Ursache und Wirkung – ein Lehrstück

Wir wissen nicht, was wir tun

Vor zehn Jahren steckte ich eine fingerdicke, ein Meter lange Weidenrute in die Erde. Sie war Teil einer aus Naturmaterialien geflochtenen Begrenzung für einen kleinen Komposthaufen in unserem Garten. Schon wenige Wochen später hatte der dünne Stab kleine Sprossen ausgetrieben. Ich sah’s mit Lust. Denn Leben und leben lassen ist das Motto für den Garten. Mein Ziel: die Schaffung verschiedener kleiner Biotope für alles, was kreucht und fleucht und fliegt.

Im Jahr darauf wurden aus den kleinen Trieben Äste. Und dieser wurden zu Zweigen und aus der Rute wurde über die Jahre ein Stamm.

Zehn Jahre später – das war letzte Woche – hatte sich der Weidensproß zu einem zehn bis zwölf Meter hohen, in fünf mannsdicke Arme verzweigten großen Baum gemausert. Ich mochte ihn, denn er rauschte gewaltig im Wind und auch die Vögel steuerten ihn mit Vorliebe an. Im Sommer saß dort besonders gern die Mönchsgrasmücke und sang ihr betörendes Lied.

Aber der Baum nahm den Nachbarn die Abendsonne und im Frühjahr fielen seine flaumigen Fruchtstände, im Herbst seine Blätter in Nachbars Garten.

Der Baum mußte weg und da er seine unglaubliche Vitalität schon zur Genüge unter Beweis gestellt hatte, mußte er auch zur Gänze weg – jede Kosmetik hätte das Procedere nur alle paar Jahre wiederholen lassen und der Stamm wäre dann dick wie zwei Mann geworden.

Es brauchte eine Leiter, eine richtig lange und stabile Leiter. Ich fragte bei den Nachbarn, aber es war keine aufzufinden, nur der äußerste Nachbar hatte wiederum einen Nachbarn, der eine solche Leiter – acht Meter lang – besaß. Jener war aber nicht zu Hause, dieser wiederum glaubte, daß jener nichts dagegen habe und brachte also die Leiter eines Nachbarsnachbarn, den ich selbst gar nicht kannte.

Zusammen mit einem weiteren, einem unmittelbaren Nachbarn machten wir uns ans Werk – es brauchte zwei volle Tage, den Baum in seinen fünf Stämmen und zahllosen Ästen in schwierigem Gelände von oben nach unten zu zersägen und weitere drei, alles zu stapeln, zu schreddern usw.

Dabei fiel ein schwerer Ast – Weide im Saft springt wie Glas – auf die Leiter und verbeulte sie. Ein anderer widerstand allen Berechnungen und Versuchen, ihn in eine Schneise zu ziehen und krachte auf ein kleines Gewächshäuschen, in dem in normalen Jahren unsere Tomaten reifen. Die Ligusterhecke am Grundstücksrand ist vollkommen zerzaust und wird ein paar Jahre benötigen, sich wieder zu erholen, ein selbstgebauter Gartenzaun wurde beschädigt. Und zwei, drei Mal konnte ich von Glück reden, die waghalsigen Leiter- und Kletteraktionen mit Motorsäge gesund und lebendig überstanden zu haben.

Hätte ich mich informiert, hätte ich vor zehn Jahren einen Moment nachgedacht, hätte ich die ersten Warnzeichen lesen wollen, hätte ich es unterlassen, jedes Jahr neu zu rationalisieren, hätte ich mir angewöhnt und den Mut gehabt, die kommenden Probleme zu sehen, statt dem Gesang von Bluthänfling und Mönchsgrasmücke, der Vielfalt verzückt zu lauschen, dann hätte das alles vermieden werden können. Ich müßte nun nicht eine teure Leiter reparieren lassen, müßte nicht die Hausratversicherung bemühen, hätte den peinlichen Canossagang zum Nachbarsnachbarn – der zu allem Überdruß auch noch in geselliger Runde saß – gehen müssen, das Häuschen würde noch stehen, die Hecke wäre wohlauf und mein Garten läge jetzt nicht voller Holz und Laub. Statt tagelanger Arbeit hätte ich – wie ich es eigentlich vorhatte – mein Buch lesen können und auch diesen Artikel hätte ich nicht schreiben können.

Aber das ist immerhin das Gute am Schlechten. Man lernt, das Menschliche, sein Ungenügen, seine Fehlerhaftigkeit, seine mangelnde Perspektive, ja, seine Dummheit, zu verstehen und könnte aus den Fehlern sogar lernen, wenn man denn – kein Mensch wäre.

4 Gedanken zu “Ursache und Wirkung – ein Lehrstück

  1. Flugling schreibt:

    Schade um die schöne Weide, die mancherorts schon zu den bedrohten, weil „nutzlosen“ Arten zu zählen ist. Die flaumigen Fruchtstände gibt es übrigens nur an weiblichen Weiden. Männliche Weiden tragen nur Blüten, die den Insekten den ersten Pollen liefern. Was davon herunter fällt, lohnt sich kaum zusammen zu kehren. Weiden kann man übrigens radikal herunter schneiden (Beisp. Kopfweiden). Vielleicht hätte sich der Baum durch Höhenregulierung retten lassen. Im Jahr danach gibts dann allerdings keine Blüte und auch keine flaumigen Früchte. Diese Nutzung der Feldgehölze versorgte übrigens seit ewigen Zeiten Bauernhöfe und Haushalte mit dem nötigen Brennholz.

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  2. Giuseppe Bottazzi schreibt:

    @seidwalk

    „… hätte ich mir angewöhnt und den Mut gehabt, die kommenden Probleme zu sehen, statt dem Gesang von Bluthänfling und Mönchsgrasmücke, der Vielfalt verzückt zu lauschen, dann hätte das alles vermieden werden können. Ich müßte nun nicht eine teure Leiter reparieren lassen, müßte nicht die Hausratversicherung bemühen, hätte den peinlichen Canossagang zum Nachbarsnachbarn – der zu allem Überdruß auch noch in geselliger Runde saß – gehen müssen, das Häuschen würde noch stehen, die Hecke wäre wohlauf und mein Garten läge jetzt nicht voller Holz und Laub. Statt tagelanger Arbeit hätte ich – wie ich es eigentlich vorhatte – mein Buch lesen können und auch diesen Artikel hätte ich nicht schreiben können. …“

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    Bei einem Nachbarn, der die Freude am Gesang und der Gegenwart von Mönchsgrasmücke und Bluthänfling teilt, nicht nur die Abendsonne, sondern auch einen in sommerlicher Hitze durch Wasserverdunstung in seiner unmittelbaren Nähe für eine gewisse Kühle sorgenden Schattenspender zu schätzen weiß, oder auf einem weiträumigen, gar solitären Grundstück ohne unmittelbaren Nachbarn, hätte die prächtige Weide weiter gedeihen können, während Sie sich in die Lektüre Ihres Buches vertiefen …

    Seidwalk: Das stimmt wohl – aber es stimmt auch, daß Menschen nun mal so sind, wie sie sind – und jeder anders. Es gab hier den Konflikt zwischen Erhalt eines geliebten aber nicht unentbehrlichen Baumes und dem potentiellen Konflikt mit dem Nachbarn, mit dem man sich sonst ganz gut versteht und dessen Sicht auf die Dinge in diesem Falle, aus seiner Perspektive, nachvollziehbar war. Die Antwort war recht einfach: Immer für die Souveränität der Grundstücke, für friedliche Koexistenz im Europa der Nat… eh, im Wohnviertel der Familien mit gepflegten – übrigens von uns nicht aufgestellten und abgelehnten – Gartenzäunen.

    Giuseppe Bottazzi: Meine noch vom Vorbesitzer des Hauses, vermutlich irgendwann während der 1990er Jahre gepflanzte Weide überragt das Haus indessen zwar bereits ein wenig, scheint aber längst nicht von solch strotzender Vitalität zu sein, wie die Ihrige nunmehr zu Kleinholz verarbeitete.

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  3. Helmut Lethen schreibt:

    Das liest sich wie eine slapstick-Komödie, man kann aber im hHandumdrehen ein allegorisches Bild daraus machen. In Maarssembroek hatten wir einen kleinen Garten am Entwässerungsgraben, ich steckte eine Weidenzweig an den Grabenrand ,10 jahre später …siehe seidwalk, der Garten im Schatten . Nach Verkauf des Hauses organisierte der neue Besitzer einen Bulldozer, der die Sache mit der Weide erledigte.

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    • Ja, so ging es uns in England auch. Dort hatten wir einen gar lieblichen Garten angelegt bzw. vom Vorbesitzer übernommen und gepflegt. Viele kleine features, Ecken, seltene Obstbäume, ein romantisches Greenhouse, ein kleiner Teich, vorm Haus eine wundersam verwachsen sizilianische Akazie, die im Frühjahr zitronengelb blühte und die Bienen fast zum Wahnsinn trieb …

      Es zog eine junge dänische Familie ein. Zwei Jahre später schauten wir noch einmal vorbei: Haus und Garten komplett umgebaut. Die Hälfte des Gartens mußte einer typisch dänischen Großveranda weichen, die andere Hälfte war ein einheitsgrüner Sportrasen in dessen Mitte ein enormes Trampolin stand. Alle Bepflanzung war exterminiert worden. 50 Jahre englischer Gartenbaukunst – deren letzte Verwalter wir waren – ausradiert.

      Die Eltern Globetrotter, Anywheres, ohne Wertempfinden für Gewachsenes, die nicht mal Zeit hatten, ihre eigenen Kinder zu betreuen, weil heute in Stockholm, morgen in Hongkong oder in der Zentrale in London und am WE machte man schnell einen Familienausflug an die Côte d’Azur … Sie hatte auch einen Hund, der schon schwer psychisch auffällig, weil er die meiste Zeit allein in diesem Haus eingesperrt war. Ich mußte mit den Tränen kämpfen.

      Sie kennen sicher die morphogenetischen Felder nach Rupert Sheldrake (er war kürzlich auch in Bécs): Habe heute nacht von Ihnen geträumt (wir standen gemeinsam an einem Büfett und erkannten uns nicht), stehe auf und finde Ihre Kommentare vor …

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