Die Lehre aus der EU-Wahl

… die gibt es nicht. Nur im Plural. Sie zu ziehen, soll hier nicht versucht werden – die Gazetten sind voll und manche Analyse durchaus treffend. Ich möchte hier nur auf ein paar einzelne Aspekte aus ganz persönlichem Interesse eingehen.

Wenn ich sage, es gibt nicht die, sondern viele Lehren, dann kann man daraus vielleicht doch eine Lehre ziehen: Vielfalt. Zu diesem Wort kann man das Synonym „Buntheit“ bilden – das tun unsere politischen Gegner ad nauseam – oder das Wort „Zersplitterung“. Das trifft es wohl eher.

Der große europäische Einigungsprozeß, wie er uns seit eh und je verkauft wird, führt mehr und mehr zur Uneinigkeit. Das neue Parlament wird ganz neue Koalitionen finden müssen, Grüne und Liberale legten deutlich zu, die beiden Mitte-Blöcke verloren an Substanz und der Zuwachs der Rechten fiel zusammengenommen so bescheiden aus, daß man zumindest eines sicher voraussagen kann: auch dieses Parlament wird sich an den „populistischen“ Positionen abarbeiten und diese damit stärken, sofern sich die Populisten nicht selbst entmannen.

Daß die Wahlen jeweils stark national geprägt waren, daß die Wähler oft weniger europäisch denn national dachten, ist offensichtlich. So kommen scheinbar absurde Nähedifferenzen zustande. Während die deutsche SPD weiter um ihre Existenzberechtigung ringen muß, haben die holländischen Nachbarn die Sozialdemokratie gestärkt; während im Dänemark die „Dansk Folkeparti“ dramatisch einknickte, gingen im Greta-Wunderland ausgerechnet die Grünen in die Knie; während in Frankreich zum x-ten Male Le Pen wie Phönix aus der Asche aufstand, vertraut man in Spanien der sozialdemokratischen Regierungspartei; während in Spanien 65% der Wahlbeteiligten zur Wahl gingen, waren es in Portugal nur 30%, in Belgien gingen 90%, in Holland 40% … Kulturnahe Völker und Nationen sehen sich also vor unterschiedliche Probleme gestellt. Die EU ist de facto ein Europa der Nationen, zumindest wenn man auf die Wähler hört.

Das deutet auch auf einen Paradigmenwechsel hin. In den osteuropäischen Ländern kann man mit dem Thema Migration – massiv unterstützt von den eigenen Massenmedien – noch immer punkten und daran wird sich vorerst nichts ändern. Die deutlichen Gewinne in Italien und Frankreich mit diesem Konzept stehen auf wackligeren Füßen. Italien ist traditionell eine Demokratie, deren erstaunlicher Bestand im Unbeständigen besteht. Salvinis Wahlerfolge sind für dieses Land ganz außergewöhnlich. Wenn es ihm aber nicht gelingt, das Land langfristig ökonomisch zu stabilisieren, dann könnte es bald einen großen Fall geben. Momentan verleiht er dem Land einen neuen Stolz und erntet die Früchte des Zorns, aber auch er hängt ähnlich am Tropf der Wirtschaftszahlen wie die CDU in Deutschland.

Sollte Le Pen ihren jetzigen Gewinn in innenpolitischen Einfluß ummünzen können, dann wird sie – wie alle ihre Vorgänger – unter der französischen Mentalität leiden, die durch Ungeduld geprägt ist. Wie hat man nicht Macron zugejubelt, als Heilsbringer betrachtet, aber es genügen zwei Jahre, ihn zu entzaubern. Keine demokratische Politik kann aber in zwei Jahren ein Land umkrempeln. Das würde auch Le Pen nicht schaffen.

Dieser Zugewinn der einwanderungskritischen Kräfte, der temporär ist und der – je nach Entwicklung der Einwanderungszahlen – langsam verschwinden oder auch rapide zunehmen kann, wird durch das Wachsen der grünen Bewegung gekontert. Sie ist gekommen, um zu bleiben. Noch hat sie nicht alle Länder erfaßt, aber die Ökologie wird das Thema des kommenden Jahrhunderts werden. Wer das nicht versteht, wird untergehen oder er muß zynischerweise auf dramatische soziale Ereignisse hoffen.

Das ändert nichts daran, daß die Migrationsfrage unser Denken bestimmen muß, denn in ihr geht es um die politische Handlungsfähigkeit, aber es gilt, sie als taktisch zu behandeln, während die ökologische Frage sich mehr und mehr als strategische durchsetzen wird.

Parteien, die sich diesem Paradigmenwechsel widersetzen oder seinen realen Hintergrund – die vielfältige Zerstörung unserer lebensnotwendigen Umwelt – ignorieren oder gar leugnen, werden langfristig keine Perspektive haben. Dafür spricht ganz massiv auch die demographische Entwicklung. Unter den Erstwählern kamen die Grünen in Deutschland auf 33%, weit abgeschlagen dahinter die CDU an zweiter Position mit 13%.

Umgekehrt werden die Grünen, die man sich zumindest in Deutschland bald an der Macht denken kann, realisieren müssen, daß eine grüne Wende nur mit einem relativ kultur-und wertegeeinten Volk zu machen sein wird, vorausgesetzt man meint nicht die komplette Zerstörung der Infrastruktur, vorausgesetzt, man will keine arabischen Zustände – die freilich in der Tat den ökologischen Fußabdruck minimieren würden.

Der Riß, der nun seit einigen Jahren durch Deutschland geht, wurde noch besser sichtbar. Während die Grünen den Westen, die Städte und die Universitäten erobern und das Erbe der Volksparteien antreten, wird die AfD im Osten und auf dem Land noch immer stärker. Die Sachsen spielen dabei eine Sonderrolle. Warum das so ist, wird übrigens in der neuen „Sezession“, Heft 90, ausführlich und aus verschiedenen Perspektiven gedeutet.

die korrekte geschichtsphilosophische Konklusion gab es auf Twitter

Dennoch darf die Wahl für die AfD als enttäuschend angesehen werden. Sie hat deutschlandweit „gepeakt“. Will sie politikbestimmend werden, muß sie jetzt in Klausur gehen und darüber nachdenken, wie es weitergehen soll. Es genügt nicht, eine monothematische Partei zu sein, die zudem von beängstigenden Schreckensbildern abhängt. Freilich, sollten diese Bilder langer Menschenschlangen wieder Realität werden, wird sie wieder zulegen, nur läßt sich darauf keine nachhaltige Politik bauen. Sozialpolitisch wird sie sich vom Neoliberalismus unterscheiden, umweltpolitisch wird sie die Verweigerungshaltung aufgeben, stattdessen wirkliche Alternativen zur Klimapanik anbieten müssen. Dabei steht ihr ein reicher Fundus an konservativem ökologischem Denken zu Verfügung – solange „rechte“ Parteien nicht begreifen, daß Konservatismus und Ökologismus eineiige Zwillinge sind, und diese organische Mesalliance ablehnen, nur weil grüner Progressismus das Thema gekapert hat und man daher aus Prinzip dagegen zu sein habe, solange wird man sich strategisch nicht durchsetzen können, zumal die Wahldemographie zeigt, daß diesen Parteien die Wähler sukzessive wegsterben werden.

Viel Hoffnung sollte man sich freilich nicht machen – zu sehr sind Partei und Bewegung im Leugnungsmodus, zu sehr frönt man schon verschwörungstheoretischen Modellen, zu sehr bewegt man sich in der eigenen Blase.

Nun diskutiert man auch, ob es einen nennenswerten „Rezo-Effekt“ oder einen „Strache-Effekt“ gegeben habe. Den „Greta-Effekt“ bestreitet schon niemand mehr. Daß es diese Diskussion überhaupt gibt, verweist auf ein weiteres stark demokratiegefährdendes Problem. Es ist längst bemerkt worden, daß der Machttransfer zu außerparlamentarischen und nichtlegitimierten Institutionen wie NGOs, Think Tanks, Experten, Wohltätigkeitsunternehmen, Aktivisten etc. das demokratische Gefüge aushöhlt. Vielleicht werden die „Influencer“ die größte Gefahr sein. Unabhängig von Intellekt und Durchdringungstiefe können sie die Meinung von Millionen Menschen manipulieren und werden zudem – sofern die Meinung im erwünschten Bereich liegt – von den Medien massiv verstärkt. Auch Kriminelle haben über die neuen Medien immer mehr Zugriff auf demokratische Prozesse. Wie viel eine angeschlagene Demokratie davon vertragen kann, wird sich zeigen.

Zum Schluß ein Blick nach Großbritannien. Dort wurde das vielleicht aufsehenerregendste Ergebnis eingefahren, denn mit dem scheinbaren Untergang der Tories geht eine 250-jährige Geschichte zu Ende. Es bleiben der Partei zwei Wochen, die richtige Personalentscheidung zu treffen – die es vielleicht schon nicht mehr gibt-, um sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen. Daß die Brexit-Abstimmung starke Verwerfungen zeitigen würde, das sollte jedermann bewußt gewesen sein, daß es das gesamte bewährte Parteiensystem zum Einsturz bringen, die beiden Hauptkontrahenten zum Selbstmord führen würde, das haben sicher nur die wenigsten vorausgesehen.

Einmal mehr zeigt sich: die Zeiten der Gewißheiten und Sicherheiten sind vorbei. Politische Kontinuität wird durch Kontingenz abgelöst. Wer nicht schnell liefert, fliegt, aber die Zunahme der Komplexität verunmöglicht schnelle Lösungen. Nur wer ein großes strategisches Problem beackert, kann sich den schnellen Wechseln widersetzen.

 Die Zukunft ist wieder offen.

8 Gedanken zu “Die Lehre aus der EU-Wahl

  1. Michael B. schreibt:

    > werden den Höhepunkt mit 11 oder 12 Mrd in acht Jahrzehnten erreichen.

    Da schlaegt erst einmal mein im fruehen Internet gepraegter Umgang zu: Quelle? Selbstverstaendlicher Konsens ist das naemlich sicherlich nicht.

    Was den Zuschlag meiner zwei genannten Aspekte zur Oekologie betrifft, scheint mir hier allerdings eher Wortschaum produziert zu werden – ich kann den obigen Zeilen um Sloterdijk herum keinen Inhalt entnehmen. Meine Einwaende zu Ursache und Wirkung werden ja dadurch ueberhaupt nicht beruehrt. Natuerlich stellen solche Menschenmengen dann auch ein oekologisches Problem dar. Aber wie gesagt, ich halte das fuer Wirkung und fuer den Umgang damit natuerlich Beschaeftigung mit den Ursachen fuer wesentlich. Sonst ware das blanker Nihilismus – gewissermassen „nun sind sie halt da“ in anderem Kontext.

    > Die meisten Araber leben hingegen in vergleichsweise ärmlichen Verhältnissen und auch wenn sie kaum Ahnung von Umweltschutz haben, ist ihr pro-Kopf-Umsatz vermutlich deutlich geringer als ein mitteleuropäischer.

    Dann gebe Gott, dass sie nicht in eine Umgebung geraten, in der sie ihr Unwissen und -wollen maximal ausleben duerfen… sie sind ja nun schon buchstaeblich auf dem Weg dahin (und nicht nur die Araber).

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    • https://population.un.org/wpp/Graphs/DemographicProfiles/

      Dann bitte Frage noch mal präzisieren.

      Selbstverständlich sind viele Menschen ein Problem, ein umso größeres, je mehr sie pro Kopf verbrauchen.

      Umgekehrt gilt aber auch: Je mehr wir verbrauchen, umso attraktiver werden wir als Ziel. Es scheint mir daher eine von mehreren möglichen Antworten zu sein, den Umsatz unseres Systems deutlich zu senken – was übrigens nicht zwangsläufig zu vermindertem Lebensniveau führen muß.

      Andere Lösungen schlagen Mauern vor – temporär kann das sinnvoll sein – oder selbstorganisierter Rückgang der eigenen Bevölkerung, was mir naiv erscheint; erstens, weil es dazu eine Mauer braucht – schon zwei Voraussetzungen – und zweitens, weil es von einer strömungsfreien Welt ausgeht. Sollten die Europäer aber aussterben, dann werden die frei gewordenen Räume selbstverständlich besetzt werden – wie will man sie mit immer weniger Menschen verteidigen? Darüber könnte man reden, wenn diese beiden fundamentalen Probleme gelöst wären.

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      • Michael B. schreibt:

        Die Frage war ja praezise, die Antwort auch. Ohne dem im Einzelnen methodisch nachzugehen – ich habe mir einfach mal zwei der eher beruechtigten Afrikakandidaten herausgepickt:

        Niger: ~20 Mill. (2019) -> 190 Mill. (Mediumvariante fuer 2100)
        Nigeria: ~190 Mill. (2019) -> 800 Mill. (Mediumvariante fuer 2100)

        Der Zensus z.B. in Nigeria ist auch schon 7 Jahre her, es waere interessant die Prognosen einmal mit aktuell erhobenen Zahlen auf ihre Guete abzuklopfen.

        Wie auch immer, das ist schon einmal eine Dreiviertel Milliarde bei moderater Schaetzung fuer die zwei Kandidaten allein. Und auch wenn ich die Methodik noch nicht gesehen habe, wuerde ich relativ stark vermuten, dass nach einmal in Gang gesetzten Wanderungen die Vorhersage der Entwicklung in diesen Laendern ziemlich sportliche Herausforderunegn annimmt.
        Fragen wie die folgenden kommen zum Tragen: Ist Druck durch Abwanderung heraus, wird nachgefuellt oder nicht? Welche Rueckkopplungen entstehen ? Welche Machentwicklungen bekommen wir hier in Europa (durch die schiere Menge vielleicht nigerianische Stammesfuehrer [die Mafia ist ja schon da] mit was fuer Ansichten zur Macht? )

        Davon abgesehen, bin ich bei jeglichen Veroeffentlichungen zu diesem Thema mittlerweile auf der Hut – und mit Sicherheit, wenn sie von der UNO stammen, nicht nur durch das vorexerzierte Verhalten bei Dingen wie dem Migreationspakt.

        Zum rest vielleicht spaeter noch mehr.

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  2. lynx schreibt:

    Eine bemerkenswert gelassene und auch selbstkritische Betrachtung, die ich über weite Strecken teile, zumindest im analytischen Bereich. Und die Zukunft als wieder offen zu betrachen, ist ein erfreulicher programmatischer Ansatz. Um die Ökologie als Kernthema kommt niemand mehr herum, wir haben uns 250 lange Jahre zu sehr darum herum gedrückt. Ich meine allerdings nicht, dass eine „Arabisierung“ unserer Gesellschaft den ökologischen Fußabdruck verringern würde – wohl eher im Gegenteil. Ich glaube, dort kennt man, seit Erdöl gefördert wird, den Begriff gar nicht mehr. Aber das ist eine andere Geschichte. – Etwas verwundert mich die sehr kritische Einschätzung von Influencern und NGOs, ihre „demokratiegefährdende“ Rolle. Ist das eine Autoritarismusanwandlung wie bei AKK? Bedeutet das ein Sichabsetzen von der 1%-Bewegung? Ist das eine Zuwendung zu den „Volks-“ oder „Staatsparteien“? Es stimmt schon, wie erleben eine unglaubliche Dynamisierung politischer Prozesse, verbunden mit immer größerer Volatilität. Das macht es immer schwerer, vernünftige Grundlinien auszuarbeiten. Das riecht arg oft nach nur schneller Bedürfnisbefriedigung. Aber wenn wiederum diese Einflüsse von allen Seiten (und nicht mehr nur von lautstarken Minderheiten) kommen, neutralisieren sie sich auch wieder gegenseitig. Also sind wir doch irgendwie alle aufgerufen, uns einzubringen. Für das Miteinander. Dieses zu organisieren ist immer schwieriger als das Gegeneinander. Da kann dieses „bunte“ EU-Parlament jetzt mal mit gutem Vorbild voranschreiten.

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  3. Michael B. schreibt:

    Die Kraefteverteilungsanalyse finde ich gelungen, ich teile dahingehend den Grossteil der Ansicht. Den zentralen Punkt des Artikels einer Postulierung der Oekologie als priorisierte strategische Frage halte ich aber fuer ueberbewertet, wenn man nicht viele grosse Punkte – m.E. unzulaessig – darunter subsummiert (Zusammenhaenge sind sicherlich da, aber schon da folgen eher oekologische Probleme aus einigen dieser anderen Punkte als umgekehrt).
    Da waeren – ganz ad hoc – Bevoelkerungswachstum und entartetes Schuldgeldsystem. Die Verbindlichkeiten aus Letzterem liegen nun schon einige Zehnerpotenzen ueber ueberhaupt vorhandenen realen Werten und steigen exponentiell weiter. Solange der Zwang, diesen Unsinn bedienen zu muessen unverhandelbar bleibt und mit allen Mitteln durchgesetzt wird, ist darin auch nichts ohne Kollaps zu aendern. Bevoelkerungswachstum ist fuer sich schon jetzt DAS dominierende Problem, egal wie man seine Herkunft bewertet – der status quo (der aber der eines Beschleunigungswertes ist) ist schon hoffnungslos. Vielleicht auch nur in meinem Kopf, weil es in meiner Sichtweise schwerer zurueckzudrehen ist als oekonomische Verhaeltnisse. Aber vielleicht irre ich da, die koennen ja auch recht zaeh und nachwirkungsreich sein.

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    • Ich gestatte mir, auf beide Anmerkungen (@ Michael B., @ Lynx) in einem Post zu reagieren, weil es darin einen inneren Zusammenhang gibt. Er liegt im Wort „Atmosphäre“.

      @ Michael B.
      Natürlich haben Sie recht, auch auf andere gravierende Probleme hinzuweisen und die beiden Beispiele sind treffend. Zwei von zahlreichen Problemen, die (m.E.) bereits zu groß und zu komplex und zu unaufhaltsam geworden sind, um sie noch im Rahmen demokratischer Prozesse lösen zu können – was nicht heißt, daß andere Prozesse dazu in der Lage wären.

      Vielleicht muß man in der Frage des Bevölkerungswachstums auch umdenken, möglicherweise waren die Szenarien zu alarmistisch. Immerhin sind wir bereits bei fast 8 Mrd. und werden den Höhepunkt mit 11 oder 12 Mrd in acht Jahrzehnten erreichen. Die Wachstumsgeschwindigkeit nimmt bereits ab, bis auf Afrika und einige asiatische Gegenden ist die Trendwende bereits eingeleitet. Die Verhältnisse kehren sich um – die fehlenden drei sind im Verhältnis zu den vorhandenen acht nur noch ein kleiner Unterschied. Vor 80 Jahren waren es zwei Milliarden, also ein Zuwachs von sechs, in 80 Jahren wird nur noch die Hälfte davon dazukommen, obwohl wir uns vervierfacht haben.

      Insgesamt kann man die Bevölkerungsfrage durchaus der ökologischen zurechnen.

      Zwanzig Jahre, nachdem Sloterdijk den Begriff der „Atmopolitik“ geprägt hat, verstehen wir heute vielleicht seine wahre Bedeutung. Demnach wird sich Politik der Zukunft um atmosphärische Ressourcen streiten, in beiderlei Gestalt. Man kann dem anderen die Luft zum Atmen nehmen, es würde – siehe Feinstaubkontrollen etc. – verstärkt um Reinheit der Luft gehen (was sich im Gaskrieg schon angekündigt hatte), aber auch Atmosphäre als sinngebender Schwingungszustand.

      Mittlerweile leben wir in jener Blasen- und Schauwelt, die Sloterdijk prognostizierte. Einerseits der sich selbst enthaltende Raum als Blase, andererseits die vielfältige Abgrenzung zu den Lebens- und Infowelten der vielen anderen als Schaum. Es wird nur noch wenige gemeinsame Themen geben – und eines, wenn nicht das Thema, wird die Atmosphäre selbst sein. Denn die Erde ist selbst eine Blase, in der sich ein Klima entwickelt, das immer lebensfeindlicher wird.

      Für die Annahme, daß just der Mensch in seiner nie erreichten Zahl und nie erreichten Technik, seinem noch nie erreichten Verbrauch, also in seiner nie erreichten Akzeleration wesentlich dafür verantwortlich ist, gibt es sehr starke Gründe.

      Die werden auch nicht entkräftet, wenn man sich in rechten Kreisen zehn, zwölf Videos wie geheime Dokumente herumreicht, in denen einige Wissenschaftler mit den immergleichen, Zahlen, Tabellen und Diagrammen etwas anderes behaupten.

      Dieser Kampf wird der letzte Kampf sein und er wird weniger durch Argumente, denn durch Tatsachen – natürliche Prozesse – entschieden werden. Wer diese Prozesse und den Kampf noch entscheidend beeinflussen will, muß sich der Realität stellen – oder er wird von der Geschichte hinweggefegt.

      @ Lynx
      „Arabisierung“ meinte nicht das Leben der Scheiche in ihren Ölblasen. Wenn man das hochrechnen würde, käme man sicher auf eine fürchterliche Bilanz. Die meisten Araber leben hingegen in vergleichsweise ärmlichen Verhältnissen und auch wenn sie kaum Ahnung von Umweltschutz haben, ist ihr pro-Kopf-Umsatz vermutlich deutlich geringer als ein mitteleuropäischer. Das Problem ist also nicht Bevölkerungswachstum an sich, sondern die Anhebung des Mittels des Verbrauches – sogenannter Wohlstand – an unser Niveau. Wir brauchen nicht weniger Menschen, wir brauchen deutlich weniger Pro-Kopf-Verbrauch.

      Auf die Frage nach dem Umgang mit den „Influencern“ muß ich glücklicherweise keine Antwort finden, denn ich gehöre nicht zu den Beschränkten, die den Weg in die Politik suchen. Ich zeige nur die Gefahr auf, die durch sie für die demokratischen Prozesse – die bereits unter höchsten Streß stehen – ausgehen. Auch hier vermute ich eher, daß diese Probleme unter demokratischen Prämissen nicht mehr zu lösen sind. Man müßte tatsächlich an das Tabu „Meinungsfreiheit“ heran. Momentan betrachten wir es als Errungenschaft, daß jeder alles sagen kann – von mir aus! Nur sollte dieses „Alles“ irgendwie im Rahmen der Bedeutung seiner Botschaft bleiben. Daß ein Jüngling mit prekärem politischen Bildungsstand von jedem fünften Deutschen gesehen werden und diese durch einfache und falsche Botschaften manipulieren kann, ist ein Problem.

      Am Grunde dieses Problems liegt mal wieder die linke „Denk“-Hegemonie, die den Begriff der „Gerechtigkeit“ zum Fetisch macht. Aus dem Recht, jedem zuzugestehen, alles sagen zu können, sollte man nicht die falsch verstandene „Gerechtigkeit“ ableiten, daß das auch alle hören müßten.

      Mir schwebt hier als „Lösung“ eine gewisse Atmosphäre vor, die es dem Jungspund zwar nicht verbietet, seinen Senf abzusondern, die aber dafür sorgt, daß seine Wirksamkeit direkt proportional zum Wert seiner Aussagen sich verhält. Dann bekäme ein Vortrag Sloterdijks zur „nehmenden Hand und gebenden Seite“ (@ Michael B.) 12 Mio Klicks und breiteste mediale Aufmerksamkeit, während sich Rezo mit seinen tausend Kumpels davon unberührt gerne unterhalten kann.

      Wie das durchzusetzen wäre, keine Ahnung. Das stimmt eigentlich nicht – ich wüßte schon was, darf es aber nicht öffentlich aussprechen.

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      • lynx schreibt:

        Ich will Ihre Haltung zur Meinungsfreiheit gar nicht weiter abfragen oder das Thema vertiefen. Dennoch scheinen Sie mir damit doch in auffälligem Gegensatz zu allem zu stehen, was von den Rechten lautstark immer reklamiert wird, angefangen von Trump bis zu Pegida, von oben bis unten.
        Die von Rechten gerne gepflegte Vereinnahmung von Sloterdjik finde ich, mit Verlaub, amüsant, weiß ich doch aus erster Hand, dass er sich dagegen sehr wehren würde – könnte er das. Was aber gesagt ist, wird halt benutzt. Und wer sagt Ihnen, dass das „Jüngelchen“ nicht einmal ein Großer wird? Die Voraussetzungen sind da: Pfarrerssohn, 1,0 Abschluss in Musik und Informatik, sehr ausgeprägter Geschäftssinn und professionelle Herangehensweise, der nicht einmal das alte Schlachtschiff CDU gewachsen ist. Nur Mike Mohring ließ mich gestern abend aufhorchen. Mike: komm aus der Deckung, möchte man ihm zurufen.
        Übrigens meinte ich bei den Arabern nicht die Scheichs, sondern die ganz normale Bevölkerung. Der Ölreichtum tropft durch und bedenkenloser Konsum aller Art ist an der Tagesordnung, wenn auch, zugestanden, teilweise auf einem einfacheren Niveau, zumindest in Gaza. Eine Denkungsart, die jedenfalls auch importiert wird und uns noch beschäftigen wird.

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        • „Ich will Ihre Haltung zur Meinungsfreiheit gar nicht weiter abfragen oder das Thema vertiefen. Dennoch scheinen Sie mir damit doch in auffälligem Gegensatz zu allem zu stehen, was von den Rechten lautstark immer reklamiert wird, angefangen von Trump bis zu Pegida, von oben bis unten.“

          Tja, woran könnte das wohl liegen? Vielleicht an einer monolithischen Vorstellung, was Rechts zu sein hat? Ich für mein Teil bin kein Gesinnungsrechter, sondern Erkenntnis- und Vernunftrechter – so weit die Vernunft halt reicht – und wäre umgehend Vernunftlinker oder Vernunftgrüner, wenn von dort vernünftige Ansätze kämen.

          Sie können mich auch gerne zur Meinungsfreiheit befragen. Dort gilt, wie bei allem, sei es in der Kunst, der Identität, der Schule oder sonst was: Absolute Freiheit wird absoluter Zwang, ist von diesem nicht zu unterscheiden. Wenn alle alles können, kann keiner mehr etwas – zumindest nicht mehr unterscheiden. Und Sie wissen doch: Unterscheidung, Differenz, das ist mein Altar (den ich „Linken“, Deleuze, Derrida, Lyotard verdanke) . Dafür muß es qualitative Kriterien geben und dafür einen Begriff von Qualität. Die Grenzen der Meinungsfreiheit sollten weniger durch „Haß und Hetze“, sondern durch Dummheit und Lüge gezogen werden, wobei HH meist natürlich dumm sind.

          Ihr 1,0-Abiturienten-Bsp. bringt es perfekt auf einen Nenner: Wenn alle 1,0-Abiturienten sind, dann gibt es eben keine mehr. (Ich hatte übrigens 2,4 – Sport 1 und würde mich nicht wehren, wenn Sie nun, da Sie das wissen, den Konsum dieser Seite einstellten). Insofern können Sie sich gern Abiturienten-Videos anschauen. Ich dagegen „vereinnahme“ lieber Sloterdijk.

          Apropos: Sloterdijk ist politisch Sozialdemokrat, zumindest bis vor ein paar Jahren. Da er aber kein Gesinnungssozialdemokrat ist, bewahrt er sich einen selten offenen Blick auf die Welt und sieht damit Dinge – gepaart mit uniker Intelligenz und ausgeprägtem Sprachverständnis -, die andere nicht sehen können. Diese Dinge stehen dann in der Tat sehr oft „rechts“. Das ist der Lauf der Welt. Linke tendieren dann schnell dazu, den Boten für die Botschaft zu steinigen.

          Lynx: Nur noch ein sachlicher Einwand: nicht 1,0 Abi, sondern Master-Studium, gehört ein klein wenig mehr dazu.

          Seidwalk: Sorry, muß ich diesmal mir ankreiden. Damit hat er sich sein Millionenpublikum heutzutage natürlich verdient!

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