Berlin als Hort der Freiheit

Ein guter Freund, der seit zwei Jahrzehnten in Berlin lebt – Prenzlauer Berg –, antwortet auf die Frage, was ihn in Berlin halte und ob und wie er die Stadt – deren Angebote in der ganzen Welt gepriesen werden – denn auch lebe, wie folgt:

Von der Stadt selbst kenne er nicht viel. Früh gehe er aus dem Haus zur Arbeit, abends komme er zurück, gehe ein paar eingetretene Pfade zwecks Sport, Einkauf, hin und wieder in die Eckkneipe – die noch wie in alten Zeiten eine echte Bierkaschemme und vollkommen verqualmt ist: genial! –, aber von der gigantischen Stadt kenne er wenig, kann sich nicht mal entsinnen, je im Westteil gewesen zu sein. Man geht ein, zwei Mal im Jahr irgendwo hin, ein Konzert, eine Ausstellung aber viel lieber werden die Wochenenden im Grünen am See verbracht (dort, wo Tesla jetzt seine Giga-Fabrik bauen will).

So dürfte es wohl vielen Berlinern gehen. Die im Westen kennen den Osten nicht, die im Osten oft den Westen nicht und von den unendlich vielen Angeboten nimmt man kaum etwas wahr. Für die meisten Berliner dürfte das Kulturleben sich nicht wesentlich von Plauenern, Cottbusern oder Hohenpeißenbergern unterscheiden.

Dennoch habe die Stadt eine unglaubliche Fama, berichtet er. Selbst unter Anywheres, die gerade in New York oder Paris oder Mailand leben, wird man neidvoll angestarrt, wenn man sein Herkommen benennt: „Really? Berlin? OMG, I would love to live there …

Woher kommt diese Faszination an dieser doch – objektiv und empirisch nachweisbar – ziemlich heruntergekommenen Stadt? Selbst Budapester Bekannte schwärmen von ihr und würden ihr kleines Paradies gern dagegen aufgeben.

Mir scheint, es ist die Dynamik der Metropole. Sie ist ja in der Tat unglaublich laut, schnell, aggressiv, rücksichtslos, druckvoll, energetisch … Wohin man sieht, überall tut sich was: hier wird gebaut, dort verrottet etwas, da scheint Schöpferkraft auf und dort Chaos. Es ist eine Metropole der Kreativität. Wer meint, etwas zu sagen, zu malen, zu tanzen, zu dichten, zu spielen zu haben, wird hier sein Publikum finden, selbst wenn er es nicht kann. Es können die größten Luftnummern sein, man wird immer ein paar ephemere, volatile Gestalten finden, die einem auf dem Drahtseilakt über dem Nichts zujubeln werden. Aber auch wahre Kreativität findet hier sicher ein Zuhause.

Es handelt sich wohl um eine Eigenkreation, eine Art Perpetuum mobile der Be- und Entgeisterung. Nicht die infrastrukturellen oder administrativen Strukturen machen die Stadt lebendig, sondern es sind die Begeisterten selbst – gegen und trotz der Strukturen. Die „Kreativen“ haben sich selber in eine Seifenblase der Begeisterung geblasen und bejubeln nun deren inneren Dynamismus. Die Stadt ist nach wie vor attraktiv für Millionen Menschen, voller Dynamik und Ideen. Aber nicht, weil es Berlin ist, sondern weil diese Menschen dort leben. Sie machen die Stadt anziehend, nicht die Stadt sich selbst. Die Stadt profitiert von ihren Bewohnern, obgleich sie alles dafür tut, das Bewohnen unangenehm zu gestalten.

Und dann sagt mein Freund noch eine wichtige Wahrheit. Er habe eines Morgens im Dämmerzustand die Haustür geöffnet, um den Postboten zu empfangen, und sich plötzlich halbnackt auf der großen Straße befunden. Aber es war nichts passiert. Niemand nahm Notiz. In seinem Heimatdorf wäre dies ein Skandal gewesen, in Berlin rümpft noch nicht mal der Postbote die Nase.

Hier könne man, sagte er, im Nachthemd in die U-Bahn steigen und kein Mensch würde sich darum kümmern. Du kannst hier sein, wie du willst, es stört niemanden. Und das sei unglaublich befreiend!

Ein ganz starkes Argument! Das freilich auch eine dunkle Seite offenbart. Denn im Grunde wird diese „Freiheit“ durch zwischenmenschliche Kälte erkauft. Die Menschen interessieren sich nicht mehr füreinander, sie gehen einander nicht mehr an. Du kannst hier im Nachthemd ohne Probleme in die U-Bahn steigen und niemanden juckt es, du kannst aber auch im Nachthemd bewußtlos auf der Straße liegen und es juckt noch immer niemanden. Du kannst – da beißt sich die Katze in den Schwanz – von irgendjemand angemacht werden und es wird dir niemand beistehen.

Das funktioniert zumindest so lange, wie du nicht weltanschaulich relevant wirst. So kannst du offenbar nicht überall – wie Ronja von Rönne erfahren durfte – als Drag Queen durch die Stadt laufen. Im Prenzlauer Berg mag das kein Problem sein, schwieriger dürfte es in Neukölln werden.

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