Die Welt ohne Luther

Leider kam dann Luther.  (Michael Lösch)

In der Besprechung des äußerst anregenden Buches „Im Moralapostolat“ von Horst G. Herrmann kam ich zu der rhetorischen Formel: „Luther ist schuld“[1]. Daraus ergibt sich ganz zwangsläufig eine weitere Frage: Hätte es Luther, Luther als Person mit seinen ganz individuellen Eigenheiten, nicht gegeben, wie sähe die nachfolgende Welt aus? Die Beantwortung dieser Frage stellte sich Michael Lösch in seinem Buch „Wäre Luther nicht gewesen“.

Über die Sinnhaftigkeit der Frage braucht man nicht diskutieren – wie jede posthistorische Spekulation kann sie nie eine mögliche, jedoch konkrete Geschichte bis ins Detail entwerfen, aber vielleicht – vielleicht – die ganz groben Umrisse, wie die Geschichte sich entfaltet haben könnte, vorausgesetzt, Luther – oder die jeweils entsprechende Persönlichkeit – sei eine Singularität und niemand sonst in der Lage gewesen, seine Rolle mit gleicher Intensität einzunehmen.

Was gewesen wäre, steht bei Lösch gleich im ersten Satz: „Wäre Luther nicht gewesen, wäre die Geschichte friedlicher verlaufen.“ Das ist eine steile These und nicht Luther macht sie steil, sondern „die“ Geschichte. Es mag nämlich gute Gründe geben, anzunehmen, daß die unmittelbar folgende Geschichte ohne Luther friedlicher verlaufen wäre, aber Lösch übersieht hier, daß gerade lange friedliche Perioden die umso größere gewaltsame Katastrophe in sich tragen können.

Ob – um es überspitzt zu sagen – ein Sieg Hitlers oder aber seine Niederlage und die danach folgende lange friedliche und demokratische Periode am Ende der Geschichte mehr Gewalt hervorgebracht haben werden, ist noch längst nicht entschieden. Gewalt erschöpft sich nämlich und friedliche Perioden können auch Phasen der Entwicklung und Sammlung von Destruktionsmitteln sein, die dann, wenn der Frieden vorbei ist, umso grausamere Folgen zeitigen können. Gerade in sogenannten friedlichen Phasen – ich denke, wir sind gerade Augenzeugen eines solchen Vorganges – sammeln, summieren und bündeln sich die inneren Widersprüche, einer gigantischen Magmakammer über einem toten Vulkan vergleichbar.

Man kann freilich auch der Idee eines „Ewigen Friedens“ anhängen.

Konkretisieren wir Löschs Frage also auf die der Reformation unmittelbar folgenden Zeiten. Dann kann er einiges an starken Argumenten vorführen. Immer wieder und sehr ausführlich verweist er auf den breiten Strom an langsamen Veränderungen, die vor allem Renaissance und Humanismus, aber auch Wissenschaft und Technik hervorbrachten. Auch die Suche nach einer neuen Kirche sei bereits vor Luther an einem „point of no return“ angelangt gewesen. Fast alles, was Luther gedacht und geschrieben hatte, war andernorts bereits vorformuliert worden. Hus und Wyclif, Ockham und Erasmus, Savonarola oder Pico della Mirandola … und auf der Insel hatte es Heinrich VIII. sogar vermocht, eine eigene von Rom unabhängige Kirche zu gründen, die, hätte es Luther und also den kontinentalen Protestantismus und Calvinismus nicht gegeben, gut und gerne auch auf den Kontinent hätte übergreifen können. Und mit der oströmischen Kirche – auf die auch Herrmann immer wieder verwies – hatte es ein relativ beruhigtes und friedliches Christentum, das „der normativen Kraft des Faktischen gefolgt“ sei, gegeben.

Diese Entwicklungen wären in einem quasi evolutionären Prozeß nicht mehr aufzuhalten gewesen, aber „dann kommt Luther und dreht die Zeit zurück“. Luther erscheint hier also gerade nicht als Revolutionär[2] oder Reformator, sondern als Reaktionär. Luther führt zurück in die Vergangenheit, er „beschert der Unbarmherzigkeit des Mittelalters eine Renaissance“. Ohne seine Unnachgiebigkeit, ohne seine wachsende theologische Intoleranz, ohne seine Haßschriften gegen die aufständischen Bauern oder gegen die Juden usw., ohne seine Radikalisierung hätte es – so meint Lösch – den Bauernkrieg, den Hugenottenkrieg und auch den ersten Weltkrieg, den Dreißigjährigen Krieg, nicht gegeben.

Es gab unter den Reformatoren der Zeit keinen zweiten Luther. Die hinter ihm stehenden Kräfte, wie Erasmus oder Melanchthon, waren sanfte Gemüter, sie hätten nicht revolutioniert, sondern wahrlich reformiert.

Stimmt das? Tatsächlich ist die Liste der Radikalen lang, man denke nur an Müntzer, an Karlstadt, an die Wiedertäufer … sie sind freilich alle nachlutherisch und just durch seine Schule gegangen. Aber auch vor Luther gab es mehr als genug Radikale: György Dózsa oder die Hussiten nach Hus etwa. Sie werden heute in den jeweiligen Ländern als Helden verehrt. Umgekehrt wurden frühere Bauernaufstände, z.B. der des Pfeifers von Niklashausen oder des Bundschuhs, auch ohne Luthers Haßschriften äußerst brutal und unnötig grausam niedergeschlagen. Lag gewaltsamer Umgang also nicht in einer rohen und grobianisch geprägten Welt voller gravierender sozialer Unterschiede, voller Armut und Elend, nicht in der Luft?

Und die Katholische Kirche sieht Lösch am Abgrund, in den sie nur nicht stürzte, weil Luther ihr ein Problembewußtsein zurückgegeben habe, worauf sie sich zumindest partiell reformieren konnte. Ohne Luther hätte sie diese Kraft wohl nicht aus sich selbst heraus schöpfen können, hätte sie durch Stagnation und im Kampf mit den aufkommenden Nationalstaaten an Einfluß verloren. Dahinter steckt der berechtigte dialektische Gedanke, daß Widerstand immer auch das Widerstandene trainiert.

Lösch kommt sogar zu dem Schluß: „Seit Luther entscheidet die Frage nach der richtigen Weltanschauung über Leben und Tod, sie bringt eine Verhärtung der Fronten und daraus die blinde Verfolgung Andersgläubiger. Und das reicht bis zu Adolf Hitler und Joseph Stalin und darüber hinaus“. Hier finden wir die seit Lukács bekannt gewordene Denkfigur der „Zerstörung der Vernunft“ auf dem „Weg der Irrationalität“ vor. Was „irrational“ ist, entscheidet dabei immer der Richter.

Und das, obwohl Lösch dem Leser im Mittelteil seines Buches sehr ausführlich die Fülle der geistigen Bewegungen der Zeit vorführt. Es hätten unzählige Kräfte sein können, die das Glas zum Überlaufen brachten, aber es war Luther. Er war der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort – in Löschs Sicht muß man das erste „richtig“ mit „falsch“ ersetzen. Denn ohne ihn wäre die Reformation ebenso gekommen, nur sanfter, und Luther hat sie eher beendet denn initiiert. Er hat einen alten Dogmatismus durch einen neuen ersetzt – wieder ist es die konkrete Person, die hier nahezu allein Geschichte geschrieben hat.

Ich meine hingegen, daß die Geschichte die Personen schreibt, die Geschichte schreiben, und auch die, die die Geschichte schreiben.

Es ist letztlich Luthers Temperament, das die kommenden Jahrhunderte diktiert. Ihm ist auch seine theologische Unnachgiebigkeit, sein theologischer Absolutismus, dieses sola fide, zuzuschreiben. Außerdem hatte er die beeindruckende Gabe, den Sound der Zeit in seiner Sprache aufzunehmen. Vor allem der Buchdruck – ohne ihn wäre Luther nicht möglich gewesen – fungierte als Verstärker. Selbst seine Bibelübersetzung wurde zu Sprengkraft und das, obwohl es bereits gleichwertige Arbeiten gab, die heute niemand mehr kennt. Es ist die Frage nach dem Kairos.

Aber nicht nur die Klarheit, sondern auch die Unklarheit werden gegen Luther aufgefahren. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan, schreibt Luther. Aber er fügt hinzu: ein Christenmensch sei ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Ein subtiler zweischneidiger Freiheitsbegriff, den die Bauern nicht verstehen und folglich nur einseitig auslegen konnten; sie sahen nicht, daß Luther „in seiner Kriegsführung mit Rom ausschließlich gegen eine religiöse Obrigkeit angestürmt war“. „Luther verlangt von den Aufständischen das richtige Verständnis seiner Suggestivvokabeln. Seine Vokabeln sollen ausschließlich auf den Glauben zielen und nur im Glauben verstanden werden.“

Was Lösch hier unausgesprochen fordert, ist das Einknicken der erkannten Wahrheit – das kann auch irrtümlich sein – vor der Realität, vor den Konsequenzen. Es wäre demnach besser, in der Unwahrheit zu leben, als durch Erkenntnis bestimmte Ereignisse zu ermöglichen. Der Gedanke krankt an der Vorstellung, es könnte eine Geschichte ohne Ereignisse geben, als könnte ein Mensch jemals die Richtung der Geschichte voraussehen und sie aus dieser Voraussicht auf ein bestimmtes Ziel hin – in Ewigkeit – ausrichten.

Hinter allem steht der Freiheitsbegriff, der es auch den Heutigen erschwere, Luther zu verstehen. Sprechen wir von Freiheit, dann meinen wir die „Freiheit zu“, Luther aber sprach von der „Freiheit von“, „der inneren Freiheit, die aus innerem Frieden und dem Glauben erwächst“. Anhänger dieses Freiheitsbegriffes wirken auf den modernen Menschen befremdlich und gerade unfrei, dogmatisch – sie werden bekämpft, weil sie den Grundwert der Demokratie angreifen. Denn auch aus der „Freiheit von“ folgt das strikte Reglement der „Freiheit zu“.

„Luthers Mensch ist nicht frei. Er ist von Gott gelenkt und von Gott bestimmt, nicht aus sich, aus eigenem Können und eigener Moral. Moral ist Luther egal, unbedingter Glaube – darum geht es.“ – Das umschreibt die Unzeitgemäßheit Luthers.

Löschs Argumentation krankt an einem immer wieder auftretenden Paradox, das sich aus der Vermischung der historischen Horizonte ergibt. Es ist durchaus korrekt, in Luther diktatorische Züge auszumachen. Die Person war – übrigens war er auch als warmherziger und fürsorglicher Mensch bekannt – zunehmend unnachgiebig und intolerant geworden. Und sie hat sich mit steigendem Machtbewußtsein, mit wachsendem Bekanntheitsgrad direkt in allerlei unmittelbare große und kleine politische Händel eingemischt – das ist ein ganz untrügliches Zeichen des Diktators. Sie sind in der Regel „in engen Räumen denkende Menschen“, meinen aber, alle Probleme selbst lösen zu können.

Bereits bei Lenin haben wir gesehen[3], daß diese Entgleisung umso zwangsläufiger ist, je mehr man von Inkompetenz umgeben ist. Luther hatte demnach „die verworrene Interessenlage der einzelnen Klassen und Schichten“ nicht verstanden und auch gar nicht verstehen können.

Andererseits meint dieses falsche Denken – ich spreche von Lösch – aber auch, daß die Überwindung des Feudalismus und der Monarchie, die 300 bzw. 400 Jahre dauerte, von Luther deutlich gebremst worden sei, denn ohne ihn, ohne die auch von ihm zu verantwortende Niederlage der Bauern, wäre die deutsche Geschichte wohl „schneller und leichter vorangegangen“.

Es gehört zu den wesentlichen Erkenntnissen Marx‘, daß eine Gesellschaftsformation erst dann abtreten kann, wenn ihre inneren ökonomischen Widersprüche so weit gereift und die Möglichkeiten einer Alternative so weit gediehen sind, bis sie zu stark werden – der Feudalismus kann demnach erst verschwinden, wenn andere Wirtschaftsformen sich in seinem Inneren durchgesetzt haben.

Dieser Prozeß ist mächtig und bedächtig und transzendiert das Individuum und hieße es sogar Luther.

Wir sind wieder bei der Frage nach dem Verhältnis von Persönlichkeit und Geschichte. Lösch stellt hier faszinierende Fragen und gibt streitbare Antworten, die freilich alle auf einer Überhöhung der Person basieren. Die historische Person ist jedoch nichts ohne die sie umgebenden gesellschaftlichen Bedingungen. Es mag vor und nach Luther hunderte andere Luther gegeben haben – die meisten bleiben namenlos, die wenigen anderen wurden Fußnoten der Geschichte. Sie waren vielleicht große Personen, Denker, Strategen …, aber sie wirkten am falschen Ort zur falschen Zeit oder es mangelte ihnen am Glück, am Kairos. Sie waren in der jeweiligen Entwicklungsperiode einfach nicht möglich. Sie paßten nicht perfekt zur Situation, entweder im Denken oder im Temperament oder vielleicht auch nur in der physischen Erscheinung – es ist immer ein Konglomerat aus unzähligen Faktoren, die erst im Nachhinein begriffen werden können.

Man darf dabei auch nicht nur an Progressisten, Revolutionäre oder ähnliches denken. Die Monarchiegeschichte etwa kennt unzählige Beispiele von historischen Versagern, Schwächlingen, Dummköpfen …, die ebenso geschichtsprägend – auch im Sinne der Verschleppung – wurden. Auch sie konnten es nur sein, weil die Bedingungen es ermöglichten. „Die“ Geschichte kennt keine wertende Unterscheidung von Fortschritt oder Stagnation und Rückschritt – nur die Geschichtsschreiber meinen diese zu kennen.

Geschichte bewegt sich in diesem Spannungsfeld aus historischer Determination und Spontaneität, Unvoraussagbarkeit. Erklären kann man sie immer erst, wenn der Gesamtprozeß beendet ist – also nie.

Literatur: Michael Lösch: Wäre Luther nicht gewesen. Das Verhängnis der Reformation. Ein Thesenbuch. München 2017
[1] Herr Herrmann – er möge mir mein Schweigen verzeihen – hatte mir daraufhin sehr wohlwollend geschrieben und folgende Ergänzung gemacht: „Die ‚Feststellung, Luther ist schuld‘, die Sie dem Buch zu entnehmen scheinen, würde ich übrigens so nicht formulieren wollen. Mir geht´s nicht so sehr um die Person Luther, sondern um ein geistiges Setting, eine Mentalität, die sich auf die Gnade (Gottes) beruft und à la longue der Gnadenlosigkeit zuarbeitet, wenn dieser aus dem Spiel genommen wird.“
[2] Im Sinne des Fortschritts, wohl aber im Sinne des Umsturzes.
[3] Siehe auch die Diskussion zu Fundstücke LXIX

siehe auch: Luther als Schicksal

Luther der Deutsche

Luther als Prinzip

Zum Reformationstag

 

7 Gedanken zu “Die Welt ohne Luther

  1. Es ist klar, dass die großen Lehrer, Stifter und Propheten – Luther und Marx, Jefferson und Nietzsche, Johanna und Greta – notwendig dessen in der Welt bedurften, was es ihnen erst erlaubte, groß zu werden in den Augen der Welt: der ethnokulturellen Vorstimmungen im Volk, des fühlend bereits für richtig Gehaltenen, auch der ökonomischen und politischen Verhältnisse. Die Großen sind daher – lediglich, und genauso notwendig – gleichsam Kristallisationskeime des neu zu Denkenden, was bisher seinen wirklichen Ausdruck nicht gefunden hat. Der Geist des Protestantismus bestand schon vor Luther, Calvin und Zwingli und wurde von ihnen lediglich in Worte und Handlungen, in Formen gefasst. Ohne seine Formen hätte dieser Geist, wiewohl etwas anders und vielleicht schwächer, in Vielem wesentlich doch ebenso gewirkt.

    Konkret: Die Kritik an der – prototypisch jüdischen – Werkgerechtigkeit ist im jesuanisch-paulinischen Christentum von Anfang an vorhanden gewesen, sodass sie gegenüber dem Ablassunwesen einer fett und faul gewordenen Kirche lediglich erneuert werden musste, durch die Rückkehr zur Schrift. Es sind nicht mehr die bloß äußerlichen Werke des Gesetzes, die uns vor Gott und in der menschlichen Gemeinschaft rechtfertigen (Gott das Über-Wir der Gemeinschaft), die also unsere Daseinsberechtigung vor und in ihnen beweisen. Vielmehr müssen wir uns innerlich auf Gott und die Gemeinschaft einstellen und hinordnen, oder sola gratia einstellen lassen, auf dass wir mit einer sola fide gewonnenen Kraft auf Gott und die Gemeinschaft hin leben können. Selbstverständlich ist (unter sonst gleichen Umständen) eine Gesellschaft, die auf innerer Treue ihrer Glieder baut, stärker als eine, deren Einzelne bloß äußerlich Loyalität bekunden, während sie ansonsten ihren egoistischen Interessen auf Kosten der anderen folgen.

    Wenn nun auch heute, in der Zeit von Greta und Rakete, ein neuer Ablasshandel besteht und eine neue Werkgerechtigkeit sich durchgesetzt zu haben scheint, so herrscht unter den Guten und Gerechten doch das Prinzip des sola fide. Es kommt letztlich nicht auf meinen tatsächlichen CO2-Verbrauch an (Grünwähler haben bekanntlich den höchsten), sondern allein darauf, mit welcher Haltung ich zur menschengemachten Klimakatastrophe stehe, als Gläubiger oder als Leugner. Die guten Werke, oder die Versuche, gute Werke zu tun, folgen bloß aus meiner guten Haltung, sind aber für meine Rechtfertigung in der Gemeinschaft weder hinreichend noch notwendig.

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  2. Michael B. schreibt:

    > Es gehört zu den wesentlichen Erkenntnissen Marx‘, daß eine Gesellschaftsformation erst dann abtreten kann, wenn ihre inneren ökonomischen Widersprüche so weit gereift und die Möglichkeiten einer Alternative so weit gediehen sind, bis sie zu stark werden – der Feudalismus kann demnach erst verschwinden, wenn andere Wirtschaftsformen sich in seinem Inneren durchgesetzt haben.

    Ich hatte das Pech, waehrend meines Studiums bei dem Doktorvater von Rudolf Bahro Vorlesungen zur „Politische[n] Oekonomie des Sozialismus“ besuchen duerfen zu muessen. Auf meine Frage, wie die Russen es geschafft haetten, die nach dem eigenen Stufenmodell des Marxismus notwendige Stufe des Kapitalismus zu ueberspringen und unmittelbar vom Feudalismus in den Sozialismus ueberzugehen bekam er einen veritablen Schreikrampf und versuchte mich spaeter unter Umgehung aller Regeln aus meinem Mathematikstudium ‚herauszupruefen‘. Nach der Wende warf er sich vor einen Zug. Selbst bei DDR-kritischen Zeitgenossen galt er uebrigens als jemand, der ‚moderat‘ waere.

    Abgesehen von dieser Anekdote: Es waere genauer zu ueberpruefen, welche oekonomischen Veraenderungen in welcher Situation wirklich vorliegen und durchaus auch, ob es ausschliesslich oder ueberhaupt diese sind, die fuer konkrete Veraenderungen verantwortlich sind. Im vorliegenden Fall ist schon allein die Forderung ueber das ‚Innere‘ stark zu bezweifeln. Es ist einfach zu sehen, dass die Geschichte jede Menge Beispiele an ‚ausseren‘ Einfluessen bereithaelt, die funktionierende Gesellschaften vom Erdboden getilgt haben ohne dass sich dort im Inneren irgendetwas Anderes im Sinn neuer Wirtschaftsformen auch nur angedeutet haette.

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    • @ Michael B.
      Selbstverständlich können Gesellschaften durch äußere Einflüsse – etwa durch Naturereignisse – verschwinden. Das liegt daran, weil „Natur“ immer der größere Bezugsrahmen ist und „Gesellschaft“ stets nur innerhalb von „Natur“ existieren kann. „Verschwinden“ meint hier aber nicht zerstören, sondern „sich wandeln“ und „Gesellschaft“ meint hier nicht historische Gesellschaften, sondern Gesellschaftssysteme. Es mag ein Land oder ein Reich durch Naturkatastrophen verschwinden, aber das es beherrschende Wirtschaftssystem verwindet damit keinesfalls.

      Die Schwierigkeit liegt nun tatsächlich darin, „genauer zu ueberpruefen, welche oekonomischen Veraenderungen in welcher Situation wirklich vorliegen und durchaus auch, ob es ausschliesslich oder ueberhaupt diese sind, die fuer konkrete Veraenderungen verantwortlich sind.“ Das umschreibt einen großen Teil der politökonomischen Auseinandersetzungen.

      Daran hat sich Bahro bekanntlich selber sehr intensiv beteiligt, sowohl in der „Alternative“ als auch der „Logik der Rettung“. Seine erste Analyse war weitgehend korrekt, verfehlte aber den Kairos; seine zweite kam zum richtigen Zeitpunkt und stellte auch die notwendigen Fragen, verkannte aber die gesellschaftliche Realität, den „Bewußtseinszustand“ der Menschen.

      PS: Soweit ich informiert bin, scheiterte Bahro in der DDR mit seiner Dissertation – „Über die Entfaltungsbedingungen der Hoch- und Fachschulkader in volkseigenen Betrieben der DDR“, im Westen dann unter „Plädoyer für schöpferische Initiative“ erschienen -, der man die „Wissenschaftlichkeit“ absprach … natürlich aus ideologischen Gründen. Obwohl sie sich des üblichen Jargons bediente, sprengte sie bereits den Rahmen des Sagbaren. Wer war der „Doktorvater“?

      @ Pérégrinateur

      „Wann hätten Bauern je dauerhaft gewonnen?“

      Man könnte zynisch antworten: Im Arbeiter- und Bauernstaat.

      Warum diese Art von Aufständen in der Regel scheitern müssen, hatte bereits der Spartakusaufstand exemplarisch vorgeführt. Es fehlt diesen aus der unmittelbaren Not geborenen Volksaufständen immer an der Programmatik und an der politischen Organisation. Hätten die Sklaven Rom tatsächlich niedergerungen, dann hätten sie die gleiche Gesellschaft von Neuem aufgebaut. Nur würden sie dann im Circus Maximus gesessen haben und hätten den Patriziern beim Zerhauen zugeschaut.

      Oder aber sie verlieren, und haben damit die alten Herrschaftsverhältnisse nur trainiert.

      Warum aber hatten sie keine Vision und keine politische Organisation? Weil sie Kinder ihrer Zeit waren, im gesellschaftlich bedingten Ideologiekäfig denkend. Es brauchte eben tatsächlich die notwendige ökonomische Entwicklung als Voraussetzung, um den Aufstand von unten erfolgreich durchführen zu können. Dieser machte auch erst die Idee einer Partei möglich, die die vermeintlichen Interessen vertreten konnte. In dieser Analyse sollte man nicht hinter Marx zurück gehen.

      Gänzlich unabhängig davon ist die Frage zu durchleuchten, weshalb der utopische Teil, also die Schlußfolgerungen aus der Analyse, gescheitert ist und scheitern mußte.

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      • Pérégrinateur schreibt:

        Selbst wenn die römischen Produktivkräfte ausreichend entwickelt gewesen wären und alle Sklaven fleißig die Scintilla gelesen hätten, sollte man nicht annehmen, dass die Sklaven selbstverständlich im Sinne einer Menscnheitsmission gehandelt hätten. Spinozas « passions tristes ;» spielen oft entscheidend mit, man will oft vor allem anderen sein Mütchen kühlen.

        Ich erinnere mich dazu an stets wiederkehrende Diskussionen mit der feministischen Lebensgefährtin eines Studienfreundes, der man Mal um Mal ihren unlogischen Kokolores – Zwischen Männern und Frauen gibt es keinerlei Unterschiede, und wenn die Frauen bestimmen könnten, dann würde alles dank der weiblichen Werte besser auf der Welt usw. – widerlegen konnte. woraufhin der leidenschaftsbeglaubigt eigentliche Wunsch zu Sprache kam: „Jetzt sind mal die Frauen dran!“ (Nämlich auszuteilen.)

        Bei der von Europäern (anderswo war und ist man in dieser Sache weniger eifrig) betriebenen Abschaffung der Sklaverei jedenfalls spielten starke ideologische Gründe mit hinein (religiöse Dissenters usw.) und vor allem auch externe Einwirkung auf die Gebiete mit Sklaverei.. Die in den US-Südstaaten, welche nachher ökonomisch in ein Loch fielen, war jedenfalls bis zuletzt hoch profitabel. Die Sklaverei wurde sehr oft mit der fremden Zange abgeschafft, ohne dass im Bauch der alten Gesellschaft auch nur der Embryo der neuen sich selbständig entwickelt hätte. Man sollte den Marxschen Phasenmodellen gehörig misstrauen.

        Antwort auf den letzten Abschnitt: Weil, wenn die Produktionsmittel in Gemeineigentum sind, gewöhnlich völlig unzureichend investiert wird. Weil die Politikaster an alles ihre ideologische Schablone anlegen und im Falle des Scheiterns sich dieses nicht eingestehen können, sondern dann lieber in eine Interventionsspirale eintreten, die alles noch viel übler macht, so dass am Ende dann vielleicht sogar noch Spione und Diversanten bekämpft werden müssen, nur von welchen allein doch das Scheitern verursacht werden sein kann. Wir können ja jetzt wohl life verfolgen, wozu sich der Berliner Mietendeckel noch auswächst! Dabei hätten wir doch schon die Energiewende, die Eurorettung u. a.

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      • Michael B. schreibt:

        . Wer war der „Doktorvater“?

        Ich habe gerade Urlaub mit haengender Netzverbindung, erst einmal nur das. Es war ein ML-Professor der damaligen TH Merseburg. Der Name fiel mir nicht mehr ein, sonst haette ich ihn gleich genannt. Es war zwar einer von mehreren DDR-spezifischen Stolpersteinen, hat mich aber eigentlich nicht soweit interessiert, dass das haengenbleibt. Ich denke aber, der Mann hiess Bohring.

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        • Michael B. schreibt:

          > Bohring

          Ich hab mal etwas gegoogled und lag wohl nicht falsch. Der Bohring war Erstbetreuer von Bahros Dissertation A und die bekam kam sogar noch ein Gutachten durch ihn (‚cum laude‘). Dann kamen andere Kraefte zum Zug. Die Arbeit war also sogar fertig, der Doktorvater schaffte es sozusagen nicht mehr bis zur Entbindung und erging sich im weiteren Verlauf in parteitypischer Selbstkritik.

          Seidwalk: Danke!

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  3. Pérégrinateur schreibt:

    Wann hätten Bauern je dauerhaft gewonnen? Einige chinesische Dynastien sind wegen Bauernaufständen untergegangen, denen es aber nur gelungen ist, eine neue Herrschaft auf den Thron zu bringen, worauf dann das Spiel von neuem begann. Übers Land verstreute und schon durch ihre WIrtschaftsweise daran gefesselte Bauern können zentralisierter, organisierter Herrschaft nie lange widerstehen.

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