet….zurück zur Wirtschaft
Die Rolle Mohammeds als Reformer in ökonomischen Fragen ist in dieser Hinsicht nicht zu unterschätzen. Er war es, der der bis dahin geltenden staatlichen Preislenkung ein Ende setzte mit den Worten „die Preise liegen in Gottes Hand“. Ein Lehrstück in diesem Sinne lieferte sicherlich der Ökonomiehistoriker Benedikt Koehler in seinem „Early Islam and the Birth of Capitalism“ (2014). Interessant sicher auch, dass Frauen in frühislamischer Zeit offenbar eine stärkere Position in der Gesellschaft hatten als im späteren Verlauf. Der Posten des Marktaufsehers bsp. oblag anfangs traditionell der Frau. Später findet man Frauen in Führungspositionen allenfalls noch in der Mystik, wo es keine Seltenheit war, dass eine Frau einen Orden leitete, während in der Orthodoxie sich das traditonell patriarchalische – ohnehin in einer polygamen Gesellschaft – durchsetzte.
Den zweiten Punkt, auf den in der Rezension angespielt wird:
„Pickthall entwirft eine Gesellschaft der Vielfalt und der Widersprüche. Es leben in diesem Land Muslime, Juden, Christen, Drusen, Minoriten, Tscherkessen, Europäer, Zigeuner (die stehlen), Armenier, Griechen, Türken … und kaum eine Gruppe ist geeint, es gibt fast immer religiöse, ethnische, kulturelle, sprachliche, historische oder soziale Unterschiede.“ (seidwalk)
Diesen Aspekt würde ich in einem noch zu verfassenden Beitrag (Pickthall-Biografie) genauer ausführen, hier jedoch nur kurz anschneiden. Was Pickthall als Freiheit und Unabhängigkeit, die er empfand – in Gemeinden, die sich selbst regulierten und nicht von einer zentralen staatlichen Obrigkeit regiert wurden (manche sahen nie in ihrem Leben Leute in Uniform) – weist auf die tatsächlichen Ursachen des Totalitären im Nahen Osten hin: Nämlich in der Instituion „Staat“ und dem Konstrukt „Nation“ und deren Import in ein Mileu, das ein gänzlich anderes System kannte.
Richter waren in der Scharia der Vormoderne unabhängig. Sie waren keine Beamte auf Lebenszeit, sondern gingen in der Regel anderen Berufen nach. Thomas Bauer erinnert in seiner „Kultur der Ambiguität“ daran, dass ein Kadi kein Hadithexperte sei, sondern „ein ehrlicher Kerl sein musste“. Wie Wael Hallaq – einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Geschichte des Islamischen Rechts – in seinem vielsagenden „The impossible State“ (2015) dazu ausführt, wobei er immer wieder das islamische Rechtssystem dem modernen gegenüberstellt:
„Die Delegierung (des Richters durch die Obrigkeit) könnte auch für die Kontrolle der Judikative durch die Exekutive herangezogen, da moderne Beobachter eine Amtsenthebung in der Regel als Unterminierung der juristischen Unabhängigkeit und so der Gewaltenteilung ansehen. Dies ist in modernen Rechtssystemen sicherlich der Fall, jedoch nicht in deren islamischem Gegenstück.
Die heutige, arbeitsplatzbasierte Wirtschaft und das Konzept der Fachkompetenz haben offensichtlich zu der Vorstellung geführt, dass eine sichere Karriere bzw. ein sicherer Arbeitsplatz für die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Einzelnen unabdingbar sind. Ist der Job in Gefahr, ist es unweigerlich auch die eigene Unabhängigkeit. Diese Auffassung gab es vor dem neunzehnten Jahrhundert jedoch noch nicht, weder in der islamischen Welt noch anderswo.
So waren muslimische Juristen nicht spezialisiert in diesem Tätigkeitsfeld, da sie regelmäßig auch andere Aufgaben wahrnahmen, so dass das Einkommen aus ihrer Tätigkeit als Kadi nur eine von mehreren Einnahmequellen war.
In den ersten Jahrhunderten des Islams hatten Kadis und andere Juristen weitere Berufe, vor allem im handwerklichen Bereich. Später nahmen sie zahlreiche Aufgaben im Erziehungs- und Bildungsbereich wahr. So lehrten sie, gaben Privatunterricht oder schrieben Manuskripte ab – Tätigkeiten, die stets florierten. Manche arbeiteten als Schreiber, Sekretäre oder Protokollanten, während andere Kleinhändler und einige wenige sogar Großhändler waren.
Mit anderen Worten: Der muslimische Richter war nicht nur von seinem Einkommen her von dieser Tätigkeit (als Richter) unabhängig, ja, sie war nicht einmal sehr bedeutend für ihn.
Doch damit ist noch nicht alles gesagt. In der Regel betrug die Amtszeit eines Richters zwei oder drei Jahre, oft wurde sie nach einer Pause erneuert. Amtsenthebungen gehörten zum Leben und waren etwas Selbstverständliches. Sie wurden erwartet und so oft durchgeführt, dass sie für niemanden eine Bedrohung darstellten.
Tatsächlich war es gerade diese Häufigkeit und deren Normalität – von der selbstverständlichen Bindung an die Scharia ganz zu schweigen –, die juristische Unabhängigkeit nicht nur möglich machte, sondern sie auch bestärkte.»
Hallaqs vielfach eindrucksvoll belegtes Fazit lautet: „Der Islamische Staat ist, gemessen an irgendeiner Standarddefinition dessen, was den modernen Staat ausmacht, sowohl eine Unmöglichkeit, wie ein Widerspruch in sich ist.“ Dies wird deutlich anhand des Vergleichs von rund 1.200 Jahren Scharia und dem, was heute sich als „Islamische Republik“ o.ä. bezeichnet – die Selbstregulierung von Gemeinschaften und die Unabhängkeit von Richtern – die nicht als obrigkeitshörige Sittenwächter fungierten um drakonische Strafen zu verhängen, da in einem modernen und damit totalitären „islamischen Staat“ Dissidenz und Blasphemie dasselbe ist.
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