The Deep State of Mind

Eine ungarische Deutschlehrerin gibt mir die Hausaufgabe eines Schülers der achten Klasse zum Kontrollesen. Die Schüler sollten eine Phantasiegeschichte schreiben. Diese ging nun wie folgt.

Ein Junge ist in seiner alten Klasse unglücklich – wegen seiner Größe[1] – und wird in eine neue versetzt. Als er das Klassenzimmer betritt, starren ihn alle an und tuscheln. Sofort ist er enttäuscht. Zu Hause fragen ihn die Eltern nach dem ersten Schultag, aber er kann nicht sprechen und läuft weinend in sein Zimmer. Dort öffnet er seinen Schrank. Darin sitzt ein Zauberer – er bekommt einen Wunsch frei. Er wünscht sich, daß ihn seine neuen Mitschüler „so akzeptieren wie er ist, anstatt groß und stark zu werden.“ Und so kommt es dann.

Wir wissen, man kann aus einem Einzelfall keine Gesetze generieren. Dennoch scheint mir diese Geschichte, die übrigens in einem guten Deutsch geschrieben wurde, typisch zu sein.

Sie zeigt, wie linkes, progressistisches, egalitäres Denken über alle Länder- und Gesellschaftsgrenzen hinweg unsere Jugend tief und nachhaltig infiltriert und infiziert hat. Man kann dafür nicht allein deutsche Politik, Kunst- und Medienschaffende verantwortlich machen, man muß vermutlich global denken, um das zu verstehen.

Solch eine Geschichte – das ist meine These – wäre vor 30, 40 Jahren kaum geschrieben worden.

Ich entsinne mich eines Kinderbuches, das ich als vielleicht Zehnjähriger immer wieder gelesen hatte. „Pit und der Zauberstein“ oder so ähnlich – ich finde es nicht mehr. Es ist im Grunde genommen die gleiche Geschichte eines Jungen ohne echtes Selbstbewußtsein. Bei ihm ist es kein Zauberer, sondern ein Stein, den er findet. Und dieser Stein gab Pit Kraft, so viel, wie er gerade zur anstehenden Aufgabe benötigte. So begann Pit stark zu werden, alle Hindernisse zu meistern, sein Leben einzurichten. Im Grunde genommen wurde diese Geschichte millionenfach und jahrhundertelang in Sagen, Märchen und Legenden aller Völker erzählt.

Aber heute gilt sie nicht mehr. Heute sollen und wollen die Kinder nicht mehr stark, nein, sie wollen in ihrer Schwäche akzeptiert werden. Nicht sie sollen sich ändern, verbessern, aufrichten, sondern sie glauben ein Recht darauf zu haben, daß alle anderen sich ändern. Alle Hindernisse, an denen man sich bewähren, an denen man wachsen könnte, werden aus dem Weg geräumt und dort, wo es nicht geschieht, wird die Toleranz beschworen, die Gerechtigkeit, die Gleichheit als höhere Mächte, als letzte Instanzen, das Grundrecht, nicht ungerecht behandelt zu werden, durchzusetzen.

Wenn wir den globalen Blick beibehalten, dann werden wir ebenso nach Hollywood schauen müssen wie nach Silicon Valley, dann wird man die Technik ebenso ins Visier bekommen wie die Werbeindustrie, die Utopie des freien Westens und die globale Hegemonie linken Denkens.

Nur: welcher Menschenschlag wird da geformt? Wie wird er agieren und agieren können, wenn sich ihm reale Schwierigkeiten in den Weg stellen? Was werden die ohne Zauberer tun?

[1] Noch wissen wir nicht, ob das zu groß oder zu klein bedeutet.

11 Gedanken zu “The Deep State of Mind

  1. Michael B. schreibt:

    Zwei Artikel von heute auf achgut, die zum Thema passen. In Bezug auf die Verfasserin des einen Artikels in ihrer Zugehoerigkeit zur gegenwaertigen Jugend, wie zum Inhalt des Zweiten in Bezug auf den Widerstandswillen eines Landes als Ganzen. Ich denke, man sollte das nicht aus dem Auge verlieren:

    https://www.achgut.com/artikel/wir_riechen_aus_prinzip_nach_kernseife
    https://www.achgut.com/artikel/17._juni_der_gestohlene_ehrentag

    Noch etwas von der Insel (schon etwas aelter) von Pat Condell zur weiteren Entwicklung solcher Jungen an Universitaeten:

    http://www.patcondell.net/dumbing-down-university-2/

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  2. Max Pört schreibt:

    Permanente Akzeptanzprobleme mittels Amoklauf überwinden, oder was schwebt Ihnen vor? Wachsen und überwinden ist schon sehr nebulös angesichts eines Stigmas, das der normfixierte Mainstream ständig zur Zielscheibe nimmt… Dass der Rest der Klasse empathielos ist, sehen Sie wohl nicht bei Ihren philosophischen Anfahrübungen?

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    • Pérégrinateur schreibt:

      Ich kam vor Jahrzehnten außerberuflich mit dem örtlichen Briefträger (das gab es damals noch) ins Gespräch, einem recht einfachen Mann. Er erzählte, in seiner Jugend sei er beständig wegen seiner roten Haare gehänselt worden. Dadurch habe er gesehen, wie vorurteilsbeladen eine Gruppe sein könne und ein gehöriges Misstrauen gegen „was doch schließlich alle sagen“ entwickelt. Auch ein Weg zum eigenen Urteil, gewiss ein gerade für ein Kind schmerzhafter, aber immerhin ein Weg.

      Eine mindere (sicher nicht gewollte, aber in Kauf genommene) Schikane habe ich als Kleinkind im Krankenhaus erfahren. Das Pflegepersonal bestand in starkem Umfang aus Diakonissinnen des alten Schlages, meist vergrämte ältere autoritäre Frauen, die besonders auch die Schwesternschülerinnen in Schrecken hielten. Eines Abends bekam zum Nachtmahl einen Löffel (in Normal-, nicht in Kindergröße, also ohnehin schon zu groß) , dessen Rand offenbar jemand klingenartig angeschärft hatte. Beim Versuch zu essen schnitt er mir in den Mundwinkel. Als die auftragende Diakonissin wiederkam, nannte ich ihr mein Problem, sie meinte aber ungeprüft, Papperlapapp, ich würde nur Geschichten erzählen und Unfug treiben wollen. Wenn ich nichts gegessen habe, dann brauche ich wohl auch an diesem Abend nichts mehr. Und flugs trug sie ab. Sicher keine ernste Sache, aber für mich doch ein erster Keim des Misstrauens gegen Autoritäten, wie ich es jedem nur empfehlen kann. Später kamen noch andere Keime dazu – etwa durch einen prügelnden Lehrer und die Beflissenheit des größten Teils der Elternschaft, das nicht sehen zu wollen.

      Vermutlich kann man auch an seiner Kleinheit wachsen.

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    • Herr Pört!

      Willkommen auf diesem Blog. Sollten Sie weiterhin das Bedürfnis verspüren, an der Diskussion teilzunehmen, dann beachten Sie bitte folgende Punkte:

      1. Mäßigen Sie bitte Ihren Ton!
      2. Lesen Sie zuvor den jeweiligen Artikel.
      3. Versuchen Sie ihn zu verstehen.
      4. Vermeiden Sie Unterstellungen, Projektionen und Eigenphantasien.

      Sonst wird das hier leider nichts!

      Zu Ihren Sachargumenten.

      1. „Permanente Akzeptanzprobleme mittels Amoklauf überwinden, oder was schwebt Ihnen vor?“ – In diesem Artikel schwebte mir gar nichts vor, er sollte lediglich auf eine Paradigmenverschiebung aufmerksam machen. Ein Phänomen aufzeigen und es zu verändern, sind zwei vollkommen verschiedene Dinge. Wenn Sie mich aber nach der Veränderungsmöglichkeit fragten, dann würde ich Ihre Prämisse wie folgt kürzen:Permanente Akzeptanzprobleme mittels Amoklauf
      überwinden.

      Der Wege gibt es viele. Ich kenne selber einige sehr kleine Menschen, die daraus Größe gezogen haben. Alfred Adler hatte dazu eine ausufernde Theorie entwickelt, nach der Physische Besonderheiten – die „Organminderwertigkeit“ – zu Kompensationshandlungen führen und sich in einem gewissen „Geltungsstreben“ äußern. Besagte Personen wurde hervorragende Sportler oder sammelten Doktortitel. Ein anderer, dessen Kleinwuchs körperlich durch anderweitigen Großwuchs ausgeglichen wurde, begann, die Frauen reihenweise zu verwöhnen – jeder nach seinen Fähigkeiten.

      Übrigens ist die Weltliteratur voll von Figuren, die ein körperliches „Handicap“ in eine Stärke verwandelten und die Weltgeschichte ist noch voller. Vermutlich ist sie aber nahezu gesättigt, von Menschen, die sich gern einen Zauberer wünschen, der alle Ungerechtigkeiten wegzaubert, nur erfahren wir von diesen Individuen nichts. Sie machen sich dagegen gern in der Masse bemerkbar, wo sie konzertiert „Sieg Heil“ oder „Rot Front“ o.ä. schreien und dabei seltsame Handbewegungen oder Verbeugungen machen und einem zujubeln, der seine eigene Minderwertigkeit kompensiert hat.

      2. „Wachsen und überwinden ist schon sehr nebulös angesichts eines Stigmas“ – Ein Stigma enthält immer die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Ich halte es da mit Marc Aurel: „Laß die Einbildung schwinden, und es schwindet die Klage, daß man dir Böses getan.“ und: „Nichts begegnet einem, was er von Natur nicht zu ertragen vermag.“ Das sind jahrtausendealte bewährte Lebensregeln und Anstiftungen zur täglichen Übung und die sollten wir nicht leichtfertig einem totalitären und noch vollkommen ungeprüften Gerechtigkeitsbegriff opfern. Auch bei Heidegger – wenn ich meine „philosophischen Anfahrübungen“ fortsetzen darf – kann man unter dem Stichpunkt „Geworfenheit“ Erbauliches finden.

      3. „normfixierte Mainstream“ – auf dieser Basis können wir gerne diskutieren. Aber nur, wenn Sie eingestehen, daß nicht alles per se schön oder gut sein kann.

      4. „Dass der Rest der Klasse empathielos ist, sehen Sie wohl nicht …“
      Das sehe ich einerseits und andererseits nichts. Ich sehe auch, daß Regen naß macht und der Winter kalt ist. Es entspricht nun mal der kindlichen Entwicklung, sich auch erst in Empathie einüben zu müssen. Daß Kinder oft „brutal“ sein können, weiß jeder und jedermann hat kindliche Erniedrigungen und Demütigungen erfahren müssen – ich auch; einige davon haben mich nachweislich sehr geprägt und die Arbeit an der Verwindung ist noch immer nicht beendet. Aber sie muß geleistet werden und ein Fetisch, der mir dabei Kraft gibt, ist hilfreicher, als die Lamentation über das Böse an sich. Die anderen kann ich nicht ändern, aber mich. Deswegen erwarte ich von mir, mit schwierigen Lagen umgehen zu können und warte nicht auf das Wunder der allseits gerechten Gesellschaft. Diese Überzeugung ist im Einklang mit allen Weisheitslehren dieser Welt. Dazu – zur Verwindung – gehört auch ihre Beleidigung der

      5.“philosophischen Anfahrübungen“ – Und wissen Sie was? Sie haben recht! Ich werde es nie über philosophische Anfahrübungen hinaus bringen aber ich werde trotzdem – da es nun mal mein Gebiet ist – weiter üben, üben, üben.

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      • Max Pört schreibt:

        Vielen Dank für die ausführliche Erwiderung. Ich selbst bin nicht so ausdauernd und gekonnt und benenne meinen zentralen Punkt:

        Dieser Junge wünscht sich eben nicht, zu reüssieren, sich herauszustellen, es den anderen zu zeigen… Er wünscht sich eben nicht die Errungenschaft, die ihm hilft, auf die anderen herabzuschauen, so wie sie auf ihn heute herabschauen… Er ist eben kein Profilneurotiker in spe, sondern wünscht sich lediglich Akzeptanz. Das halte ich überhaupt nicht für abwegig.

        Mir gefällt der Gedankensprung nicht, den Sie machen. Der Junge hat keine Schwäche, die es zu überwinden gilt. Er hegt einen Wunsch. Und dieser Wunsch ist ein Zeichen seelischer Gesundheit. Er wünscht sich normales Wachstum.

        Ihrem Text entnehme ich, dass er kämpfen soll. Aber was, bitte schön, ist dann der Sieg? Andere dominieren oder falsche Freunde, die sich im Abglanz einer in der Kompensation erworbenen Kunstfertigkeit sonnen? Oder Konformität?

        Mal ernsthaft: Er wünscht sich für die anderen, dass sie gesunde, mitfühlende Wesen sind. (Denn es ist anzunehmen, dass er sich dasselbe von der Gruppe auch in Bezug auf andere in vergleichbarer Lage wünscht.)

        Diese persönliche (nun stärker herausgearbeitete) Wahrnehmung im Kontrast zum Thema des Beitrages ist der Kern meiner Empörung.

        Der Begriff der philosophischen Anfahrübungen war keinesfalls als Beleidigung gedacht. Er ist vielmehr Ausdruck eines Zeitmangels und meiner Unfähigkeit, Kritik fair und ökonomisch zu formulieren. Ich vermute, dass Sie ein vernüftiger und guter Kommentator sind, in dessen Texten sich genügend Anregungen zu Perspektivwechseln und Ergänzungen des Weltbildes finden.

        Das gibt in der Summe anderswo, oft von Vielen, ot einen bunten Strauß, aber wenn es dann um Probleme oder vermeintliche geht, werden sie immer wieder nur benannt. Leider meistens auch sehr unpräzise und ohne das Thema hin- und herzureflektieren. Und natürlich fast immer ohne Lösungsidee. Wenn sich in der Presse eine Meinung auf die andere bezogen hat, nennt man es schon Debatte und glaubt das Thema ausgeleuchtet und nachvollziehbar dargestellt zu haben. Hinzu kommt der Szenenapplaus der Fans in den Kommentarspalten — und weiter gehts am nächsten Tag mit was völlig anderem. Ein Philosoph dagegen hätte lange Zeit nur einen Artikel in der Walke. (Für eine echte Debatte fehlen sogar noch die Werkzeuge.)

        Letzter Abschnitt wird nächste Woche allen Printmedien als Beilage in Hochglanz mitgegeben und allen inländischen Blogs als Overlay verpasst, mit der Aufforderung zu Kenntnisnahme und Hier klicken!

        Das stößt mir nämlich immer wieder auf.

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        • @ Max Pört

          Es geht mir doch gar nicht um diesen Jungen: er mag sich wünschen, was er will. Es geht mir um das Typische dieser Geschichte, die eine fatale Tendenz jugendlicher Gemüter aufzeigt, die Arbeit an sich selbst aufzugeben und gegen eine ideologisch begründete Forderung an „die Welt“, besser zu sein, umzutauschen. Und unser Erziehungssystem fördert und entwickelt diesen Gedanken. Die Welt ist aber nun mal nicht so. Dort, wo man sie zum Besseren ändern kann, dort soll man es tun – am besten aktiv und nicht durch Warten auf den Zauberer. Aber dort, wo es sich nicht machen läßt, dort hat das Individuum die Pflicht, sich anzupassen, sich zu üben, sich resistent zu machen. Und während Pädagogik diesen einleuchtenden Gedanken und verschiedenen didaktischen Methoden viele Jahrhunderte tradiert hat, wurde dieses gesammelte Wissen in wenigen Jahrzehnten über Bord geworfen und durch eine Ideologie der Allbefreiung ersetzt. Wenn der Junge sich, wie Sie schreiben, Akzeptanz wünscht, so ist er gut beraten, diesen Wunsch in Taten umzusetzen und sich Akzeptanz zu verdienen.

          Das ist doch das Problem Ihrer Herangehensweise. Der Wunsch von den anderen in seinem „Handicap“ akzeptiert zu werden, ändert am „Handicap“ gar nichts. Der Junge bleibt klein – körperlich und vor allem geistig. Wenn er sich die Akzeptanz aber erarbeitet, dann ist er gewachsen auch wenn die Meßlatte keinen einzigen Zentimeter mehr anzeigt. Es versteht sich doch von selbst, daß dies nicht absolut gemeint ist, sondern daß es hier um eine Wechselwirkung geht. Linkes Denken hat diese Spannung aber aufgelöst.

          Die Schwäche des Jungen ist nicht seine Körpergröße, sondern sein Umgang damit. Seine Körpergröße ist ein „Handicap“, aber genau das ist – nach Adler – die Ursache von Stärke oder kann es zumindest sein. Die Notwendigkeit des „Kampfes“ ergibt sich nicht zwangsläufig aus Sieg oder Niederlage – hier ist der Weg das Ziel. Sprechen wir besser von Ringen, um das Martialische zu vermeiden. Im Idealfall wäre das Ergebnis die Individualität, die sich selbst affirmiert. Wie sich das lebensweltlich konkret äußert, das bleibt offen.

          Apropos Affirmation. Der zweite Teil Ihrer Anmerkung überfordert wahrscheinlich das Medium Internet und Blog. Beide verlangen relative Kürze. Es sind an sich unphilosophische Medien. Wenn man allerdings den Draufblick wagt, dann kann man vielleicht doch das große Muster erkennen. Hier z.B. werden – auch von den sehr kundigen Kommentatoren – immer wieder die gleichen Themen und Fragen umkreist und mit immer wieder neuen Aspekten und Nuancen versehen. Mehr kann man sich wirklich nicht wünschen und wenn mich nicht alles täuscht, gibt es nur sehr wenige Seiten, wo das ähnlich bedachtsam funktioniert.

          Der ständige Themenwechsel ist ganz bewußt. Zum einen gibt es ganz verschiedene Leser und unterschiedlichen Interessen und Voraussetzungen, zum anderen sind längere monothematische Beiträge eher wenig geeignet. Es wird hier trotzdem hin und wieder versucht, auch „philosophisches Ge-Walke“, Ge-Seid-Walke zu wagen – ich hänge unten ein paar Beispiele an.

          Ihr letzter Abschnitt erschließt sich mir nicht.

          Über Affirmation

          Über Sprache und Sein

          Über die Geschichte der Zukunft und die Frage der Identität

          Über das Rhizom

          über das Lob der Faulheit

          über das Oblomowtum

          Über das Große Lalula

          über Stefan George
          etc.

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          • Max Pört schreibt:

            Hallo,

            prinzipiell und bin ich mit Ihren abstrakten Ausführungen zum Kämpfen und Ringen einverstanden. Möglicherweise stimmt auch Ihr Befund über die Erziehung zum Unvermögen und zur Anspruchshaltung.

            Allerdings sehe ich den Jungen in einer Falle. Wir wissen nicht, wie hoch sein „soziales Kapital“ bereits ist, und ob es nicht in anderen Konstellationen gewürdigt werden würde. Wir wissen nicht, ob er in der alten Klasse nicht bereits gekämpft oder gerungen hat. Daneben zieht so ein Ringen Ressourcen von den Sachen ab, mit denen man sich eigentlich beschäftigen möchte. Und es ist auch nicht klar, ob dieser Kampf zu gewinnen ist.

            Der Junge muss nämlich _nicht sich überwinden_, sondern die Einstellung der anderen.

            Deren Mangel an Mitgefühl mag auf Erfahrungen der Demütigung beruhen und somit mag die Ausgrenzung als Kompensationsstrategie der Gruppe bestehen bleiben. Bis vielleicht eines Tages ein Ereignis dafür sorgt, dass der Junge akzeptiert wird. Aber wird er sich dann wohler fühlen, alle früheren Demütigungen vergessen, sich sicher fühlen?

            Seine Schulzeit ist für ihn darüber hinaus möglicherweise ein Vorgeschmack auf ein Leben ständiger Ausgrenzungserfahrung.

            Ihr Thema hingegen meint wohl den durchschnittlichen Jugendlichen, der vor kleinen und mittleren Herausforderungen kapituliert, und _über sich hinauswachsen_ ist eine andere Konstellation, und ich finde, dass die Geschichte überhaupt keinen Bezug zu diesem möglichen Mißstand hat.

            Meine Aufgebrachtheit beruhte auf der Wahl des Einstieges und die ungewollte Verächtlichmachung des Problemes (kein Vergleich zu „realen Schwierigkeiten“). (Sie legen da auch noch nach und unterstellen ihm geistige Kleinheit.)

            Mein vorletzter Abschnitt bezieht sich auf die von mir so gefühlte Beinahe-Sinnlosigkeit des Debattenformates (des Protokolls, nicht des Mediums). Mein letzter sollte eine Strategie beschreiben, alle Leser darauf hinzuweisen.

            Und, „wenn er sich die Akzeptanz erarbeitet“, ist er anschließend leer. Und neben dieser Leerstelle wohnt die Verachtung für sein Umfeld.

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            • Sie verstehen leider noch immer nicht. Was Sie als Katastrophenfall entwerfen, sehe ich – und vermutlich ist das konservativ gedacht – als unhintergehbare Lebenssituation eines jeden Menschen. Wir alle sind ständig in „einer Falle“, unser aller Leben ist „ein Leben ständiger Ausgrenzungserfahrung“. Das ist der ontologische Grundbestand menschlichen Daseins. Die Menschen unterscheiden sich nur dadurch, ob sie das erkennen, dann anerkennen (affirmieren) und wie sie damit umgehen. Wer das freilich nicht erkennt – oder „anders sieht“, wie man neutoleranter Weise sagen muß -, dem wird es nicht zu vermitteln sein. Auch diese Einsicht gehört in die „ständige Ausgrenzungserfahrung“.

              Der tiefste ontologische Grund dafür ist unsere Endlichkeit Der Tod und sein arbiträres Erscheinen, das damit verbundene Leid etc. ist die größte aller Ungerechtigkeiten, gegen die manche ankämpfen, Weise aber anerkennen. Aus dieser Einsicht heraus entstanden jahrtausendelang Geschichten wie die mit dem Kraftstein. Heute meint man den Tod (Ungerechtigkeit) überwinden zu könne – hence nisten sich solche Geschichten von „alle-sind-ungerecht-zu-mir, also-müssen-sie-sich-ändern“ ein.
              Wer heutzutage von einer tödlichen Krankheit oder einem Schicksalsschlag heimgesucht wird, stellt sich fast schon automatisch die gleiche Frage wie der Junge (unausgesprochen) in dieser Geschichte: „Warum ich?“ Diese Frage wäre für Menschen früherer Zeitalter vollkommen unverständlich geblieben.

              Es wäre interessant, einmal nachzuspüren, ob Heidegger – von dem wir den Begriff der „Geworfenheit“ haben – mit „Seinsvergessenheit“ nicht just diese Vergeßlichkeit mitintendiert haben könnte.

              Das alles bedeutet natürlich nicht, daß man soziale oder gesellschaftliche Mißstände nicht zu verbessern versuchen sollte. Man sollte aber nicht den Eindruck erwecken, daß man das tatsächlich könne. So wird uns z.B. das pol. Herrschaftsform „Demokratie“ als Lösung präsentiert, so wie man vor Kurzem noch den Staatssozialismus anpries, aber die hier gerade diskutierten Probleme der Menschen sind eben innerdemokratische usw.

              Kurz: Weder das Sein noch das belebte Sein kennt Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist ein (oftmals verderbliches weil zu Ungerechtigkeit führendes) Konstrukt. Das menschliche Sein kennt nur unterschiedliche Umgänge mit Ungerechtigkeit – ein moralisches Wort für die ontologische Kategorie „Differenz“.

              (Mal schauen: wenn es sich anbietet, schreibe ich dazu irgendwann noch mal etwas – bis dahin verbleibe ich usw.)

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    • Stefanie schreibt:

      Sehr geehrter Herr Pört

      Spielen wir das Szenario des kleinen Jungen doch einfach mal weiter: In der neuen Klasse wird er nun akzeptiert, nachdem alle einen Antidiskriminierungskurs besucht und erklärt bekommen haben, daß man niemanden ausgrenzen oder auch nur blöd angucken darf. Es vergeht einige Zeit, der kleine Junge wird etwas größer und verliebt sich in ein Mädchen (bzw. einen Jungen oder etwas diverses – wir wollen ja niemanden ausgrenzen). Doch wie es nunmal so ist, bekommt er eine Abfuhr, läuft weinend nach Hause in sein Zimmer… Was nun? – Soll er sich vom Zauberer aus dem Wandschrank einen Zaubertrank für seine Liebste brauen lassen, um sie rumzukriegen? Oder schicken wir das Mädchen in ein Seminar, wo es lernt, daß „jeder, jedem gehört?“

      Sie sehen die Zumutung, die es für den Jungen darstellt, ausgeschlossen zu sein. Doch eine zwangsweise Inkludierung bedeutet eben für jeden anderen aus der Klasse, bzw. für jeden, der den Weg des Jungen kreuzt eine mehr oder weniger starke Zumutung. Man bräuchte schon eine kräftige Gehirnwäsche (wie derzeit ?), um solche Szenarien in der Breite durchzusetzen.
      Das heißt andersrum aber nicht, daß man dem Jungen alles zumuten muß: bei sich aufschaukelnden Agressionen/Mobbing, kann durchaus ein Punkt erreicht werden, bei dem eine höhere Instanz (Schule/Eltern/Gesellschaft) eingreifen muß.

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  3. Stefanie schreibt:

    Natürlich wird ein Zauberer kommen und Ihnen sagen, daß er sie so liebt, wie sie sind, sie keine Angst haben müssen und alles gut wird, wenn nur erst …
    Andererseits: wenn ich mir gelegentlich Filme mit meinen Nichten im Vorschulalter ansehe, dann sehen die wenigen männlichen Protagonisten neben den starken Mädchen meist aus wie Tölpel (wie der Zauberlehrling) – aus denen werden bestimmt keine großen Zauberer.
    Wahrscheinlich kommt irgendwann die gute Fee.

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  4. Pérégrinateur schreibt:

    Zum Abschluss der Grundschulzeit der Tochter einer Freundin gab es in der Schule eine kleine Feier mit Schülern und Eltern. Die beste Schülerin durfte in diesem Rahmen den Zauberlehrling vorlesen. Die Mutter wunderte sich, wieso man diese Ballade nun gerade bei so einer Gelegenheit darbieten müsse: Ginge es etwa darum, die Kinder bange zu halten, sie vor jeder Eigenständigkeit abzuhalten, ihnen die Furcht vor jedem Wagnis einzupflanzen? Sie jedenfalls hätte lieber etwas Promethisches gehört.

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