Nachwirkende Vorverurteilung

Was immer der Attentäter von Christchurch bezweckt haben mochte, das meiste dürfte gescheitert sein. Vor allem: vom unvorstellbaren und sinnlosen Leid abgesehen, das er unschuldigen Menschen bereitete, hat er der Widerstandsbewegung, deren Teil und Protagonist zu sein er vorgab, schweren Schaden zugefügt.

Ich selbst weigere mich, sein Pamphlet zu lesen, da ich meine Lektüren an qualitativen Maßstäben ausrichten möchte und von Leuten wie Breivik oder Tarrant keinerlei zündenden Gedanken erwarte, der wert wäre, bedacht zu werden.

Was man aber sehr wohl sensibel beobachten, wo man tatsächlich Alarm schlagen muß, daß sind einige absurde Folgeerscheinungen, die direkt in unser aller Leben eingreifen. Zwei wenig beachtete Ereignisse der letzten Tage stehen sinnbildlich dafür.

Da wird zum einen dem derzeitigen Superstar des Intellektualismus – Jordan Peterson – ein Strick gedreht, weil er sich mit einer Person hat ablichten lassen, die ein Shirt mit der Aufschrift „I’m a Proud Islamaphobe“ (sic!) trägt und da wurde zweitens bei Martin Sellner in Österreich eine Hausdurchsuchung nebst Konfiszierung aller elektronischen Geräte und Bankkarten durchgeführt, weil eine Person namens Tarrant ihm gespendet hatte.

So unterschiedlich beide Fälle sind, sie vereint eine Tatsache: die zweifelhaften Ereignisse spielten sich lange vor dem Attentat ab, als Tarrant noch ein no name und noch kein Täter war.

Ganz klar liegt der Fall bei Peterson, den man mittlerweile für den einflußreichsten Intellektuellen der Jetztzeit hält. Soweit ich das beurteilen kann – zugegeben nur aus den Augenwinkeln – verdient er sich diese Fama vor allem durch Selbstverständlichkeiten. Er sagt, was er denkt, er denkt, bevor er etwas sagt, er ringt um die Argumente, er korrigiert und verbessert sich selbst, er zeigt anderen ihre Argumentationsfehler auf, kurz, er verkörpert jenen längst verloren geglaubten Typus, den die Gründungsurkunden der europäischen Philosophie eigentlich in unsere kulturelle DNA eingeschrieben hatten, den „Typ Sokrates“. Inwieweit dabei etwas Originelles zutage tritt, mag ich nicht beurteilen – mir ist bisher wenig originär Philosophisches begegnet, der ganze Habitus aber ist in heutigen Zeiten heldenhaft.

Weil er das linke Establishment immer wieder entkleidet, rechnet man ihn den „Rechten“ zu. Da er aber liquide agiert, konnte man ihn bisher schwer festnageln. Das hat Tarrant nun – über diverse, nicht intendierte Windungen – geschafft, die nachzuvollziehen wahrlich eine sinistre Intention bedarf.

Demnach hatte sich Peterson nach einem Vortrag in Neuseeland mit jener Person ablichten lassen, die er mutmaßlich nicht kannte – allerdings einen Monat vor der Tat! Trotzdem entblödet sich die Presse nicht, zwischen diesen beiden Ereignissen direkt oder durch die Blume Verbindungen herzustellen. Das wiederum führte – und hier wird es gefährlich – dazu, daß eine neuseeländische Buchkette Petersons Weltbestseller aus dem Programm nahm oder daß die Cambridge University eine bereits vereinbarte fellowship für den Herbst beendete.

Muß Peterson sich jedes Shirt anschauen, bevor er sich – mutmaßlich privat – zu einem Selfie überreden läßt? Da es eine ganze Serie an Bildern vor dieser Wand gibt, darf man davon ausgehen, daß die Leute dort Schlange standen und einer nach dem anderen sein Groupie-Bild bekam.

Muß nun jeder beliebige Passant, der sich mit einem Promi ablichten lassen will, zuvor examiniert und auf die korrekte politische Einstellung überprüft werden?

Kann es sein, daß Peterson die Aufschrift gar nicht gelesen hat? Kann es sein, daß er sie als harmlos einschätzte? Ist es nicht denkbar, daß das T-Shirt ein ironisches Spiel mit der Politischen Korrektheit treibt? Darauf deuten doch die Schreibfehler hin. Kann es sogar sein, daß „Islamophobie“ – also doch nur die Angst vor dem Islam – ein ganz legitimes und gut begründbares Empfinden ist, das im Übrigen Millionen Menschen teilen?

Mehr noch: sollte man, wenn Menschen vor etwas Angst haben, nicht die Angst, sondern den Angsterzeuger beseitigen? Menschen haben Angst vor Krieg, vor Atomenergie, vor Umweltverschmutzung – will man sie dafür bestrafen? Sollte der Islam nicht ein genuines Interesse daran haben, seine angsteinflößenden Bestandteile zu bereinigen? …

„Islam“ ist und bleibt ein reines Abstraktum. Sollte den Mörder von Christchurch tatsächlich „Islamophobie“ angetrieben haben, dann sind mindestens zwei Dinge zu unterscheiden. Den unzulässigen Schritt von der Bekämpfung einer Ideologie oder eines Glaubens – der prinzipiell gerechtfertigt ist: man nennt das Politik! – zur unmittelbaren Vernichtung von Menschen, ist allein der Täter gegangen und hat damit seine geistige Begrenztheit genügend zur Schau gestellt. Es läßt sich zum zweiten daraus nicht der Schluß ziehen, daß den Islam fürchtende Menschen potentielle Terroristen wären, es lassen sich also keine Linien zwischen einem Terroristen und einem T-Shirt-Träger ziehen.

Umso weniger zwischen einem Prominenten, der sich mit so einem T-Shirt-Träger ablichten läßt. Diese Linie ist vollkommen absurd und dient allein – das ist ihr tieferer Sinn – der Einschüchterung und Restriktion und letztlich der dramatischen Einschränkung der Rede- und Meinungsfreiheit. Ist sie einmal gezogen, stehen Möchtegerndiktatoren und Gesinnungsschnüfflern Tür und Tor offen – so kann ein Filialleiter entscheiden, was seine Kunden zu sehen bekommen, so kann eine ehrwürdige Fakultät in die Knie und zur Verbeugung vor der korrekten Meinung gezwungen werden.

Etwas anders liegt der Fall Sellner. Hier sind die Hintergründe noch nicht ganz einsichtig – ich verlasse mich daher auf Presseberichte und seine eigene Stellungnahme. Diese enthält einen brisanten Gedanken. Demnach könnte Tarrant die „substantiellere Spende“ ganz bewußt an Sellner gesendet haben, um diesen „hineinzuziehen“. Das würde auf eine gewisse logistische Intelligenz hindeuten. Wäre dem so, dann sollte man annehmen, daß Tarrant anderen neurechten Köpfen ebenfalls Spenden zugedacht hat. Spenden sind seit heute also potentielle Kampfmittel gegen den Empfänger, weil sie nachträglich diskreditieren können.

Tarrants vermutetes Ziel wäre es gewesen, Restriktionen gegen die Protagonisten zu erzwingen, um diese zu radikalisieren, in die Enge zu treiben und letztlich auf die Eskalationsschiene zu zwingen, indem er sie kompromittiert.

Daß dies zunehmend geschehen wird, liegt auf der Hand. Je enger die Grenzen des Sagbaren gezogen werden, desto mehr werden sich vor allem einfachere, politisch wenig gebildete Menschen, eingeengt fühlen und – je nach Temperament – Aktions-Nischen besetzen. Die können von innerer Immigration bis hin zum Terrorismus reichen. Zweifellos ist eine gewisse Panik in bestimmten Kreisen zu vermuten, die sich einerseits politisch komplett abgekanzelt fühlen, sich in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen oder falsch dargestellt sehen und/oder die die politischen Prozesse als lähmend langsam empfinden und nicht mehr sehen können, daß es Lösungen, die ihrer Anschauung gerecht werden, innerhalb des demokratischen Spektrums geben kann.

Unter diesen Menschen werden einige wenige in dieser oder jener Form aktiv werden und es werden mutmaßlich auch immer mehr. Treibt man sie noch weiter in die Ecke, werden sie in den Aktionismus gedrängt.

(Diesen sei noch einmal ins Stammbuch geschrieben: Terrorismus erreicht nur eines – er trainiert den Repressionsapparat. Ausgenommen davon ist nur ein einziger spezifischer Fall: der geglückte Tyrannenmord und auch dort nur unter seltenen historischen Prämissen und Zufällen.)

Nach allem, was ich über Sellner weiß, besteht bei ihm nicht der Hauch eines solchen Verdachtes. Dafür ist er viel zu intelligent und reflektiert, steht er zu sicher auf einer philosophischen Basis. Sollte Tarrant in der Tat mit seiner Überweisung eine Radikalisierung angestrebt haben, dann hätte er nur bewiesen, welch ein politischer Wirrkopf er ist.

Das Problem an dieser Geschichte – parallel zu Peterson – ist auch nicht die polizeiliche Untersuchung, die ganz legitim und notwendig ist. Man hätte sie vermutlich auch mit einem Gespräch erreichen können. Selbstredend werden auch die Finanztransaktionen des Täters untersucht, aber eine Androhung eines Verfahrens oder der U-Haft, der „Verdacht der Gründung einer terroristischen Vereinigung“, scheinen mir vollkommen überzogen – sie riechen nach Vorverurteilung, nach politischer Ranküne. Wenn alle Menschen, die jemals Kontakt mit einem zukünftig Kriminellen gehabt haben, nachträglich kriminalisiert werden, dann sind wir alle Kriminelle.

Problematisch sind – einmal mehrdie Presse und Teile der sozialen Medien und der Politik, die einen direkten Zusammenhang zwischen dem Täter und dem Theoretiker ziehen, auch wenn die Theorie von Anfang an zur Tat vollkommen konträr steht. Dafür kann man fast jede schriftliche und mündliche Äußerung Sellners heranziehen.

Es sollte uns alle – alle, denen die freie Rede, das freie Denken, die freie Kunst am Herzen liegt – schwer beunruhigen, wenn konkrete historische Geschehnisse im Nachhinein in eine Kausalkette mit zukünftigen und unabsehbaren Ereignissen verknüpft werden – das ist der Eintritt in die komplette politische Spastik. Die Konsequenz wäre die Aufgabe jeglicher Eigenverantwortung. Beunruhigen sollte uns alle, daß daraus retrospektiv Tribunale gezimmert werden, mit dem Ziel, relevante Stimmen zum Verstummen zu bringen, einzuschüchtern, die innere Schere zu implantieren.

Gefährlich ist diese gegen jede Logik verstoßende Methode übrigens auch für jene, die sie heute triumphal anwenden, denn Zukunft ist offen und niemand weiß, ob die Vorzeichen sich nicht bald ändern werden.

Aber auch dann muß jeder freie Geist diese intellektuelle Zumutung mit jeder Faser seiner Existenz ablehnen und bekämpfen!

4 Gedanken zu “Nachwirkende Vorverurteilung

  1. Tommy schreibt:

    „es dürfte gescheitert sein.“

    Finde ich nicht, als „Akzelerationist“ war seine Absicht doch gerade, die Lage weiter zu verschärfen, die Polarisierung zu vertiefen und so die Grundlagen zu schaffen, dass andere sich ebenfalls massiv radikalisieren und ihm nacheifern. Sie beschreiben ja teils selbst, dass genau dieses Kalkül aufgehen dürfte. Und die Reaktion in Neuseeland ist auch von einer dermaßen irritierenden Form, mit all dieser Kopftuch-Verherrlichung und der rechtlichen Repression (u.a. soll wohl allein schon der bloße Besitz von Tarrants Manifest strafbar sein), dass das sehr viele Menschen einfach nur abstoßen dürfte, gerade auch vor dem Hintergrund der stets beschwichtigenden Reaktionen auf islamisch motivierte Massenmorde. Auch westliche Medien und Politiker mit ihren Repressionsgelüsten gegen alle Rechten sowie Erdogan mit seinen anti-australischen Ausfällen beim Gallipoli-Gedenken spielen genau die erwartete Rolle.
    Natürlich war Tarrants Tat extrem nihilistisch, aber was die voraussehbaren Folgen seiner Tat angeht, dürfte er recht realistische Annahmen haben. Die Lage wird sich sicher weiter verschärfen, es wird noch viele solcher Taten geben (natürlich ebenso auch islamisch motivierte Gewalt, oder open borders-Terror wie bei der Busentführung in Italien).

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    • Sie haben recht! Das war zu idiomatisch ausgedrückt – ist nun relativiert.

      Strategisch könnte sein Kalkül tatsächlich aufgehen, wenn auch vollkommen unberechenbar, taktisch hat er sich verrechnet, zumindest im vorliegenden Fall.

      Das von mir beschriebene Kalkül geht allerdings weniger durch ihn als durch seine indirekten „Handlanger“ auf – Presse, Politik, Exekutive -, die die Verzweifelten in die Enge treiben. Aber auch diesen Zusammenhang hat Sellner beschrieben.

      Sollten sich übrigens mehrere derartige vergiftete Spenden finden lassen, dann wird es bald verstärkt „false-flag“-Diskussionen geben.

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    • Pérégrinateur schreibt:

      Das sehen Sie wohl richtig. Im Grunde ein ähnliches Vorgehen als einst das der Baader-Meinhöfler, die der BRD eine faschistische Natur unterstellten, ihr deshalb die „Maske vom Gesicht reißen“ wollten und ihr so – im Verein mit einer hysterisierungsbereiten Politik, zwischen deren Protagonisten der Wettkampf um das demonstrativste Durchgreif-Gesetz ausbrach – zu jenen Sondergesetzen verlockten, aufgrund derer sich dann die folgenden „Generationen“ rekrutierten. Diese stellten sich dann weniger dilettantisch an als der präpotente Münchner Autodieb und die für ihn schwärmende schwäbische Pfarrerstochter.

      Selbes Vorgehen, selber Ablauf. Es gibt immer und auf jeder Seite genügend aus dem Gleichgewicht geratene und maßlose Menschen, die sich in einer solchen Situation weiter selbst radikalisieren. Bei einer Jugendbekannten wäre es auch fast so gekommen, sie war in Unterstützergruppen für Gefangene geraten. Als ich sie in der Zeit zufällig einmal traf, kam so ungefähr in jedem Satz von ihr einmal die Vokabel Schwein vor: Schweinesystem, Schweinebullen, Schweinejustiz usw., es war fürchterlich. Zum Glück fand sie dann bald die nächsten ihrer vielen fanatischen Narreteien, Steinheilen und dann rein biologische Ernährung oder auch anders herum, ich weiß nicht mehr genau. Man muss geradezu froh sein, wenn die ideologischen Wirrköpfe ein Steckenpferd finden, das nicht wild mit den Hufen ausschlägt.

      Die Merkelsche Migrationspolitik ist schon deshalb ein Verbrechen an unserer Gesellschaft, weil sie sie auf eine Weise zerreißt, dass solche Radikalisierungswege eröffnet werden.

      Umgekehrt muss man sich über die universelle Unterstellungs- und Denigrationsbereitschaft der Rechtgläubigen auch nicht wundern, der Antreiber darunter wie der Angetriebenen. Beide können anderen oder sich selbst ihre doch im Grunde völlig offensichtliche Dummheit ― 30 bis 50 Milliarden im Jahr bei einem Etat von etwas über 300 Milliarden, während man vor nicht allzu langer Zeit ein Jahr lang um eine Hartz-4-Erhöhung von 5 Euro pro Monat gestritten hatte, weil diese doch falsche Anreize zur Plünderung des Sozialstaates setzen könnte; Kostenpunkt damals nur 300 Millionen p.a. ― in keiner Weise eingestehen, da diese doch „moralisch“ befeuert war. Was bleibt aber dann anderes übrig, als andere, die sehen und denken und ihre Schlussfolgerungen aussprechen, in jeder irgend tauglichen Weise herabzusetzen?

      Hängt alle auf, die zwei und zwei zusammenzählen können, es sind das alles entsetzlich berechnende Leute!

      Schlimmer als die Ausbrüche des Ätnas ist stest der Glutstrom der ach so warm gefühlten gemeinsamen Dummheit.

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