Lebenskreise

Im November saß ich während einer Festveranstaltung neben einer jungen Frau. Taiwanesin, amerikanische Staatsbürgerin, kinderlos und bereits jenseits der hoffnungsguten Jahre. Sie war mit einem deutschen Ingenieur, der gerade in Ungarn arbeitete, liiert. Sie trug schwarze enganliegende Lederhosen, Dr. Martens Springerstiefel und eine bronzefarbene metallic glänzende Jacke.

Sie war bei der ESA[1] angestellt, arbeitete – wie sie mir erzählte – im BlockchainBusiness und leitete im Silicon Valley eine Organisation für Frauenrechte. In allen Bereichen ist sie eine weltweit gefragte Referentin – der Google-Check bestätigte die Rede.

An ihrem Handgelenk blinkte immer wieder eine Smart-Watch auf, auf der sie geübt herumfingerte. Stand diese still, bediente sie ihr Smartphone. Nur als eine ungarische Trachtengruppe einen alten Tanz aufführte, war sie ein paar Minuten gefesselt: das war ihr eine neue, ferne, exotische Welt.

An diesem Morgen – es war ein Freitag – war sie in Berlin aufgewacht. Nun saß sie im Süden Ungarns. Kurz zuvor hatte man sie in Budapest am Flughafen abgeholt. Ich konnte eine ihrer Mails mitlesen, die sie an jemandem mit deutschem Namen auf Englisch schrieb. Sie teilte mit, heute und morgen bei  ihrem Freund zu bleiben. Am Sonntag flöge sie nach Lissabon und am Montag käme sie in New York an, wo sie den Mailpartner zu treffen gedenke.

Das sind in vier Tagen 700 + 2500 + 5500 Kilometer und natürlich war das nur ein kleiner Ausschnitt aus einem ganzen Leben voller Bewegung.

Zu Weihnachten saß ich mit einem Plauener Proleten, Vater, 40 Jahre Fabrik, die Hälfte davon Schicht, 1200 Euro Rente schon ausgerechnet, AfD-Wähler, am Wirtshaustisch. Auch er hatte mal in der ESA gearbeitet – dem Elektroschaltgerätewerk Auerbach[2]. Sein Lebenskreis überschreitet die 20 km Radius nur sehr selten im Jahr.

Er erzählte mir, auf Vogtländisch, daß er nun nicht mehr weit verreisen werde. Gemeint waren die zwei Wochen Sommerurlaub. Im letzten Jahr war er in Kroatien, die Jahre davor in Ungarn oder Slowenien – mit dem Auto. Fliegen wolle er sowieso nicht. Das gäbe nur Ärger und übersteige sein Budget. Wenn irgendwo die Klofrauen streiken würden, dann sei der Urlaub schon im Arsch. Und auch die langen Autofahrten wolle er nicht mehr. Letztes Jahr habe er drei Stunden am Tauerntunnel warten müssen … Und warum in die Ferne schweifen? Zu Hause sei es doch auch schön. Also habe man – erzählte er zufrieden – dieses Jahr zwei Wochen Zingst gebucht, wie in alten Zeiten.

[1] Die Europäische Raumfahrtbehörde
[2] VEB Robotron Elektroschaltgeräte Auerbach

10 Gedanken zu “Lebenskreise

  1. Michael B. schreibt:

    Ich vermute, dieser Beitrag ist von dem hier in Deutschland durch Gauland popularisierten anywhere/somewhere-Kontext zumindest beeinflusst worden. Es wird keine direkte Wertung gegeben, aber die Sympathien sind offensichtlich klar verteilt 🙂

    Ich denke das Wesentliche ist, dass es ist nicht schwarz-weiss ist. Als jemand mit siebenjaehriger blue-color-Berufserfahrung, mit Eltern mit ebenfalls jeweils ueber 40 Jahren in einem DDR-Betrieb, mit aber selbst auch ganz anders gelagertem weiteren Lebensweg inklusive nichttrivialer Auslandserfahrungen bin ich da zwar nicht gerade zwischen Baum und Borke, aber ich verstehe beides und v.a.D., dass dies kein Gegensatz sein muss. Der erst, wie viele in den letzten Jahren neuerschaffene und gepflegte Bipolaritaeten, stuetzen den status quo des Teile und Herrsche (der Person Gauland allerdings mit Sicherheit nicht angehaengt).
    Auch haengt viel an den Inhalten. Meine Kopfinteressen kann ich in verschiedenem geographischen Umfeld relativ nahtlos fortsetzen und wenn sie mein Leben dominieren, merke ich nicht soviel. Bei meiner Frau und meinen Kindern sieht es aber schon anders aus, auch wenn letzterer Flexibilitaet natuerlich mehr ermoeglicht. Aber gerade diese Art voellig unpolitisch motivierter Bodenstaendigkeit mir nahestehender Menschen formt natuerlich auch mich.

    Die Taiwanesin mag entweder durch einfaches Fortfuehren ihres Lebensstils oder auch durch ’settlement‘ irgendwo – irgendwann die Schmerzen einer Entwurzelung zu spueren bekommen, sofern sie es nicht schon spuert. Man kann aber auch dann so etwas unter Wahrnehmung des Preises voellig berechtigt auswaehlen. Die Sensibilitaet zur Nichtueberlegenheit der eigenen Wahl die mit dessen bewusster Kenntnisnahme kommt, die ist m.E. der wesentliche Punkt.

    Ich selbst bewege mich in diesen Dingen klar ‚zurueck‘ in den 20km-Radius. Und ich finde das voellig in Ordnung. Es bringt mich allerdings in einen speziell auch politischen Handlungszwang, dem ich frueher durch Ausweichen einfach haette entgehen koennen.

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    • @ Michael B.:
      Selbstverständlich ist das keine Wertung im moralischen Sinne. Es ist zuvörderst die Beschreibung einer Differenz und das Aufzeigen der (inhärenten) Folgen dieser Lebensstile. Persönliche Präferenzen spielen dabei keine große Rolle – vermutlich hätte ich mich mit der Globetrotterin viel intensiver austauschen können als mit dem Proletarier, auch wenn mir dessen Bodenständigkeit an sich gefällt.

      Die Gespräche mit ihm – als Typus – erschöpfen sich meist aber sehr schnell und sind für mich extrem ermüdend, da sie eine permanente Aufmerksamkeit, Präsenz erfordern ohne einen zündenden Gedanken zu produzieren. Ich selbst regrediere dann ganz schnell in eine Art Apathie, werde selbst ganz schnell leer – im schlechten Sinne – und auch unzufrieden mit mir. Wenn man denn tiefer blicken will, dann darf man auch nicht verschweigen, daß auch der geistige Horizont dieses Typus den 20-km-Radius selten übersteigt und falls doch, dann auf einer 20-km-Basis. Das ist, nebenbei, ein Hauptgrund, weshalb ich das Leben im Ausland vorziehe: die 20km-Probleme werden mir hier nicht aufgehalst, zumindest verstehe ich sie nicht.

      Mir schweben ein paar Bekanntschaften vor, die beides vereinen: physische Bodenständigkeit und geistige Weite. So ein Typ Jünger oder Heidegger. Die beiden verglichen mal ihre Arbeitszimmer und Jünger pries seinen schönen, inspirierenden Blick aus dem Fenster, worauf Heidegger antwortete, daß er – obwohl sein Blick von der Hütte grandios war – lieber die Fensterladen schließe, wenn er denke. …

      Aber solche Menschen (ich meine den Typus, nicht das Format) sind leider kaum zu finden, zumindest nicht in der vogtländischen (= X) Provinz; in den Städten vielleicht, aber dort fehlt dann die Ruhe. Dieser Typus – Jünger, Erhart Kästner, Nebel, Huxley etc. – ist viel gereist und was haben sie nicht von ihren Reisen mitgebracht! Aber das Gepäck war eben schon voll, als sie abfuhren. Der Unterschied zum Jetlag-Leben und zum Radius-Leben ist evident.

      Lynx: Nachvollziehbar. Aber kann man nicht, mit Hannah Arendt, Heidegger überwinden? Stichwort Natalität.

      Seidwalk: Überwinden kann man, was man verstanden hat. Da bleibt im Falle Heidegger noch viel zu tun. Ob man geboren wird, bleibt offen – daß wir sterben, ist gewiß.

      Lynx: Das meinte die Heidegger-Schülerin aber nicht…

      Seidwalk: Nein, natürlich nicht. Ich wollte nur die Verhältnisse richtigstellen.
      Wenn Sie konkrete Vorstellungen haben, wie man mit Arendt Heidegger „überwinden“ kann, dann immer her damit!

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      • lynx schreibt:

        Ich bin schon wieder weiter gezogen. Richard Sennett hat mich daran erinnert, dass James Baldwin Arendts Denkansatz in seinem Essay „The Fire Next Time“ von 1962 überzeugend ausgeführt hat. In diesem Essay „deutet sich eine emotionale Erfahrung an, die jenseits der Identität liegt; es ist eine Erfahrung, die nicht auf Bekräftigung und Bestätigung aus ist, sondern Unvollständigkeit und Zweifel in sich aufnimmt.“ Die Geschichte (des Rassenkonflikts) wird von jemandem erzählt, „dessen Verwirrungen dazu führen, dass er sich auf der Suche nach einer Lösung, nach einer Antwort, dem Außen zuwendet, statt sich in seinem Inneren zu verschanzen“ – Das ist der evidente und befreiende Unterschied zu Heidegger & Co: Fenster auf! Und das schwere Gepäck: stehen lassen. Sich auf den Weg machen, auf die anderen zu. Oder eben, wie sagte Hölderlin? Komm!… (Davon weiß die Taiwanesin wahrscheinlich nichts. Oder sie ist einfach leichtfüßig darüber hinweggehüpft? Unwahrscheinlich.)

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      • Michael B. schreibt:

        @seidwalk

        Rein praktisch gesehen gehts mir wie Heidegger. Ich wohne am Elbhang keinen Kilometer ueber dem Buchhaus der Frau Dagen. Ich habe einen Blick ueber die oestlichen Auslaeufer von Dresden bis ins Tschechische (wenn das Wetter gut ist). Als ich in Neuseeland lebte, habe ich einmal versucht vom Strand einer Suedseeinsel aus zu arbeiten. No way.
        Mein Schreibtisch steht also um 90 Grad verdreht, ich brauche zur Arbeit den Rahmen aus Monitoren, Buechern, zu beschreibenden A4-Seiten, unregelmaessiger Capuccinoherstellung und einsamer Laeufe im Wald, das ist es. Bei dem Anblick bekommen manche Leute ebenfalls schnell Apathie, z.B. meine erste Frau, die sich wohl unter diesem Eindruck dann ganz fix verfluechtigte als sich neue Gelegenheiten boten. Obwohl dasselbe studiert. Aber man kann halt Mathematik in berufliche Beschaeftigungen mit Versicherungsproblemen, Netze von ’nuetzlichen‘ Bekannten und regelmaessige Skiurlaube umsetzen oder man kann sie ganz anders betrachten.
        Und die Betrachtung macht es. Ich kam zu diesem Blog hier uber Hamsuns (den mein Grossvater gern las) Geissensmilch und deren Uebersetzung. Das hat viel Poesie, das zugrundeliegende Ereignis wird aber erst durch den Schriftsteller entfaltet. Es hat – wie jede Realitaet – aber auch andere Facetten (*), von denen einige Ihren Vogtlaender wie das spruehende Leben dastehen lassen moegen. Alles Betrachtungsweise und aus allem kann man Honig ziehen.

        (*) Ich denke uebrigens, das ist die letztliche Begruendung fuer Heideggers Verhalten. Jeder Verstand – auch seiner – ist arm gegenueber der vollen Realitaet. Man muss sie reduzieren, um gedankliche Ergebnisse erzielen zu koennen. Stellt man sich ihrer Fuelle, hat man alle Haende voll damit zu tun sie real (sic!) zu bewaeltigen. Aus dem erstgenannten Grund arbeiten die allermeisten Intellektuellen auf den Ergebnissen solcher schon vollzogener Reduktionen, naemlich anderen Gedanken, ob das nun Theorien, sonstige Gebaeude oder was weiss ich sind. Die Mittelbegabten tun das ausschliesslich (manche wenigstens immer noch ehrlich), die wahre Intelligenz geht insofern darueber hinaus, dass sie immer wieder neu aus dem Rohmaterial ableitet und es ihr aber trotzdem meist gelingt, nicht beim Urschleim neu aufsetzen zu muessen.

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  2. Auf der materiellen Ebene wird in jeder Schwangeren, die sich dafür entscheidet, einen Teil ihrer Lebenszeit, ihres Körpers, ihrer Ressourcen aufzuopfern, um einem anderen Menschen das Leben zu schenken, das geistige Urbild dieser – im wahrsten Sinn des Wortes – Fruchtblase widergespiegelt.

    Solche Gemeinschaften können gar nicht anders als auf kurz oder lang dem Verfall gewidmet zu sein. Stets und von vornherein. Weil sie nicht organisch gewachsen sind wie die oben genannten Familien und Beziehungen. Weil sie zweckorientiert und nicht beweggrundorientiert gegründet wurden. Klar brauchts dann aufgedrückte Konventionen und Religionen zur Festigung, wenn es kein festigendes Element gibt, das von den Menschen selber ausgeht.

    In früheren Zeiten war das festigende Band, welches den Menschen selber innewohnte, die Blutsverwandtschaft, die maßgeblich erhalten wurde durch die traditionelle Nahehe. Die solchen Gesellschaften quasi systemimmanente Religion war der Ahnenkult. Nachdem der Kitt der Blutsverwandtschaft verworfen wurde und heutzutage als festigendes Band nur noch in Kleinstfamilien von 1-3 Personen existiert (im Extremfall festigt eben der alleinstehende Mensch seine Bindung mit sich selbst), hätte eigentlich die Seelenverwandtschaft als neues Bindungselement einsetzen müssen – und mit ihr auch eine andere Religion. Irgendwie wurden damals aber ein paar Dinge massiv falsch verstanden.

    Staaten haben eben keine Freunde, sondern Interessen. Wie könnten sie auch anders, sind sie doch ein anorganisches Konstrukt, im Gegensatz zur Nation, die nicht konstruiert, sondern – wie der Begriff selber ausspricht – geboren wurde.

    Weniger blind, vielmehr vergesslich. Und das liegt nicht an uns. Die Amnesie, die einem mit jeder neuen Geburt auferlegt wird, werde ich nie begreifen. Wie soll man jemals dazulernen, wenn man über seine früheren Fehler in Unkenntnis gehalten wird?

    Sich kein Bild von etwas zu machen (weder von etwas im Himmel noch auf Erden) halte ich für eine der schwersten Übungen des menschlichen Geistes. Dazu muss man es ertragen können, sein Innenleben in undefinierter Schwebe zu halten, obgleich es beständig danach strebt, in eine Form gegossen zu werden, um Ausdruck im Materiellen zu finden. Im Grunde ist das aber auch nur eine Art von Askese wie Fasten oder auf sonstigen materiellen Kram zu verzichten, was später mal, wenns dann soweit ist, die Loslösung deines siderischen Körpers vom physischen erleichtern soll. Nichts weiter.

    Ich wäre mir indes auch nicht so sicher, ob mit dem Nichtbildnismachen diese Seelenübung gemeint war. Möglicherweise hatte jene Gottheit einfach nur erbärmliche Angst vor Schlaumeiern, die zu viel lesen (denn aus Bild entsteht Schrift, und aus Schrift entsteht Wissen, und aus Wissen entsteht Frechheit, und freche Menschen machen die Götter ziemlich sauer).

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    • Ulrich Christoph schreibt:

      Dazu passt der Name des ersten freien Schriftstellers deutscher Sprache:
      Johann Paul Friedrich Richter, der unter dem Autorenpseudonym Jean Paul schrieb.
      Aus ärmlichsten Verhältnissen kommend war sein Lebensmotto „Wenn ich nichts mehr zu leben habe, schreib‘ ich mein Leben“; bis auf eine kurz vor seinem Tod ehrenhalber gewährte Leibrente erhielt er keine Zuwendungen. Angebotene Nebentätigkeiten als Herausgeber einer Tageszeitung und eine Professur lehnte er ab, da er sich ausschließlich auf seine Schriftstellerei konzentrieren wollte.
      Von Goethe und Schiller zunächst gefeiert und dann als Konkurrent mißbilligt*, von Herder und Wieland hochgeschätzt, schaffte er es, ausschließlich von Buch- und Zeitschriftenhonoraren zu leben, und dies während der Krisenzeit der Napoleonischen Kriege. Literaturpreise, Stipendien und die heute üblichen Lesereisen gab es damals nicht.
      In seiner Fragment gebliebenen „Selberlebensbeschreibung“ steht: „Lasse sich doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern womöglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen.“
      Und weiter: (… auf dem Dorfe) … herrscht ein herrliches Teilnehmen an jedem, der ein Mensch, welches daher sogar auf den Fremden und Bettler überzieht.“
      Der Schriftsteller Bernhard Setzwein schrieb über ihn: „Er hat sich aus der Ärmlichkeit seiner Herkunft aufgeschwungen wie der berühmte totgesagte Vogel. Gerade weil es ihm nicht an nichts mangelte.“
      Jean Paul verfaßte ein umfangreiches Romanwerk sowie ästhetische und autobiographische Schriften und hinterließ einen 1244 Seiten langen „Wörtervorrat“, darin viele eigene Wortschöpfungen, und ein rund vierzigtausend Seiten starkes Konvolut von Gedanken und Notizen.

      *Im Musenalmanach erschien eine kombinierte Autoren- und Leserbeschimpfung des zuvor in Weimar empfangenen Jean Paul Richter: „Richter in London! Was wäre er geworden! Doch Richter in Hof ist / Halb nur gebildet, ein Mann, dessen Talent euch ergötzt.“ (Xenien).

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  3. Das erinnert mich an Hans Magnus Enzensbergs „Mittelmaß und Wahn“, wo er den Alltag von ein paar jungen Leuten in der BRD der 80er Jahre mit Philipp Melanchthons Leben vergleicht. Die jungen Leute checken sich komplexe Zusammenhänge selber, von Friseurterminen bis Krankenkasse bis Steuererklärung (was alles noch niedlich ist im Vergleich zu heutigen Verrichtungen aller Normalameisen). Der Mönch hingegen wird als „ein reicher Geist in einer objektiv beschränkten Welt“ charakterisiert.

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    • Ja, so ähnlich ging auch eines der Argumente Bahros, der fragte, ob wir denn tatsächlich glaubten, daß ein Mensch zur Zeit Schillers oder Schiller selbst – gemessen an unserem Standard -, geistig und seelisch ärmer gewesen sei, als es „all diese Dinge“ noch nicht gab, als sich unser „Grundumsatz“ noch um eine Zehnerpotenz unterschied.

      Die rhetorische Frage beinhaltete auch die Suggestion, daß der bescheidene aber sichere Wohlstand jener Zeiten der bessere Brutplatz für Kultur und Lebenskultur war und wenn man sich die Evidenz in Form der Namen ansieht, dann müßte man einiges an Argumentation aufwenden, um das zu widerlegen. (Wir hatten im Auto gerade eine Novelle von Brentano gehört und danach das Gefühl: So etwas bringt heute niemand mehr zustande – vielleicht noch technisch, aber niemand kann mehr so tief und aufgefächert fühlen.)

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      • Pérégrinateur schreibt:

        Wenn sie Brentano durch Christoph Martin Wieland ersetzen und Gefühl durch Spott: Einverstanden!

        Die gewöhnlich so bedeutsam Geschäftigen lassen übrigens an Montaignes Satz denken: « Ils ne cherchent la besongne que pour embesongnement. » [Sie trachten nach den Geschäften nur, damit sie sich Geschäfte aufladen können.]

        Essais, III, Chap. 10 – De mesnager sa volomté [Von der Schonung des eigenen Willens]

        https://fr.wikisource.org/wiki/Essais/Livre_III/Chapitre_10

        Das geht auch moderner, mit Max Frisch und einem aktuelleren Twist: „Keine Zeit, Staatsempfang!“ – und darüber die Brandstifter einlassen.

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      • lynx schreibt:

        Räsonieren muss halt gelegentlich sein. Was mir aber im Hals stecken bleibt, ist die ungewöhnliche Einschätzung vom „bescheidenen aber sicheren Wohlstand“. Worauf gründete die Sicherheit im Feudalismus, wenn man nicht gerade Beamter oder Pfarrer sein durfte? Schiller jedenfalls war immer auf dringender Suche nach Geld und Sicherheit, von Kleist ganz zu schweigen.

        Ach ja, und 1803 musste C.M. Wieland schon nach sechs Jahren sein bezauberndes Landgut in Oßmannstedt, seine „kleine Schneckenhaus-Welt“, wie es nannte, verkaufen – wegen der Schulden…

        Seidwalk: Na klar. Große geistige und künstlerische Leistungen wurden in individueller Armut oder bei permanenten Geldsorgen geschaffen: Marx, Mozart, van Gogh … Dennoch war die Gesellschaft affluent genug, diese Genies zu unterhalten, auf vielfältige. je individuelle Art und Weise. Die partielle Not war oft sogar Antrieb des Schaffens. Übersteigt sie aber ein gewisses gesellschaftliches Maß, ist geistig-künstlerische Betätigung gehemmt – und das gilt in beide Richtungen: zu wenig und zu viel. Die Zeit von Leibniz bis Nietzsche dürfte in Deutschland und in Europa die produktivste gewesen sein. Ein Grund – unter vielen -, so die These, ist das allgemeine materielle Maß, das gehalten wurde, als Ermöglichungsgrund.
        So war wohl auch Bahros Argument zu verstehen. Es ist diese aber keine Frage der Gerechtigkeit.

        Lynx: Schade, dass man den Geheimrat Goethe nicht mehr dazu befragen kann. Ich wette, er hätte sich gekringelt.

        Seidwalk: Wozu?

        Lynx: 23:13: Zu dieser doch ziemlich Spitzweg’schen Poetensicht. Selbst bei ihm weiß man ja nicht so recht, ob er den „armen Poeten“ selbstironisch gemalt hat oder als Genrestück ernst meinte. Jedenfalls hatte er Erfolg damit, immerhin.

        23:28: (sorry, WP hat Teile meines Kommentars verschluckt, ich versuche zu rekonstruieren), man hat ihn ja sogar auf Kaffeetassen gedruckt. Das heißt nicht, dass ich mich dem Vogtländer nicht verbunden fühle, meine Altvorderen haben genauso gelebt. Meine Großmutter aus dem 19. Jh. ist mit der Nachkriegsmoderne nie zurecht gekommen und hat ihre Welt für sich konserviert. Deshalb konnte sie den Weg ihrer Kinder und Enkel in deren Zeit aber auch nicht aufhalten. Wie auch Mutter Hölderlin den ihres Sohnes nicht: Komm! ins Offene, Freund – es ist Hölderlin-Jahr.

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